Morbus Meulengracht


Klassifikation nach ICD-10
E80.4 Gilbert-Meulengracht-Syndrom
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Morbus (Gilbert-)Meulengracht, Meulengracht-Krankheit, Gilbert-(Meulengracht)-Syndrom oder auch Icterus intermittens juvenilis ist gekennzeichnet durch eine leichte Erhöhung des indirekten Bilirubins im Blut, die ohne gesteigerte Hämolyse oder zugrundeliegende Leberkrankheit auftritt und keinen eigenen Krankheitswert besitzt.[1][2]

Häufigkeit

Morbus Meulengracht ist weit verbreitet. Die Prävalenz (Auftrittshäufigkeit) liegt bei mehr als acht Prozent der Bevölkerung, wobei Männer häufiger betroffen sind als Frauen mit berichteten Verhältnissen von 1,5:1 bis über 7:1.[2]

Ursache

Die Ursache für die Stoffwechselstörung findet sich im Prozess des Hämoglobinabbaus: Die Blutkörperchen werden nach etwa 120 Tagen erneuert. Der rote Blutfarbstoff, das Hämoglobin, wird im Knochenmark, in der Milz und der Leber in mehreren Schritten abgebaut und in eine wasserlösliche Form überführt.

  1. Schritt: Der rote Blutfarbstoff, das Hämoglobin, wird mittels der Hämoxygenase über α-Hydroxihämin zu Biliverdin abgebaut.
  2. Schritt: Biliverdin wird mittels der Biliverdin-Reduktase zu unkonjugiertem Bilirubin (wasserunlöslich = „indirektes“ Bilirubin) reduziert. Danach wird dieses wasserunlösliche Bilirubin gebunden an Albumin zur Leber transportiert.
  3. Schritt: Das unkonjugierte Bilirubin wird in der Leber durch die mikrosomale UDP-Glucuronosyltransferase (UDP-GT) mit Glukuronsäure zu konjugiertem Bilirubin (wasserlöslich = „direktes“ Bilirubin).
  4. Schritt: Das konjugierte Bilirubin wird mit der Galle in den Darm abgegeben.
  5. Schritt: Im Darm wird Bilirubin zu Urobilinogen reduziert; 80 Prozent werden mit dem Stuhl ausgeschieden, ungefähr 20 Prozent gelangen nach Rückresorption über den enterohepatischen Kreislauf zur Leber, ein kleiner Teil wird über die Niere ausgeschieden.

Bei Morbus-Meulengracht-Patienten ist die Aktivität der UDP-Glukuronyltransferase auf etwa 30 Prozent eines gesunden Menschen herabgesetzt und somit die Bildung des konjugierten Bilirubins erschwert. Die Folge daraus ist ein erhöhter Bilirubin-Serumspiegel („indirekter“ Serumspiegel). Bei stärker ausgeprägtem Rückgang der Enzymaktivität (auf 0 bis 10 %) spricht man vom Crigler-Najjar-Syndrom.

Genetik

Morbus Meulengracht wird durch eine 70- bis 75-prozentige Reduktion der Aktivität des Enzyms UDP-Glucuronosyltransferase (UDP-GT1-A1) ausgelöst.[3][4] Das Gen, welches für UDP-GT1-A1 kodiert (UGT1A1), hat normalerweise eine Promotor-TATA-Box, welche die Allele A(TA6)TAA enthält. Die Krankheit wird meistens mit den homozygoten A(TA7)TAA-Allelen assoziiert.[5] Der Polymorphismus der Allele wird als UGT1A1*28 bezeichnet. In 94 Prozent der Fälle sind zusätzlich andere Enzyme aus der Familie der Glucuronosyltransferasen betroffen, wie UDP-GT1-A6 (etwa 50 % Inaktivität) und UDP-GT1-A7 (etwa 83 % Inaktivität). Wegen der Auswirkungen auf den Arzneimittel- und Bilirubinabbau einerseits und der Erblichkeit andererseits, kann Morbus Meulengracht als angeborene Stoffwechselerkrankung betrachtet werden.

Morbus Meulengracht wird autosomal-rezessiv vererbt.[2]

Klinische Erscheinungen

Patienten sind im Allgemeinen asymptomatisch. Uncharakteristische Symptome wie Müdigkeit korrelieren nicht mit den Bilirubinwerten. Das Blutbild ist unauffällig. Beim Fasten steigt das Bilirubin weiter an, was zu leicht gelblich gefärbten Augen führen kann.[1][6]

Die Glucuronidierung von Fremdstoffen scheint bei Morbus Meulengracht normal zu sein. Die prinzipielle Ausnahme ist die Unverträglichkeit des Chemotherapeutikums Irinotecan. Einige Studien nehmen zusätzlich eine abweichende Verarbeitung einiger Medikamente, wie zum Beispiel Paracetamol, an. Andere Studien zweifeln das an und gehen davon aus, dass Morbus Meulengracht zu keinen klinischen Komplikationen bei Verwendung dieser Medikamente führt. Die Verwendung der HIV-Medikamente Indinavir und Atazanavir kann in Verbindung mit Morbus Meulengracht zu einem erhöhten Bilirubinwert führen, da sie das UGTA1-Gen blockieren.[2]

Diagnostik und Konsequenzen

Morbus Meulengracht kann durch Nikotinsäure- oder Fastentests eindeutig bestimmt werden. Eine Leberpunktion ist heutzutage nicht mehr notwendig. Eine weitere sicherere Möglichkeit der Diagnostik ist eine molekulargenetische Untersuchung.

