Karl Bonhoeffer


Karl Bonhoeffer Fotografie vor 1938

Karl Ludwig Bonhoeffer (* 31. März 1868 in Neresheim (Württemberg); † 4. Dezember 1948 in Berlin) war ein deutscher Psychiater und Neurologe. Er war Leiter der Psychiatrischen Kliniken der Universitäten Breslau und später Berlin und veröffentlichte Studien und Schriften zu den psychiatrischen Fragestellungen seiner Zeit. Daneben war er als psychiatrischer Gutachter – teils in Gerichtsverfahren von öffentlichem Interesse – tätig und gelangte hierdurch zu Bekanntheit.

Bonhoeffers Haltung zum Sterilisierungsprogramm der Nationalsozialisten und zu Fragen der Eugenik und Euthanasie ist umstritten bzw. wird kritisch gesehen.

Er ist der Vater des Theologen und NS-Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer. Die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Berlin-Reinickendorf wurde nach Karl Bonhoeffer benannt.

Ehe mit Paula Bonhoeffer

Bonhoeffer war verheiratet mit Paula Bonhoeffer, einer Tochter des Theologen Karl Alfred von Hase. Das Paar hatte acht Kinder: Karl Friedrich, Walter, Klaus, Ursula, Christine, Dietrich und dessen Zwillingsschwester Sabine, sowie Susanne.

Tätigkeit als Psychiater

Studium und erste Anstellung

Bonhoeffer studierte von 1887 bis 1892 Medizin. Zunächst an der Eberhard Karls Universität Tübingen, wo er Mitglied der Studentenverbindung A. V. Igel war, dann in Berlin und München. Seine erste Anstellung fand er im heimatlichen Heidenheim.

Leiter der Psychiatrischen Klinik in Breslau, Habilitation

Nach einigen Jahren wurde Bonhoeffer Leiter der Psychiatrischen Klinik und der Beobachtungsstation für „geisteskranke Verbrecher“ in Breslau. 1897 habilitierte er sich an der Universität Breslau bei Carl Wernicke. Hier entstanden seine wissenschaftlichen Arbeiten über Alkohol-, „Degenerations“- und symptomatische Psychosen, die seinen Ruhm begründeten. Zwischenzeitlich, von 1903 bis 1904, war er in Königsberg und Heidelberg tätig. 1904 wurde Bonhoeffer Nachfolger von Carl Wernicke als Ordinarius der Universität.

Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie an der Berliner Charité

1912 wurde er Nachfolger von Theodor Ziehen als Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie an der Berliner Charité. Dieses Ordinariat hatte er bis zu seiner Emeritierung 1938 inne.

Bonhoeffer hatte das Ziel, die Psychiatrie als anerkanntes, wissenschaftliches Fach in der Medizin fest zu etablieren und weg von der reinen „Anstaltsmedizin“ weiterzuentwickeln. So hatte er die Vorstellung, dass „psychische Krankheiten“ in nervenärztlichen und Allgemeinpraxen, in Ambulatorien und Polikliniken behandelt werden sollen. Zu allen die damalige Öffentlichkeit dominierenden psychiatrischen Fragen war Bonhoeffer als Gutachter tätig, beispielsweise zur „verminderten Zurechnungsfähigkeit“ (die damals in das Strafgesetzbuch eingeführt wurde), zu Renten-, Unfall- und Kriegsneurosen, zur Bekämpfung des Morphinismus und Kokainismus usw. 1912 führte er den Begriff des „akuten exogenen Reaktionstyps“ ein. (Näheres hierzu unter Delirium bzw. Organisches Psychosyndrom)

Im Jahr 1936 wurde er zum Mitglied der Gelehrtenakademie Leopoldina gewählt.

Rolle in der NS-Zeit (1933–1945)

Gutachten für Zwangssterilisierungen

Karl Bonhoefer war während der Zeit des Nationalsozialismus als Gutachter an Zwangssterilisationen beteiligt. Beispielsweise empfahl er am 9. Dezember 1941 die Zwangssterilisierung des als „Halbjuden“ klassifizierten Gottfried Hirschberg. Von 1934 bis Dezember 1941 soll Bonhoeffer mindestens 68 Gutachten angefertigt haben, von denen knapp die Hälfte die Empfehlung „Sterilisation“ enthalten hätten. Nach Angaben seiner Biografen erfolgte aus seiner Sprechstunde heraus jedoch keine Meldung zur Sterilisation, obwohl er gesetzlich dazu verpflichtet gewesen wäre.

