Infantizid (Zoologie)


Infantizid ist ein aus dem Englischen entlehnter Fachausdruck (infanticide) für das Töten von Nachkommen der eigenen Art. Während man ihn im Englischen ganz allgemein mit Bezug auf Tiere und Menschen benutzt, wird er im Deutschen eher in Bezug auf Tiere verwendet und ist insofern abgrenzbar gegenüber dem ausschließlich auf Menschen bezogenen Begriff Kindstötung. Der Infantizid im Tierreich schließt den Kannibalismus, also das Auffressen der getöteten Individuen, nicht notwendig mit ein. Werden die Nachkommen gefressen, so spricht man von Kronismus, nach dem griechischen Gott Kronos, der seine Kinder auffraß.[1]

Beispiele für Infantizid

Infantizid tritt bei fast allen wehrhaften Arten auf, also nicht nur bei Raubtieren wie den Löwen und den Braunbären, sondern auch bei vielen Vögeln, vermutlich bei allen Nagetieren und bei Primaten, dort wohl mit Ausnahme der Bonobos. Aufgrund verhaltensbiologischer Beobachtungen wird er beispielsweise Ratten, Mäusen und Erdmännchen ebenso zugeschrieben wie Mantelpavianen, Hulmanen, Schimpansen, Berggorillas und selbst Delfinen. Verlässliche Berichte gibt es ferner von Wasseramseln und Staren.

Infantizid im Tierreich muss daher als ein natürliches Verhalten angesehen werden.

Schimpansen

Infantizid bei Schimpansen wurde erstmals 1976 von Jane Goodall beobachtet.[2] In ihrem Beobachtungsgebiet in Gombe hatte das Weibchen Passion gemeinsam mit seiner Tochter Pom innerhalb von zwei Jahren drei junge Schimpansen getötet und teilweise gefressen. Jane Goodall hatte damals nicht nachvollziehen können, ob dieses Verhalten als krankhaft einzuordnen sei oder ob es langfristig evolutionär vorteilhaft sei; nur Langzeitbeobachtungen könnten hier einen Anhaltspunkt geben.[3] In den 1990er-Jahren wurden, gleichfalls im Gombe-Gebiet, erneut Hinweise auf Infantizid bei Schimpansen gefunden, allerdings zumeist durch Männchen fremder Gruppen.[4] 2007 berichtete dann eine Forschergruppe auch aus dem ugandischen Budongo-Wald über drei vergleichbare Tötungen. Nachgewiesen werden konnte diesmal allerdings zweifelsfrei, dass es Jungtiere von Weibchen waren, die kurz zuvor ins Revier der Angreiferinnen eingewandert waren.[5] In der Fachzeitschrift New Scientist wurden mehrere Forscher zitiert, denen zufolge die Tötung der fremden Jungtiere im Budongo-Wald als angepasstes Verhalten gedeutet werden könne, da es angesichts knapper Nahrungsressourcen die Überlebenschancen des eigenen Nachwuchses erhöhe.[6]

Löwen

Aus Freilandbeobachtungen bei Löwen weiß man, dass ein neuer Rudelführer, der seinen Vorgänger verdrängt hat, häufig alle Jungtiere (also den Nachwuchs seines Vorgängers) tötet. Zugleich kann es dann aufgrund der Auseinandersetzungen im Rudel zu – mutmaßlich auf sozialen Stress zurückgehenden – Fehlgeburten kommen. Im Ergebnis kann sich der neue Rudelführer relativ rasch mit den Löwinnen seines neuen Rudels paaren und eigene Nachkommen zeugen.

Ratten

Bei Laborratten zeigte eine kanadische Studie auf, dass nahezu doppelt so viele Jungtiere zu Tode kamen, wenn deren Käfige zweimal pro Woche gereinigt wurden als wenn sie nur alle zwei Wochen gereinigt wurden.[7] Ursache sei vermutlich u.a. die wiederholte Zerstörung der Nester beim Reinigen. Die beiden Autorinnen der Studie wiesen ebenfalls ergänzend darauf hin, dass Jungtiere gelegentlich auch dann von ihren Müttern getötet werden, wenn keine vergleichbaren Stressoren nachweisbar sind.

