Essstörung


Klassifikation nach ICD-10
F50.4 Essattacken bei anderen psychischen Störungen
F50.8 Sonstige Essstörungen
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Mit Essstörung bezeichnet man eine Verhaltensstörung mit meist ernsthaften und langfristigen Gesundheitsschäden. Zentral ist die ständige gedankliche und emotionale Beschäftigung mit dem Thema „Essen“. Sie betrifft die Nahrungsaufnahme oder deren Verweigerung und hängt mit psychosozialen Störungen und mit der Einstellung zum eigenen Körper zusammen (Psychosomatik).

Wirkmechanismen

Medizinisch handelt es sich meist um eine Störung der Energiebilanz:

  • zu hohe Energiezufuhr bei zu geringem Energieverbrauch, z. B. durch mangelnde Bewegung, führt zu Übergewicht durch dauerhafte Plusbilanz
  • zu geringe Energiezufuhr bei relativ zu hohem Energieverbrauch führt zu Mangelernährung durch dauerhafte Minusbilanz
  • falsche Ernährung führt zu Vitaminmangel, Mineralmangel und zu einer Störung des Elektrolythaushalts im Körper

Physiologische Regelmechanismen können den Energieumsatz des Körpers über einen gewissen Zeitraum und in begrenzten Ausmaßen an das Energieangebot anpassen. Im Falle des Energiemangels werden Stoffwechselregulationen eingesetzt, um z. B. vorhandene Energievorräte effizienter auszunutzen und Energie einzusparen.

Hauptformen

Die bekanntesten, häufigsten und anerkannten Essstörungen sind die unspezifische Ess-Sucht, die Magersucht (Anorexia nervosa), die Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa) und die Fressattacken (englisch „Binge Eating“). Die einzelnen Störungen sind nicht klar voneinander abgrenzbar. Oft wechseln die Betroffenen von einer Form zur anderen und die Merkmale gehen ineinander über und vermischen sich. Zentral ist immer, dass die Betroffenen sich zwanghaft mit dem Thema Essen beschäftigen. Bei allen chronisch gewordenen Essstörungen sind lebensgefährliche körperliche Schäden möglich (Unterernährung, Mangelernährung, Fettleibigkeit). Frauen sind verstärkt betroffen. Bei ihnen treten auch Störungen im Menstruationszyklus auf, bis zum totalen Aussetzen der Menstruation (Amenorrhoe).

Die Übergänge zwischen „normal“ und „krankhaft“ sind von vielen Faktoren abhängig. Ein Mensch, der aus religiösen oder ideologischen Gründen besondere Ernährungsformen pflegt, ist nicht unbedingt essgestört. Manche Ess-Süchtige sind körperlich und in ihrem Verhalten völlig unauffällig – die Sucht spielt sich bei ihnen ausschließlich im Kopf ab.

Esssucht

Esssüchtige essen zwanghaft und denken dauernd an „Essen“ und an die Folgen für ihren Körper. Sie essen entweder zu viel oder sie kontrollieren ihr Gewicht mit komplizierten Systemen von Essen, Diäten, Fasten und Bewegung.

Esssucht führt häufig zu Übergewicht oder Fettleibigkeit (Adipositas), mit den zugehörigen gesundheitlichen und sozialen Problemen. Übergewichtige fühlen sich oft als Versager und Außenseiter. Fehlernährung kann zu zusätzlichen Problemen führen.

Magersucht

Magersucht (Anorexia nervosa) ist durch einen absichtlich und selbst herbeigeführten Gewichtsverlust gekennzeichnet. Durch Hungern und Kalorienzählen wird versucht, dem Körper möglichst wenig Nahrung zuzuführen, durch körperliche Aktivitäten soll der Energieverbrauch gesteigert werden. Die betroffene Person sieht dabei den eigenen körperlichen Zustand häufig nicht, sie empfindet sich als zu dick, auch noch mit extremem Untergewicht (Körperschemastörung).