Von seinem Institut in der Charité wurden zwischen 1934 und 1942 knapp zweitausend Gutachten in Sterilisationsangelegenheiten erstellt. In 862 Fällen „schien der Klinik die Diagnose soweit gesichert, daß die Annahme der im Gesetz aufgeführten Krankheiten vertreten werden konnte“, sprich, dass die Empfehlung „Sterilisation“ ausgesprochen wurde. Die ganz überwiegende Zahl der Fälle betraf die Diagnosen „angeborener Schwachsinn“ und „Schizophrenie,“ mit großem Abstand folgten „Epilepsie“ und „manisch-depressives Irresein“.[1]

Bonhoeffer befürwortete die Zielsetzung des „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1934, "geistig Minderwertige" Menschen unfruchtbar zu machen, begleitet von der Forderung einer klaren psychiatrischen Diagnose:

„Von der klinischen Diagnose hängt ja die Entscheidung des Erbgerichts ab, die Sicherheit der Diagnose ist die erste Voraussetzung für alles Weitere. Die Aufgabe des Arztes, insbesondere des Psychiaters, der die Diagnose zu stellen hat, ist also eine äußerst verantwortliche. Es sind nicht bloß die differentiellen Schwierigkeiten der Artdiagnose […], sondern vielleicht mehr noch solche der quantitativen Ausbildung der Erkrankung. Denn wo die Grenze zwischen einer erbbiologisch unbedenklichen Debilität und einem sicher auszumerzenden Schwachsinn gelegen ist, […] läßt sich nicht mit der Schärfe einer Paralysediagnose abgrenzen. […] Durch das Gesetz [zur Verhütung erbkranken Nachwuchses] sind für die psychiatrische Forschung starke Anregungen gegeben worden. So ist eine weitere Klärung der Kenntnis der Umgrenzung und auch der Verursachung der Schizophrenien und der Epilepsien mehr denn je Erfordernis. Das Studium der Manifestationstendenz von krankhaften Anlagen, ihre Beeinflußbarkeit durch exogene Faktoren gewinnt an Wichtigkeit. […] Die Verkoppelung von krankhaftem mit eugenisch wertvollem Erbgut in demselben Individuum stellt besondere Aufgaben.“

Bonhoeffer im Vorwort eines 1934 erschienenen Buches, das in der NS-Zeit zum Standardwerk wurde[2]

Euthanasieprogramm

Bonhoeffers Haltung und sein Handeln im Zusammenhang mit dem „Euthanasie“-Programm der Nationalsozialisten, das die Tötung psychiatrisch Kranker betrieb, wird unterschiedlich gesehen. Nach Auffassung einiger Historiker leistete er hiergegen Widerstand, indem er Kontakt einerseits mit den damals Verantwortlichen und andererseits mit Gegnern der „Aktion T4“, zum Beispiel mit Friedrich von Bodelschwingh, aufnahm. Dieser zeigte sich allerdings in einem Brief enttäuscht über die Zurückhaltung Bonhoeffers in diesen Fragen.

Weiteres

Bonhoeffer verfasste das psychiatrische Gutachten über den nach dem Reichstagsbrand (1933) von den nationalsozialistischen Machthabern der Brandstiftung beschuldigten Marinus van der Lubbe, in dem er diesem geistige Zurechnungsfähigkeit bescheinigte.

Bonhoeffer gelang es nicht, bei der Verwaltung der Charité die Entlassung der jüdischen Ärzte Paul Jossmann (1891–1978), Arthur Kronfeld (1886–1941), Franz Kramer (1878–1967), Erwin Straus (1891–1975) und anderer zu verhindern.

