Nervenfaser


Als Nervenfaser bezeichnet man den von einer Gliazelle umhüllten Fortsatz einer Nervenzelle, beispielsweise das Axon einer Nervenzelle mitsamt seiner Myelinscheide. Im peripherem Nervensystem sind mehrere Nervenfasern zumeist durch zusätzliche bindegewebige Hüllen zu Nerven zusammengefasst.

Myelinisierung (Myelinisation)

Abb. 1. Myelinisierungsstadien des Gehirns nach Paul Flechsig. Die dunklen Areale werden früh, die hellgrauen später und die weißen z.T. erst während der Pubertät myelinisiert.

Entwicklungsgeschichte

Myelinisierung (Markreifung) meint die Ausstattung von Nervenfasern mit Myelin oder Marksubstanz. Dieser Vorgang hat entwicklungsgeschichtliche Bedeutung. Paul Flechsig (1847–1929) hat auf die ontogenetische Reihenfolge der Myelinisierung des Gehirns beim Menschen hingewiesen.[1] Die Nervenfasern erhalten im Verlauf ihrer Entwicklung eine Isolationsschicht, die innerhalb des ZNS von Oligodendroglia und teilweise von Astroglia gebildet wird. Die dem Verlauf des Axons folgenden Myelinscheiden – auch Markscheiden genannt – werden bei den peripheren Nerven von Schwannschen Zellen gebildet. Von der fünften Woche der Schwangerschaft an differenzieren sich die Zellen des Neuralrohrs zu Neuroblasten – den Mutterzellen der Nervenzellen – und in Glioblasten – den Mutterzellen der Gliazellen des Nervensystems. Glioblasten werden auch Spongioblasten genannt. Erst mit der Ausbildung einer Markscheide sind Nervenzellen als funktionstüchtig anzusehen.[2]

Histologie

Abb. 2. Impulsfortleitung an einer myelinisierten Nervenzelle.

Die Schwannschen Zellen wachsen mit ihrem Zellleib während der Entwicklung mehrmals um den Nervenfortsatz herum, wickeln ihn also mit mehreren Lagen ein. Eine Schwannsche Zelle umwickelt dabei immer nur einen Teilabschnitt einer Nervenfaser, die gesamte Nervenfaser wird also von mehreren Zellen umhüllt.

Je dicker eine Myelinscheide ist, desto größer der Durchmesser eines Axons. Je nach Anzahl der Wicklungen unterscheidet man markhaltige Nervenfasern (stark myelinisierte) und marklose oder besser markarme Nervenfasern. Die marklose Nervenfaser leitet Aktionspotentiale durch ihre nur einschichtige Markscheide deutlich langsamer (siehe weiter unten), da die Erregungsleitung kontinuierlich abläuft.

Den größeren Anteil stellen die markhaltigen Nervenfasern mit einer dickeren Isolierungsschicht. Hier kommt die saltatorische Erregungsleitung zum Tragen, wodurch die Leitungsgeschwindigkeit größer ausfällt. Zwischen zwei Schwannschen Zellen entsteht hier eine kleine Lücke (Ranvierscher Schnürring). Der Bereich zwischen zwei Schnürringen wird Internodium genannt. Bei demyelinisierenden Erkrankungen wie beispielsweise Multiple Sklerose geht speziell die Myelinscheide der Axone von zentralen Neuronen irreversibel verloren, was in der Folge zu Gefühlsstörungen und Lähmungen führen kann.

Topographie

Abb. 3. Cyto- und myeloarchitektonischer Aufbau der Hirnrinde bzw. Schichtaufbau des Isocortex:
Die Laminae II und III sowie die Laminae IV und V wurden auf dieser Illustration zusammengefasst

Wie aus Abb. 1 hervorgeht, ermöglicht die Kenntnis der Reifungsstadien des Gehirns bis hin zur Pubertät eine topographische Beschreibung und Systematisierung des Gehirns in Sinne einer funktionellen Anatomie. Eine solche Systematisierung betrifft die Unterteilung in Projektionszentren und Assoziationszentren im Gehirn. Es wird auf die entsprechenden Artikel verwiesen.

Vom zyto- und myeloarchitektonischen Aufbau der Hirnrinde wird gesprochen, wenn man das Verhältnis von Zellen und Markfasern in einem bestimmten Hirnabschnitt beschreiben will (z. B. in der Hirnrinde, siehe Abb. 3). Die Erstellung entsprechender Karten der Hirnrinde, in der Strukturen und Funktionen miteinander in Verbindung gesetzt wurden, geht auf Karl Kleist (1879–1960), Korbinian Brodmann (1868–1918), Cécile Vogt (1875–1962) und Oskar Vogt (1870–1959) sowie auf Constantin von Economo (1876–1931) zurück.[3]

Anthropologie

Der Hirnforscher Manfred Spitzer (* 1958) hat im Zusammenhang mit der Myelinisierung des Gehirns auf anthropologische Konzepte von Arnold Gehlen (1904-1976) vom Mensch als Mängelwesen und auf das Konzept vom Mensch als Nesthocker verwiesen.[4] Das Konzept des Nesthockers wird z. B. von dem Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich (1908–1982) aufgegriffen.[5] Hierbei wird die angeborene unmittelbare Instinktgebundenheit tierischer Organismen auf der einen Seite gegen die Frage nach dem langfristigen Erwerb von Verstandesqualitäten beim Menschen abgewogen. Spitzer glaubt durch den Hinweis auf die Dauer der menschlichen Myelinisierung einen Beitrag zu dieser Frage zu leisten.