Folgen der Magersucht sind Unterernährung, Muskelschwund und Mangelernährung. Langzeitfolgen sind beispielsweise Osteoporose und Unfruchtbarkeit. 5 bis 15 % der Betroffenen sterben meist nicht durch Verhungern, sondern durch Infektionen des geschwächten Körpers oder durch Selbstmord.

Ess-Brech-Sucht

Bei der Ess-Brech-Sucht (Bulimie, Bulimia nervosa) sind die Betroffenen meist normalgewichtig, haben aber große Angst vor der Gewichtszunahme, dem „Dickwerden“; man kann das als „Gewichtsphobie“ umschreiben. Sie ergreifen deshalb ungesunde Gegenmaßnahmen wie Erbrechen, exzessiven Sport, Abführmittelgebrauch, Fasten oder Einläufe. Dadurch kommt der Körper in einen Mangelzustand und es kommt zu so genannten Ess-Attacken, wobei große Mengen Nahrung auf einmal verzehrt werden. Neben diesen Heißhunger-bedingten Fressattacken kommt es noch zu stressbedingten. Das Überessen und Erbrechen wird häufig als „entspannend“ erlebt.

Die Ess-Brech-Sucht kann zu Störungen des Elektrolyt-Stoffwechsels, zu Entzündungen der Speiseröhre, zu Zahnschäden sowie zu Mangelerscheinungen führen. Da durch einen gestörten Elektrolythaushalt das Herz angegriffen werden kann, kann es zu Herzversagen und somit zum Tod kommen, insbesondere wenn die Ess-Brech-Sucht noch mit Untergewicht einhergeht.

Binge Eating

Essattacken treten im Zusammenhang mit suchtartigen Heißhungergefühlen auf, wobei der Suchtcharakter der Essstörung umstritten ist. Von Binge Eating wird gesprochen, wenn während mindestens sechs Monaten an zumindest zwei Tagen pro Woche ein Anfall von Heißhunger auftritt, bei dem in kürzester Zeit ungewöhnlich große Mengen an Nahrungsmitteln aufgenommen werden. Der Betroffene verliert die Kontrolle über die Nahrungsaufnahme.

Außerdem müssen mindestens drei der folgenden sechs Bedingungen zutreffen:

  • essen, ohne hungrig zu sein
  • besonders schnelles essen
  • essen, bis ein unangenehmes Gefühl einsetzt
  • allein essen, um Gefühle von Schuld und Scham zu vermeiden
  • die Ess-Anfälle werden als belastend empfunden
  • nach dem Ess-Anfall treten Gefühle von Ekel, Scham oder Depressionen auf

Obwohl die Essattacken jeweils nur kurz dauern, kann BED (Binge Eating Disorder) zu Adipositas führen. Von der Bulimie unterscheidet sich BED durch die ausbleibenden Maßnahmen, eine Gewichtszunahme durch Erbrechen, Sport oder Fasten zu verhindern.

Pica-Syndrom

Das Pica-Syndrom (auch: Picazismus) ist ein psychiatrisches Symptom und kommt auch bei Menschen mit geistiger Behinderung oder Demenz vor. Die Störung ist eher selten und ist keine Essstörung im eigentlichen Sinne. Menschen essen dabei ungewöhnliche Dinge, zum Beispiel Papierschnipsel, Gartenerde, Ton, Tafelkreide oder Kot (Koprophagie). Es kann dabei unter anderem zu Vergiftungen, Unterernährung oder Verstopfung führen. Auch bei sonst harmlosen Materialien kann es zu Infektionen oder Vergiftungen kommen.

Bei Babys und kleinen Kindern ist es normal, dass sie buchstäblich alles in den Mund nehmen. Nur bei unterschiedslosem und regelmäßigem Aufessverhalten besteht möglicherweise Anlass, auf Pica-Syndrom zu untersuchen.

Orthorexia nervosa

Orthorexia nervosa bedeutet krankhaftes Gesund-Essen. Betroffene verbringen mehrere Stunden täglich damit, zwanghaft Vitamingehalt und Nährwerte zu berechnen und Lebensmittel auszuwählen, wobei sich die Auswahl der „erlaubten“ Lebensmittel immer mehr verringert. Folgen sind Unterernährung, Mangelernährung und soziale Isolation. Die Betroffenen zeigen teilweise Angst vor Lebensmitteln, die sie für ungesund halten. Die Orthorexie zeigt durch den Missionierungsdrang und die kognitiv nicht zugängliche Symptomatik auch Merkmale einer Wahn- oder Zwangsstörung.