Aquarienfische

Unter den Aquarienfischen (vor allem unter den lebendgebärenden Arten wie Platy, Guppy oder Schwertträger) ist Infantizid durchaus üblich, so dass die Züchter die gebärenden Weibchen in ein separates Aquarium versetzen müssen. Nach der Geburt muss das Weibchen von seinen Neugeborenen sofort getrennt werden.

Vögel

Bei dem zu den Afrikanischen Bartvögeln gehörenden Hauben-Bartvogel hat man bislang Infantizid in zwei Fällen beobachtet. Starb während der Fortpflanzungszeit einer der beiden Partner, verpaarte sich der überlebende Hauben-Bartvogel sehr schnell. Der neue Partner zerstörte entweder die Eier oder tötete die Nestlinge und begann dann mit einer eigenen Brut.[8]

Zum Entstehen des Verhaltens in der Stammesgeschichte

Von Soziobiologen werden die Folgen eines Rangordnungskampfes bei Löwen dahingehend gedeutet, dass sie es dem erfolgreichen Löwen ermöglichen, eine maximale Zahl eigener Nachkommen zu zeugen. Ferner gilt diese Form des Infantizids als Beleg dafür, dass nicht die „Arterhaltung“ als Ergebnis von Evolutionsprozessen anzusehen ist, sondern die Erhaltung und Weitergabe der Erbanlagen von bestimmten, durchsetzungsfähigen Individuen.

Diese Deutung berücksichtigt allerdings nur die ultimaten Ursachen von Verhalten (die aus der Stammesgeschichte ableitbaren Ursachen), nicht aber die bislang kaum erforschten, unmittelbaren äußeren Auslöser und inneren physiologischen Ursachen.

Die Fachzeitschrift The American Naturalist publizierte 2007 die Ergebnisse eines Computermodells, anhand dessen analysiert worden war, unter welchen Umweltbedingungen sich Infantizid und Jungenfürsorge entwickeln können.[9] Die Forscher modellierten zunächst eine eierlegende Art, deren Junge nach dem Schlüpfen heranwuchsen, ohne dass sie von Erwachsenen versorgt oder getötet wurden. Später führten sie „Mutanten“ in die virtuelle Population ein, die entweder von den Eltern betreut oder getötet wurden oder die beiden Einflussgrößen ausgesetzt waren. Das Ergebnis der Modellrechnungen ergab, dass sich bei Futterknappheit entweder das eine oder das andere Verhalten in der Population ausbreitete. Wenn Futter jedoch im Überfluss vorhanden war, breiteten sich zugleich beide Verhaltensweisen aus. Den Forschern zufolge konnten unterschiedliche Ursachen nachgewiesen werden: So überlebte bei Nahrungsknappheit manchmal zumindest ein Teil der Nachkommen, wenn einzelne Eier oder Jungtiere aufgefressen wurden, während andernfalls sämtliche Nachkommen aufgrund unzureichender Versorgung gestorben wären. Bei anderen Simulationen erwies es sich letztlich als vorteilhaft für die Vermehrungsrate, wenn einzelne schwache oder kranke Jungtiere getötet wurden.

Diese Modellbildung stützt somit die soziobiologische Grundannahme, dass die größtmögliche Zahl eigener Nachkommen evolutionsbiologisch relevant ist, nicht aber das Überleben jedes einzelnen Nachkommen.

Ökologische und verhaltensbiologische Auslöser

Infantizid kann vielfältige, meist weitgehend unbekannte Auslöser haben. Erklärungsversuche sind häufig bloße Mutmaßungen.

Am häufigsten wird Infantizid als Folge von Rangordnungskämpfen, von Revierkämpfen, von Übervölkerung und Nahrungsknappheit beschrieben.