Emeritierung

Haus Marienburger Allee 47, heute Bonhoeffer-Haus, 1935 als Altersruhesitz für Karl Bonheffer gebaut

Bonhoeffer wurde Ende März 1936 im Alter von 68 Jahren von seinen Lehrverpflichtungen entbunden, gleichzeitig aber von Minister Rust gebeten, das Amt vertretungsweise weiterzuführen. Der offizielle Emeritierungtermin im Sommersemester 1938 verstrich; Bonhoeffer blieb bis zur Berufung Max de Crinis zu seinem Nachfolger im Wintersemester 1938/39 noch der Universität verbunden. Noch nach seiner Emeritierung sprach er sich gegen die Wiederverheiratung einer als erblich-schizophren eingestuften Frau aus, obwohl diese vor Jahren bereits sterilisiert worden war.[3] Am 18. August 1942 wurde Bonhoeffer zum außerordentlichen Mitglied des wissenschaftlichen Senats des Heeres-Sanitätswesens ernannt.

Nach 1945

Im Oktober 1945 kontaktierte der 77-jährige Bonhoeffer den designierten Rektor der Berliner Universität Johannes Stroux mit dem Ziel, von der Universität bezahlte Forschungsaufträge zu erhalten, auch um etwas für die finanzielle Versorgung seiner Enkel tun zu können, die durch die Hinrichtungen zu Halbwaisen geworden waren. Am 29. Januar 1946 wurde er zum ordentlichen Professor ohne Lehrverpflichtungen berufen und arbeitete in Form von Konsultationen und gutachterlicher Tätigkeit auch für die Heilstätten Wittenau.

Seine 1947 als Fahnenabzug fertiggestellte Arbeit Führerpersönlichkeit und Massenwahn erschien posthum 1968.

Tod

Kurz nach seinem 80. Geburtstag starb Karl Bonhoeffer an den Folgen eines Schlaganfalls am 4. Dezember 1948. Beigesetzt wurde er auf dem Waldfriedhof an der Heerstraße, ebenso wie seine am 1. Februar 1951 gestorbene Frau Paula.

Ehrungen und Gedenken

Die nach 1945 wiedergegründete Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie, die er von 1920 bis 1934 geleitet hatte, ernannte ihn 1948 zum Ehrenmitglied.

Seit 1956 tragen die ehemaligen Heilstätten Wittenau seinen Namen (Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik). 1986 wurde ein Karl-Bonhoeffer-Haus in den Hoffnungstaler Anstalten Lobetal (Bernau) eröffnet.

Das Schicksal von Bonhoeffers Söhnen und Schwiegersöhnen

Gedenktafel für Karl und Dietrich Bonhoeffer in der Wangenheimstraße 14, Berlin-Grunewald, von 1916 bis 1935 Wohnsitz der Familie Bonhoeffer

Karl Bonhoeffers 1906 geborener Sohn Dietrich Bonhoeffer wurde als protestantischer Theologe und Mitglied in der Bekennenden Kirche im April 1943 verhaftet und kurz vor Kriegsende am 9. April 1945 als Widerstandskämpfer hingerichtet. Ebenfalls am 9. April wurde sein Schwiegersohn Hans von Dohnanyi, der Mann der Tochter Christine, im KZ Sachsenhausen erhängt. Ein weiterer Sohn, Klaus Bonhoeffer, sowie der Schwiegersohn Rüdiger Schleicher, der Mann der Tochter Ursula, wurden am 23. April 1945 von der SS in der Nähe des Lehrter Bahnhofs erschossen.

Schriften

  • Ein Beitrag zur Kenntnis des großstädtischen Bettel- und Vagabundentums. Eine psychiatrische Untersuchung. Zeitschrift f. d. ges. Strafrechtsw., Bd. 21, 1–65. Berlin 1900.
  • Die akuten Geisteskrankheiten der Gewohnheitstrinker. Jena 1901.
  • Die symptomatischen Psychosen im Gefolge von akuten Infektionen und inneren Erkrankungen. Deuticke, Leipzig, Wien 1910. – Volltext unter Bonhoeffer, Karl (1910) auf Wikiversity
  • Die Psychosen im Gefolge von akuten Infektionen, Allgemeinerkrankungen und inneren Erkrankerungen. In: Handbuch der Psychiatrie. Spezieller Teil. 3:1. Deuticke, Leipzig, Wien 1912, S. 1–120.
  • Die exogenen Reaktionstypen. Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 58, Berlin 1917, S. 50–70.
  • mit P. Jossmann (Hrsg.): Ergebnisse der Reiztherapie bei progressiver Paralyse. 1932.
  • mit K. Albrecht u. a. (Hrsg.): Die psychiatrischen Aufgaben bei der Ausführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Mit einem Anhang Die Technik der Unfruchtbarmachung. Klinische Vorträge im erbbiologischen Kurs. Karger, Berlin 1934.
  • (Hrsg.): Die Erbkrankheiten. Klinische Vorträge im 2. erbbiologischen Kurs. 1936.
  • Die zentralen Bewegungsstörungen. Die akuten und chronischen choreatischen Erkrankungen und die Myoklonien. In: S. A. Kinnier-Wilson: Die zentralen Bewegungsstörungen. 1936.