Anorexia athletica

Durch übermäßigen Sport und den damit verbundenen Kalorienverbrauch versuchen die Erkrankten, Gewicht zu verlieren. Diese Störung ist als Sport-Sucht bekannt und wird als Begleitstörung einer Ess-Sucht beobachtet. Als eigenständiges Krankheitsbild ist sie nicht anerkannt.

Seit den 1980er und 1990er Jahren wurde von einem gehäuften Auftreten von Essstörungen bei Leistungssportlern berichtet. Der Begriff Anorexia Athletica wird 2004 in einer Arbeit des Grazers Sudi als solcher genannt. Gemeint ist eine Form von Essstörungen, die nicht alle Merkmale einer echten Anorexia nervosa erfüllt und diagnostisch deshalb als atypische Anorexia nervosa (ICD-10) oder als EDNOSs (DSM-IV) eingeordnet wird. Charakteristisch ist eine zu geringe Zufuhr an Kalorien, die zu schweren Gesundheitsproblemen führt. (unter anderem Abnahme der Knochendichte, Knochenbrüche und Amenorrhoe).

Fütterstörungen im frühen Kindesalter, Rumination und Erbrechen

Schon Babys und kleine Kinder können Essstörungen entwickeln, allerdings in anderer Ausprägung als beim Erwachsenen.

In der ICD-10-Klassifikation werden unter der Chiffre ICD-10 P92 die Ernährungsprobleme beim Neugeborenen aufgelistet, wie etwa Erbrechen beim Neugeborenen (ICD-10 P92.0), Regurgitation und Rumination (wiederholtes Hinaufwürgen von Flüssigkeit oder Nahrung) (P92.1), Trinkunlust beim Neugeborenen (P92.2), Unterernährung beim Neugeborenen (P92.3), Überernährung beim Neugeborenen (P92.4), Schwierigkeiten beim Neugeborenen bei Brusternährung (P92.5) und weitere.

Die ICD-10-Chiffre ICD-10 F98.2 bezeichnet eine Fütterstörung im frühen Kindesalter mit unterschiedlicher Symptomatik. Es kommt beispielsweise zu Nahrungsverweigerung bzw. zu extrem wählerischem Essverhalten bei ausreichendem Angebot an Nahrung, ohne dass eine organische Krankheit vorliegt. Begleitend kann Rumination (wiederholtes Hinaufwürgen von Essen ohne Übelkeit oder eine Krankheit des Verdauungstraktes) vorhanden sein. Auch im frühen Kindesalter kann es zu einer Essstörung kommen. Nach der Definition nach ICD-10 (F98.2) spricht der Mediziner von einer Fütterstörung mit unterschiedlicher Symptomatik. Das Kind verweigert die Nahrung und zeigt wählerisches Essverhalten. Dieses Krankheitsbild kann mit evtl. Rumination oder einer gastrointestinalen Krankheit begleitet werden. Die Essstörung beginnt vor dem 6. Lebensjahr und ist nicht durch andere psychische Ursachen oder Nahrungsmangel erklärbar. Diese Störung kann genetische, psychische, motorische, mentale Störungen zur Ursache haben. Im Mittelpunkt steht die Unlust, Weigerung, oder Unfähigkeit des Kindes, die angebotene Nahrung aufzunehmen. Somit kann eine dysfunktionale Fütterinteraktion zwischen Mutter und Kind entstehen. Daraus resultiert ein Überlastungssyndrom der Bezugsperson mit fehlender Wahrnehmung der kindlichen Signale und Verstärkung des Problems. Oft wird eine Sondierung zur Nahrungsaufnahme beim Kind eingesetzt. Diese sollte bis zu zwei Jahren nicht ausschließlich angewandt werden, da es sonst zu erheblichen Beeinträchtigungen kommen kann (z. B. mangelnde mundmotorische Erfahrung, sensorische Störung, erhöhte Reflux-Gefahr nach PEG, erschwerte Ausbildung des Hungergefühls).