Nervenfaserbündel (periphere Nerven)

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Die einzelnen ummarkten Nervenfasern werden durch sehr feine Bindegewebslamellen, dem sogenannten Endoneurium, voneinander getrennt. Es besteht aus retikulären Fasern und einer Basalmembran.

Mehrere solcher Fasern werden durch das sogenannte Perineurium zu Faserbündeln (Faszikeln) zusammengefasst, das aus kollagenem Bindegewebe besteht.

Das Epineurium umhüllt schließlich den gesamten peripheren Nerv (d. h. mehrere Nervenfaserbündel) und fixiert diesen im umgebenden Gewebe.

Diese Bindegewebsumhüllung gibt den Nerven eine höhere Elastizität (durch elastische Fasern), schützt vor Druck und sie dient den Schwannschen Zellen zur Ernährung, da in diesen Bindegewebslamellen die Blutgefäße verlaufen.

Faserqualitäten

Die Versorgung von Organen oder Körperteilen mit Nervenfasern und deren Reizübertragung bezeichnet man als Innervation. Nervenfasern oder ganze Nerven können nach verschiedenen Kriterien eingeteilt werden:

  • nach der Richtung der Erregungsleitung: afferent (zum ZNS hin) und efferent (vom ZNS weg)
  • nach dem Grad der Myelinisierung und damit auch der Leitungsgeschwindigkeit
  • nach ihrer Wirkung

Nach ihrer primären Wirkung unterscheidet man drei verschiedene Faserqualitäten: sensibel, motorisch, vegetativ.

Sensible Nervenfasern

Sensible Fasern leiten Empfindungen, die von Rezeptoren registriert wurden, aus dem Körper zum Zentralnervensystem. Nach der Richtung der Erregungsleitung spricht man auch von afferenten Fasern. Im deutschen Sprachraum werden von den sensiblen häufig sensorische Fasern abgegrenzt. Sensorische Fasern leiten Erregungen von spezifischen Sinnesorganen (Auge, Ohr, Geschmack). Die Abgrenzung ist allerdings ziemlich künstlich, denn auch sensible Fasern haben spezialisierte Nervenendigungen. Im Englischen wird diese Differenzierung nicht durchgeführt, sowohl sensibel als auch sensorisch werden unter dem Begriff sensitive eingeordnet.

Eine spezielle Form sind viszerosensible (viscera „Eingeweide“) Fasern, die Empfindungen aus inneren Organen leiten. Sie werden aber meist zu den vegetativen Fasern gerechnet.

Motorische Nervenfasern

Motorische Fasern innervieren die Skelettmuskeln. Dort wird die Erregung über eine motorische Endplatte auf die Muskelfaser übertragen und diese zu einer Kontraktion angeregt. Gelegentlich werden von den motorischen Nerven die branchomotorischen Nerven abgegrenzt. Diese innervieren Skelettmuskeln, die aus den Kiemenbogen hervorgehen. Nach der Richtung der Erregungsleitung handelt es sich um efferente Fasern. Rein motorische Nerven gibt es nicht, in als „motorisch“ klassifizierten Nerven laufen stets auch afferente Fasern von den Rezeptoren in den Muskeln (Muskelspindel, Golgi-Sehnenorgan), die den aktuellen Tonus des Muskels registrieren.

Viszeromotorische Nerven innervieren die glatte Muskulatur der Eingeweide und Blutgefäße und gehören zu den vegetativen Fasern.

Vegetative Nervenfasern

Als vegetative Fasern bezeichnet man die Nervenbahnen des autonomen (vegetativen) Nervensystems. Sie können nach Zugehörigkeit zum jeweiligen System auch als parasympathisch oder sympathisch und auch als enterisch klassifiziert werden. Nach ihrer primären Funktion oder Leitungsrichtung unterscheidet man

Einteilung nach Leitungsgeschwindigkeit nach Erlanger/Gasser

Fasertyp/-klasse (nach Erlanger/Gasser) Leitungsgeschwindigkeit Durchmesser efferent zu: afferent von / (Einteilung nach Lloyd/Hunt):
60-120 m/s 10-20 µm Skelettmuskel (extrafusal) Skelettmuskel: Muskelspindel (Ia), Golgi-Sehnenorgan (Ib)
40-90 m/s 7-15 µm Hautrezeptoren (Berührung, Druck)
20-50 m/s 4-8 µm Skelettmuskel (intrafusal)
10-30 m/s 2-5 µm Hautrezeptoren (Temperatur, schneller Schmerz)
B 5-20 m/s 1-3 µm Präganglionäre autonome Nerven
C (ohne Myelinscheide) 0,5-2 m/s 0,5-1,5 µm Postganglionäre autonome Nerven langsamer Schmerz-, Thermorezeptoren

Einzelnachweise

  1. Paul Flechsig: Anatomie des menschlichen Gehirns und Rückenmarks auf myelogenetischer Grundlage. Thieme, Leipzig 1920.
  2. Helmut Ferner: Entwicklungsgeschichte des Menschen. Reinhardt-Verlag, München - 7 1965, Seite 125 f.
  3. Benninghoff, Alfred u. a.: Lehrbuch der Anatomie des Menschen. Dargestellt unter Bevorzugung funktioneller Zusammenhänge. 3. Bd. Nervensystem, Haut und Sinnesorgane. Urban und Schwarzenberg, München 1964, Seite 234 – Der Feinbau der Großhirnrinde und seine funktionelle Bedeutung
  4. Spitzer, Manfred: Geist im Netz, Modelle für Lernen, Denken und Handeln. Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg 1996, ISBN 3-8274-0109-7. Seite 196
  5. Mitscherlich, Alexander Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. Piper München, 10. Auflage 1996, ISBN 3-492-20045-1, Seite 9

Siehe auch

Weblinks

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