Bei Gesundenuntersuchungen werden in der Regel auch Bilirubinwerte erfasst (Harn und Blut). Bei Morbus Meulengracht finden sich Werte, die etwa doppelt so hoch sind wie der Grenzwert.

Neuere Arbeiten spekulieren, dass das chronisch erhöhte Bilirubin möglicherweise vor Arteriosklerose schützen könnte.[7][8] Möglicherweise trifft dies auch auf kolorektale Karzinome zu.[9] Eine Studie aus dem Jahr 2011 [10] kommt zu vergleichbaren Ergebnissen und findet eine Verminderung von Lungenerkrankungen und eine insgesamt verminderte Sterberate bei Personen mit gering erhöhtem Bilirubin.

Therapie

Es besteht keine Therapieindikation.[11][6] Die Vermeidung von Paracetamol zur Schmerztherapie wird empfohlen. Die klinischen Erscheinungen sind ohne Krankheitswert, jedoch können sie bei erstmaligem Auftreten für die Betroffenen beunruhigend sein. Daher ist eine eingehende Aufklärung auch therapeutisch wichtig.

Geschichte

Morbus Meulengracht ist benannt nach dem Dänen Einar Meulengracht, welcher maßgeblich an ihrer Erforschung beteiligt war. Ein weiterer Namensgeber ist Augustin Nicolas Gilbert (1858–1927), der bereits um 1900, zusammen mit Pierre Lereboullet (1874–1944), an der Krankheit forschte.

Der historische Namenszusatz „juvenilis“ verweist eventuell auf die Möglichkeit, dass Menschen möglicherweise nur in jungen Jahren von der Krankheit stärker betroffen sein könnten. Dies trifft aber eher selten bis gar nicht zu, da es sogar Patienten gibt, bei denen Morbus Meulengracht erstmals mit über 40 diagnostiziert wurde und es sich hier um eine angeborene und damit lebenslange genetische Disposition handelt.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 Tadataka Yamada u. a.: Textbook of Gastroenterology. 4. Auflage. Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia 2003, ISBN 0-7817-2861-4, Seite 915.
  2. 2,0 2,1 2,2 2,3 Anthony S. Fauci u. a.: Harrison’s Principles of Internal Medicine. 17. Auflage. McGraw-Hill, New York 2008, ISBN 0-07-146633-9, S. 1929.
  3. Maarten Raijmakers, Peter Jansen, Eric Steegers, Wilbert Peters: Association of human liver bilirubin UDP-glucuronyltransferase activity, most commonly due to a polymorphism in the promoter region of the UGT1A1 gene. In: Journal of Hepatology. Band 33, Nr. 3, 2000, S. 348–351, doi:10.1016/S0168-8278(00)80268-8.
  4. Piter J. Bosma u. a.: The genetic basis of the reduced expression of bilirubin UDP-glucuronosyltransferase 1 in Gilbert’s syndrome. In: New England Journal of Medicine. Band 333, Nr. 18, 1995, S. 1171–1175, doi:10.1056/NEJM199511023331802.
  5. G. Monaghan u. a.: Genetic variation in bilirubin UPD-glucuronosyltransferase gene promoter and Gilbert’s syndrome. In: Lancet. Band 347, Nr. 9001, 1996, S. 578–581, doi:10.1016/S0140-6736(96)91273-8.
  6. 6,0 6,1 Hanns-Wolf Baenkler u. a.: Kurzlehrbuch Innere Medizin. 2. Auflage. Thieme, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-13-141672-8, S. 577.
  7. Harvey A. Schwertner: Bilirubin concentration, UGT1A1*28 polymorphism, and coronary artery disease. In: Clinical Chemistry. Band 49, Nr. 7, 2003, S. 1039–1040, PMID 12816897.
  8. L. Vítek u. a.: Gilbert syndrome and ischemic heart disease: a protective effect of elevated bilirubin levels. In: Atherosclerosis. Band 160, 2002, S. 449–456, PMID 11849670.
  9. S. D. Zucker, P. S. Horn, K. E. Sherman: Serum bilirubin levels in the U.S. population: gender effect and inverse correlation with colorectal cancer. In: Hepatology. Band 40, Nr. 4, 2004, S. 827–835, PMID 15382174.
  10. JAMA 2011;305(7):691-697, zitiert in Deutsches Ärzteblatt vom 17. Februar 2011
  11. Gerd Herold: Innere Medizin. Eigenverlag, Köln 2002, S. 430.

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