Kluger Hans
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Der kluge Hans (* um 1895; † um 1916) war ein Pferd der Rasse Orlow-Traber,[1] das angeblich rechnen und zählen konnte. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erregte der Schulmeister und Mathematiklehrer Wilhelm von Osten mit Hans’ einzigartigem Können erhebliches Aufsehen.
Wissenschaftliche Sensation oder Betrug
Hans beantwortete die Aufgaben seines „Lehrers“ mit dem Klopfen eines Hufes oder durch Nicken/Schütteln des Kopfes. Derart konnte Hans arithmetische Aufgaben lösen, ferner auch buchstabieren und Gegenstände oder Personen abzählen. Von Osten war offenbar von seinem Lehrerberuf und seinen Fähigkeiten dermaßen überzeugt, dass er glaubte, seine pädagogischen Methoden auch auf seine Pferde – vor dem Klugen Hans hatte er schon einen Hans I. besessen und trainiert – anwenden zu können. In seinem später veröffentlichten Buch über den Klugen Hans bezeichnete der Psychologe Oskar Pfungst von Osten als „scharfsinnig in der Unterrichtsmethode und doch wieder ohne Verständnis für die elementarsten Formen wissenschaftlicher Untersuchung“.
Schließlich wurde im September 1904 tatsächlich eine 13-köpfige wissenschaftliche Kommission unter Leitung von Carl Stumpf, einem Philosophie-Professor und Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, aus der deutschen Reichshauptstadt eingesetzt, um dem Phänomen auf den Grund zu kommen. Die Kommission vermutete zunächst einen Trick oder Betrug seitens des Mathematiklehrers, doch das Pferd beantwortete Aufgaben auch richtig, wenn ein Fremder die Fragen stellte und von Osten abwesend war.
Endlich löste Oskar Pfungst, der zu dieser Zeit noch Student von Stumpf war, das Rätsel: Hans beherrschte zwar nicht die Mathematik, konnte dafür aber feinste Nuancen in Gesichtsausdruck und Körpersprache seines menschlichen Gegenübers deuten. Unwillkürlich nahmen die Fragesteller vor dem entscheidenden „korrekten“ Hufklopfen des Pferdes eine gespannte Haltung ein, nach der „richtigen Antwort“ drückten sie mit ihrer Körpersprache unbeabsichtigt Signale der Erleichterung aus, die „der Kluge Hans“ in etwa 90 % aller Fälle wahrnahm. Dies funktionierte natürlich nur, wenn der Fragesteller die Antwort auch selbst wusste.
Von Osten war nach Abschluss der Untersuchungen über das Ergebnis sehr aufgebracht. Richtete sich sein Ärger zunächst gegen das Pferd, so gewann es doch schon bald das alte Vertrauen zurück und von Osten erlaubte keinerlei weitere Experimente. Das von ihm aufgebaute Weltbild wurde rasch wiederhergestellt und alle unleugbaren Tatsachen, die diesem widersprachen, wurden ignoriert.
Folgen für die Wissenschaft
Der sogenannte „Kluger-Hans-Effekt“ ging als wichtige Erkenntnis – nicht nur der Tierpsychologie – in die Wissenschaftsgeschichte ein, er verhalf der experimentellen Psychologie zum Durchbruch. Der Effekt kann durch Verwendung des Forschungsdesigns der sogenannten Doppelblindstudie oder von „unaufdringlichen Messungen“ vermieden werden. Auch in die Sozialforschung ist der „Kluger-Hans-Effekt“ als Reaktivität (des Befragten auf Verhalten, Äußeres und unterstellte Werthaltungen des Befragers sowie auf die Situation des Interviews, vgl. auch Interviewereffekt) eingegangen.
Folgen für den „Klugen Hans“
Nachdem von Osten 1909 gestorben war, ging der Kluge Hans in den Besitz des Kaufmanns Karl Krall über, der weitere Experimente mit ihm anstellte und auch andere Pferde trainierte.[1] Er richtete ein psychologisches Laboratorium im Stall des Geheimen Kommerzienrates von der Heydt in Elberfeld ein und arbeitete dort mit insgesamt elf Pferden, zwei Eseln, einem Pony und einem Elefanten. Aus seinen Versuchsreihen ging 1912 das Buch Denkende Tiere hervor; ferner gab er die Zeitschrift Tierseele heraus. Finanzieller Erfolg blieb ihm jedoch versagt, 1916 gab er seine Arbeit mit den Tieren auf.[2] Hans und die anderen rechnenden Pferde von Elberfeld wurden zum Einsatz im Ersten Weltkrieg herangezogen,[1] das weitere Schicksal des Klugen Hans ist unbekannt.
Siehe auch
- Mengenunterscheidung bei Tieren
- Marocco
Literatur
- Oskar Pfungst: Der Kluge Hans: Ein Beitrag zur nichtverbalen Kommunikation. 3. Auflage. Frankfurter Fachbuchhandlung für Psychologie, Frankfurt am Main 1983 (Neuauflage des Originals von 1907).
- Heike Baranzke: Nur kluge Hänschen kommen in den Himmel. Der tierpsychologische Streit um ein rechnendes Pferd zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Friedrich Niewöhner, Jean-Loup Seban (Hrsg.): Die Seele der Tiere. In: Wolfenbütteler Forschungen. Band 94, Wiesbaden 2001, S. 333-379.
- Helmut E. Lück, Rudolf Miller: Illustrierte Geschichte der Psychologie. Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2005.
- John Watson: Review of Oskar Pfungst's Das Pferd des Herrn von Osten. In: Journal of Comparative Neurology and Psychology. Band 18, 1908, S. 329–331.
- Karl Krall: Denkende Tiere. Beiträge zur Tierseelenkunde auf Grund eigener Versuche. Der kluge Haus und meine Pferde Muhamed und Zarif. Friedrich Engelmann, Leipzig 1912, S. 1–83. online