Therapie

Essstörung

Erfolgreiche Behandlungen gehen meist von einem multimodalen Ansatz aus. Das bedeutet, dass unterschiedliche Behandlungsstrategien gleichzeitig eingesetzt werden. Im Zentrum steht meist eine Psychotherapie. Hierbei können sowohl kognitive aber auch psychodynamische Therapien eingesetzt werden. Bei manchen Essstörungen haben sich auch familientherapeutische Behandlungsprogramme als sinnvoll erwiesen. Bei Kindern und Jugendlichen ist eine Beratung und Psychoedukation der Eltern immer notwendig. Gleichzeitig kann ein Ernährungsprotokoll geführt werden. Bei bestimmten Essstörungen ist ein regelmäßiges Wiegen notwendig, aber auch Unterstützung bei einer ausgewogenen Ernährung. Auch eine medikamentöse Therapie ist in manchen Fällen hilfreich. Hierbei werden bei Anorexie und Bulimie zumeist Antidepressiva eingesetzt. Eine medikamentöse Therapie allein ist meist jedoch nicht ausreichend. Auch die Vermittlung von Therapieprogrammen in Selbsthilfegruppen ist hilfreich.

Wenn die ambulante Behandlung keinen Erfolg bringt, ist zumeist eine stationäre oder teilstationäre Behandlung erforderlich. Insbesondere bei Magersucht ist eine stationäre Behandlung als lebenserhaltende Maßnahme notwendig,

  • wenn ein kritisches Untergewicht erreicht ist und/oder
  • wenn körperliche Folgeschäden zu erwarten sind, etwa bei zu geringer Flüssigkeitszufuhr oder bei häufigem Erbrechen.

Übergewicht und Untergewicht

Über- oder Untergewicht sind eigenständige Krankheitsbilder und in über 95 % aller Fälle die Folge einer falschen Energiebilanz als Verhältnis von Essen und Bewegung. Zur Therapie siehe: Adipositas, Ernährungsumstellung und Ernährungslehre.

Medizinische Einordnung und Forschung

Essstörungen werden zu den Zivilisationskrankheiten gezählt.

Diagnostik

Die Diagnostik der Störungen erfolgt durch die Befragung des Patienten und über Fragebögen. Unter- und Übergewicht und Adipositas werden mit dem Body-Mass-Index und anderen Kennzahlen gemessen.

Kategorisierung

Krankheiten werden im deutschsprachigen Raum nach den diagnostischen Leitlinien der ICD-10 kategorisiert. ICD-10 ist eine beschreibende Sammlung von Symptomen und hat wenig mit dem Stand der Forschung und klinischer Theorie zu tun. Essstörungen sind dort nur teilweise beschrieben: Im Kapitel sind nur die Bulimie und die Anorexie eindeutig erfasst. Die meisten Patienten zeigen Verhaltensweisen aus verschiedenen Formen der Essstörungen und fallen dadurch unter „Sonstige Essstörungen“, werden aber oft der Einfachheit halber unter Bulimie oder Anorexie verschlüsselt.
Ess-Sucht: F50, F50.3, F50.4, F50.8 eingeordnet, oft in Verbindung mit E66
Magersucht: F50.0, auch in Verbindung mit F50.5
Ess-Brech-Sucht: F50.2, oft in Verbindung mit F50.3 und F50
Binge Eating: in ICD-10 nicht erwähnt, in der amerikanischen DSM-IV Kandidatenstatus
Alle anderen Störungen werden unter „Sonstige Essstörungen“ F50.8 oder F50.4 codiert. Sie werden in der Praxis oft durch Kombination mit Schlüsseln anderer Erkrankungen umschrieben.

Häufigkeit und Folgen

Da die Formen der einzelnen Essstörungen oft ineinander übergehen und sich vermischen, sind sie schwer zu trennen. Deshalb sind einzelne Zahlen mit Vorsicht zu betrachten.