  • Junge führende oder säugende Weibchen sind häufig nicht paarungsbereit; ein im Rangordnungs- oder Revierkampf siegreiches Männchen erhöht seinen Fortpflanzungserfolg, wenn es die Nachkommen des besiegten Rivalen ausschaltet.
  • Übervölkerung kann zu häufigeren aggressiven Auseinandersetzungen mit Artgenossen führen, was zu einer generellen Steigerung der Angriffsbereitschaft führen kann. Jungtiere können sich gegen Attacken weniger gut wehren und sind somit eher Opfer als ausgewachsene Individuen. Der Infantizid kann auch unbeabsichtigtes Nebenresultat von Rivalenkämpfen oder erneuter Paarung sein (z. B. erdrückte Jungtiere bei Seeelefanten).
  • Besonders von Laien wird Infantizid bei Haustieren gelegentlich mit einer Entwicklungsstörung der Jungen oder mit einer unerkannten Krankheit begründet. Verhaltensstudien an Hausmäusen und Ratten konnten jedoch nur ausnahmsweise einen solchen Zusammenhang feststellen. Gerade bei Nagetieren kommt es immer wieder vor, dass wohlgenährte und mobile Nestlinge getötet werden, während deutlich schwächere Individuen überleben.
  • Verknappung von Nahrung oder anderen Ressourcen kann zur Tötung eines Teils oder der gesamten Nachkommenschaft führen. Auch wenn der Zusammenhang naheliegend ist, sind die genauen ursächlichen Zusammenhänge in der Regel unklar, da Tieren im Allgemeinen kein längerfristig vorausschauendes Handeln unterstellt werden kann.
  • Häufig angeführt wird ferner immer wieder und ganz allgemein „sozialer Stress“ als Auslöser für Infantizid. Dieser Auslösemechanismus ist jedoch schwer zu beweisen, da vom Beobachter nicht immer spezifische, äußere Reize (so genannte Stressoren) benannt werden können. Nachzuweisen ist allerdings beispielsweise die Tötung von Jungtieren oder deren Preisgabe (auch die Aufgabe des Nests oder jeder weiteren Fütterung bedeutet deren sicheren Tod) bei einigen Wildtierarten durch die Mütter nach wiederholter Störung.

Quellen

  1. Eintrag Kronismus im Lexikon der Biologie
  2. Jane Goodall: Beyond Innocence: An Autobiography in Letters. 2001, Boston, Houghton Mifflin
  3. Jane Goodall: Infant killing and cannibalism in free-living chimpanzees. In: Folia Primatologica, Band 28, 1977, S. 259–282
  4. Marcus Anhäuser: Kindsmorde im Reich der Affen. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 111 vom 15. Mai 2007, S. 20; vergl. auch www.sueddeutsche.de und www.welt.de: Grausamer Kindermord im Urwald
  5. S. W. Townsend, K. E. Slocombe, M. E. Emery Thompson, K. Zuberbühler: Female-led infanticide in wild chimpanzees. In: Current Biology, Band 17, 2007, S. R355–R356.
  6. New Scientist, Band 194, Nr. 2604, vom 19. Mai 2007, S. 19; vergl. auch Chimpanzee Violence: Femmes Fatales (pdf)
  7. Charlotte C. Burna, Georgia J. Mason: Effects of cage-cleaning frequency on laboratory rat reproduction, cannibalism, and welfare. In: Applied Animal Behaviour Science, Band 114, Nr. 1, 2008, S. 235–247, doi:10.1016/j.applanim.2008.02.005
  8. Lester L. Short und Jennifer F. M. Horne: Toucans, Barbets and Honeyguides - Ramphastidae, Capitonidae and Indicatoridae. Oxford University Press, Oxford 2001, ISBN 0-19-854666-1, S. 121
  9. Hope Klug, Michael B. Bonsall: When to Care for, Abandon, or Eat Your Offspring: The Evolution of Parental Care and Filial Cannibalism. In: The American Naturalist, Band 170, 2007, S. 886–901

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