Siehe auch

  • Sterilisationsgesetze
  • Bonhoeffer-Haus – 1935 als Alterswohnsitz für Karl Bonhoeffer und seine Frau gebaut, seit 1987 „Stätte der Begegnung und des Gedenkens“ an Dietrich Bonhoeffer

Literatur

  • Klaus-Jürgen Neumärker: Karl Bonhoeffer. Leben und Werk eines deutschen Psychiaters und Neurologen in seiner Zeit. Hirzel/BSB Teubner, Leipzig 1990, ISBN 3-7401-0145-8.
  • Heinz A. F. Schulze: Karl Bonhoeffer, seine Persönlichkeit, sein Werk, seine Wirkung. In: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie. 33, 1981, S. 321−326.
  • Klaus Jürgen Neumärker: Der Exodus von 1933 und die Berliner Neurologie und Psychiatrie. Akademische Gedenkveranstaltung der Medizinischen Fakultät des Wissenschaftlichen Rates der Humboldt-Universität zu Berlin am 2. November 1988 aus Anlass des 50. Jahrestages der faschistischen Pogromnacht. In: Charité-Annalen. Neue Folge. 8, 1988, S. 226. (Darin wird Bonhoeffers Brief an Ministerialrat Achelis wegen Entlassung des jüdischen Professors Franz Kramer vom 29. November 1933 auszugsweise zitiert.)
  • Brigitte Kaderas: Karl Abrahams Bemühungen um einen Lehrauftrag für Psychoanalyse an der Friedrich-Wilhelms-Universität: Quellenedition der „Denkschrift der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung betreffend Einführung des psychoanalytischen Unterrichts an der Berliner Universität“ und ihrer Ablehnung. In: Jahrbuch für Universitätsgeschichte, I, 1996.
  • Bernd Luther u. a.: Zur Entwicklung der Neurologie/Psychiatrie in Berlin, insbesondere am Charité-Krankenhaus. In: Charité-Annalen. 2, 1982, S. 284ff.
  • Heinz David: 275 Jahre Charité und die Verantwortung des Mediziners in der Gesellschaft. In: Charité-Annalen. Neue Folge. 6, 1986, S. 16.
  • Uwe Gerrens: Medizinisches Ethos und Theologische Ethik: Karl und Dietrich Bonhoeffer in der Auseinandersetzung um Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Nationalsozialismus. Oldenbourg, München 1996, ISBN 978-3-486-64573-6. (Auszüge bei Google Books)

Weblinks

Commons: Karl Bonhoeffer – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Thomas Beddies: Universitätspsychiatrie im Dritten Reich. Die Nervenklinik der Charité unter Karl Bonhoeffer und Maximinian de Crinis charite.de (PDF) S. 8 bzw. Christel Roggenbau: Über die Krankenbewegung an der Berliner Universitäts-Nervenklinik in den Jahren 1933–1945, in: Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie 1 (1949), 129–132.
  2. mit K. Albrecht u. a. (Hrsg.): Die psychiatrischen Aufgaben bei der Ausführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses – Mit einem Anhang Die Technik der Unfruchtbarmachung. Klinische Vorträge im erbbiologischen Kurs. Karger, Berlin 1934
  3. Henry Friedlander: Der Weg zum NS-Genozid. Berlin 1997, ISBN 3-8270-0265-6, S. 212.

Die News der letzten Tage