  • Hier einige Zahlen für Deutschland:
    • Magersucht: etwa 100.000 Menschen sind betroffen. 90 % der Betroffenen sind Frauen zwischen 15 und 35 Jahren. 10 % sind Männer. Essstörungen bei Männern sind bisher noch wenig erforscht.
    • Ess-Brech-Sucht: etwa 600.000 Menschen sind betroffen.
    • Binge Eating: etwa 2 % der Bevölkerung ist betroffen, wäre damit die häufigste Essstörung.
  • Eine Studie des Robert Koch-Instituts mit über 17.000 Teilnehmern zwischen elf und 17 Jahren zeigte bei fast 30 % der Mädchen Essstörungen wie Magersucht, Ess-Brech-Sucht oder Fettsucht. Bei Jungen waren noch 15 % betroffen. Außerdem waren der Studie zufolge Kinder aus sozial benachteiligten Familien fast doppelt so häufig betroffen wie Kinder aus der oberen sozialen Schicht.[1]
  • In einer österreichischen Studie (2006) über Essstörungen bei Models fand sich eine Prävalenzrate essgestörten Verhaltens von 11,4 % der befragten Personen, über 40 % machten zum Untersuchungszeitpunkt eine Diät.[2]
  • Die Adipositas ist in einem Teil der Fälle Folge einer Essstörung und stellt in ihrer Gesamtzahl ein weltweit zunehmendes Problem dar. So sprechen die Weltgesundheitsorganisation und die CDC inzwischen von einer globalen Epidemie bzw. Pandemie, die ebenso ernst genommen werden sollte wie jede zum Tode führende Infektionskrankheit. Weltweit leben rund eine Milliarde Menschen mit starkem Übergewicht (WHO). Sollte sich dieser Trend fortsetzen, wird die Zahl der übergewichtigen Menschen innerhalb der nächsten 10 Jahre auf 1,5 Milliarden ansteigen. Die gesundheitlichen, finanziellen und volkswirtschaftlichen Folgen von Übergewicht sind enorm.[3][4]

Geschichte

Hilde Bruch Eating disorders: obesity, anorexia nervosa, and the person within (1973), war Wegbereiterin psychotherapeutischer Forschung zu Essstörungen.

Seit 1980 gibt es in Deutschland spezifische Sucht-Kliniken und Selbsthilfegruppen (OA).

1999 wurde in Deutschland die Gesellschaft für Ernährungsmedizin und Diätetik gegründet.

Kulturgeschichte, Literatur und moderne Medien

Essstörungen spielen in der Erzählkultur eine Rolle, beispielsweise im Märchen „Der süße Brei“ oder vom Schlaraffenland.

In der Literatur werden sie in Franz Kafkas „Ein Hungerkünstler“ (Anf. 20. Jh.) oder in François Villons Ballade (Nachdichtung von Paul Zech) mit der bekannten Zeile: „Vor vollen Tischen muss ich Hungers sterben...“ behandelt. Eine genaue Schilderung familiärer Bulimie-Wahrnehmungen enthält „Lange Tage“ von Maike Wetzel. Ulrike Draesner hat 2002 den Roman „Mitgift“ zum gleichen Thema vorgelegt. Die bekannte klassische Violinistin Midori Goto beschreibt in ihrer Biografie, wie sie Bulimie überwindet (dt. 2004).

Eine filmische Bearbeitung ist „Das große Fressen“.

Siehe auch: Die Magersucht in Kunst und Musik

Internetforen und spezielle Webseiten sind heute eine leicht zugängliche Quelle für Information, Rat und Hilfe für Betroffene, Angehörige und Behandler.

Ursachen und Prävention

Essstörungen im Lichte des Konzepts der emotionalen Intelligenz

Als Apologet des Konzepts der emotionalen Intelligenz deutet der Psychologe Daniel Goleman Essstörungen als Ausdruck mangelhafter emotionaler Bildung. Er verweist dabei u. a. auf eine Langzeitstudie, die Gloria Leon (University of Minnesota) in den 1990er Jahren mit 900 Highschool-Schülerinnen durchgeführt hat. Besonders zwei Auffälligkeiten erwiesen sich in dieser Studie als starke Prädiktoren für eine künftige Anorexie oder Bulimie: erstens mangelnde Resilienz und zweitens eine gestörte emotionale Selbstwahrnehmung. Mädchen, die später an einer Essstörung erkrankten, neigten erstens bereits Jahre zuvor dazu, auf Bagatellprobleme und -ärgernisse mit unangemessen negativen Gefühlen zu reagieren, über die sich nicht selbst beruhigen konnten; zweitens verstanden sie ihre Gefühle nicht, sondern wurden davon überwältigt und konnten sie nicht effizient managen. Wenn diese zwei emotionalen Tendenzen mit Unzufriedenheit über den eigenen Körper zusammenfiel, entwickelte sich entweder eine Anorexie oder eine Bulimie. Dass ‒ wie oft angenommen ‒ stark kontrollierende Eltern, Sexualangst oder ein vermindertes Selbstwertgefühl die Störungen mitverursachen, hat Leons Studie nicht bestätigt.[5]

Goleman vermutet, dass auch bei Überernährung eine gestörte emotionale Selbstwahrnehmung eine entscheidende Rolle spielt: Einige Übergewichtige essen deshalb soviel, weil sie zwischen Angst, Wut und Hunger nicht ausreichend unterscheiden können.[6]

Wendy Mogel

Als Prävention gegen Essstörungen empfiehlt Wendy Mogel Eltern, ein profundes Reframing ihrer Wahrnehmung vorzunehmen: weg von der zwanghaften Überwachung der kindlichen Nahrungsaufnahme hin zum Genuss und zum Feiern der gemeinsamen Mahlzeit.

Die amerikanische Familientherapeutin Wendy Mogel hat der Prävention von Essstörungen ein Kapitel in ihrem 2001 erschienenen Buch The Blessings of a Skinned Knee gewidmet. Die Ursache vieler Essprobleme sieht sie in der zwanghaften Gewohnheit gutmeinender, überbehütender Eltern, die Essenseinnahme ihres Kindes zu beobachten und zu regulieren; gleichzeitig versäumen diese Eltern es, die Kapazität des Kindes für Freude an Nahrungsmitteln und am Gemeinschaftserlebnis bei Tisch zu entwickeln. Die Eltern, die in Mogels Praxis kommen, haben regelmäßig eine hohe Sensibilität dafür, dass Kindern Essen und insbesondere bestimmte Lebensmittel nicht aufgezwungen werden dürfen; gleichzeitig aber sind sie äußerst gesundheitsbewusst, haben starke Meinungen über gute und schlechte Nahrungsmittel und sind infolgedessen ständig besorgt um eine mögliche Über-, Unter- oder Fehlernährung ihres Kindes.[7] Dabei stehen sie vor dem Dilemma, dass Kinder eine Vorliebe für gesunde Kost weder von Natur aus haben noch aus eigenem Antrieb entwickeln, sie auf ihr Kind, damit es gesund isst, aber auch keinen Zwang ausüben wollen.[8] Da Kinder derartige Ambivalenzen und Verunsicherungen genau spüren und stets nach Gelegenheit Ausschau halten, ihrem Willen Gewicht zu verschaffen, wird der Esstisch in vielen Familien zu einem Schlachtfeld, an dem emotional stark aufgeladene Auseinandersetzungen geführt werden; vor allem mäkelige und wählerische Esser haben große Macht über ihre Eltern.[9]

Die Suche nach einem Korrektiv für derartige Erziehungsszenarien führt Mogel zur jüdischen Tradition, die dem Essen und der gemeinsamen Mahlzeit eine ganz zentrale Bedeutung beimisst; seit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels ist der eigene Esstisch der heiligste Ort jüdischer Familien.[10] Zum Umfang des kulturellen Wissens, mit dem das Judentum bei der Ernährungserziehung helfen kann, zählt erstens das Konzept der Mäßigung; dieses besagt, dass der Mensch sich am Essen einerseits erfreuen soll (weil Gott es gegeben hat), anderseits (weil Gott ihm einen freien Willen gegeben hat) aber auch Selbstbeherrschung walten lassen soll.[11] Den Schlüssel für die Vereinbarung dieser beiden scheinbar disparaten Strebungen bieten die jüdischen Konzepte des Feierns (celebration) und der Weihe (sanctification): wer die Mahlzeit feiert und heiligt, kann sowohl maximales Vergnügen daran haben als auch Mäßigung üben. Für Familien bedeutet das u. a., Mahlzeiten gemeinsam vorzubereiten, in einem nicht ablenkenden Rahmen gemeinsam bei Tisch zu essen, dabei Tischkonversation und gute Tischsitten zu pflegen, Tischgebete zu sprechen und Feiertage mit einer besonderen Mahlzeit zu begehen.[12]

Siehe auch

  • Lookism

Quellen

  1. Meldung auf www.tagesschau.de vom 25. September 2006 (nicht mehr online verfügbar)
  2. Diplomarbeit von Mag. Katharina Stempfl, Erziehungswissenschaftlerin, verfasst am Institut für medizinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Innsbruck
  3. Fettleibigkeit und Übergewicht (2006)
  4. US-Forscher berechnen Milliardenschaden durch Übergewicht, 2010
  5. Gloria R. Leon u.a.: Personality and Behavioral Vulnerabilities Associated with Risk Status for Eating Disorders in Adolescent Girls, Journal of Abnormal Psychology, Band 102, 1993; Daniel Goleman: Emotional Intelligence. Why It Can Matter More Than IQ. 1. Auflage. Bantam, New York 1995, ISBN 0-553-09503-X., S. 246‒249
  6. Daniel Goleman: Emotional Intelligence. Why It Can Matter More Than IQ. 1. Auflage. Bantam, New York 1995, ISBN 0-553-09503-X., S. 248; P. E. Sifneos: Affect, Emotional Conflict, and Deficit: An Overview, Psychotherapy and Psychosomatics, Band 56, Heft 3, 1991, S. 116‒122
  7. Wendy Mogel: The Blessings of a Skinned Knee: Using Jewish Teachings to Raise Self-Reliant Children, New York, London, Toronto, Sydney, Singapore: Scribner, 2001, ISBN 0-684-86297-2, S. 161‒163 (gebundene Ausgabe; eingeschränkte Online-Version in der Google-Buchsuche-USA)
  8. The Blessings of a Skinned Knee, S. 161
  9. The Blessings of a Skinned Knee, S. 162f, 175
  10. The Blessings of a Skinned Knee, S. 159f; The Blessing of Food
  11. The Blessings of a Skinned Knee, S. 165f
  12. The Blessings of a Skinned Knee, S. 165, 169‒173, 180f

Literatur

  • Iris Absenger: Die verkörperte Essstörung. Anorexie - Bulimie - Adipositas; Erleben erleiden. Umfassender Therapieüberblick und ein Körperausdrucksmodell, Centaurus, Herbolzheim 2005, ISBN 3-8255-0520-0.
  • Anja Hilbert: Körperbild bei Frauen mit 'Binge-Eating'-Störung. Universität Marburg 2000. (Dissertation)
  • Lyn Patrick: Eating disorders: a review of the literature with emphasis on medical complications and clinical nutrition. Altern Med Rev. 3/2002, S. 184–202. PMID 12126461
  • Stefanie Richter: Essstörung. Eine fallrekonstruktive Studie anhand erzählter Lebensgeschichten betroffener Frauen, Transcript, Bielefeld 2006, ISBN 3-89942-464-6.
  • Herpertz, Stephan; Hagenah, Ulrich; Vocks, Silja; Wietersheim, Jörn von; Cuntz, Ulrich; Zeeck, Almut: Diagnostik und Therapie der Essstörungen. In: Dtsch Arztebl Int. Nr. 108(40), 2011, S. 678–85 (Klinische Leitlinie).

Weblinks

  • Leitlinie Essstörungen der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. In: AWMF online (Stand 2006)
  • bzga-essstoerungen.de unabhängiges Informationsangebot der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)

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