Reizdarmsyndrom


Klassifikation nach ICD-10
K58.- Reizdarmsyndrom
Colon irritabile
Irritables Kolon
Reizkolon
K58.0 Reizdarmsyndrom mit Diarrhoe
K58.9 Reizdarmsyndrom ohne Diarrhoe

Reizdarmsyndrom o. n. A.

ICD-10 online (WHO-Version 2019)

In der Medizin (Gastroenterologie) bezeichnet der Begriff Reizdarmsyndrom (RDS) eine Gruppe funktioneller Darmerkrankungen, die eine hohe Prävalenz (Krankheitshäufigkeit in der Bevölkerung) haben und bis zu 50 % der Besuche beim Spezialisten ausmachen. Das Reizdarmsyndrom kann Symptome aller möglichen Darmerkrankungen nachahmen, ist jedoch, wenn diese Erkrankungen ausgeschlossen sind, ungefährlich. Synonyme Begriffe sind Irritables Darmsyndrom (IDS) bzw. englisch irritable bowel syndrome (IBS), Reizkolon, Colon irritabile und „nervöser Darm“.

Symptomatik

Symptome des Reizdarmsyndroms sind Schmerzen oder Unwohlsein im Bauchraum zusammen mit einer Veränderung in den Stuhlgewohnheiten unter Ausschluss einer strukturellen oder biochemischen Ursache. Eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit des Darmes gegenüber mechanischen Reizen ist ein sehr sensitives, weniger spezifisches Zeichen des Reizdarmsyndroms. Je nach Charakter der Schmerzen und der Stuhlgewohnheiten spricht man auch vom spastischen Kolon. Das Reizdarmsyndrom kann in verschiedene Untergruppen klassifiziert werden, dazu gehören diarrhoe-prädominantes (Durchfall), obstipations-prädominantes (Verstopfung) Reizdarmsyndrom und Reizdarmsyndrom mit wechselnden Stuhlgewohnheiten. Typisch ist die Überlappung mit chronischen Beckenschmerzen (ursächlich ist dafür wahrscheinlich die Fehldiagnose durch den Gynäkologen), mit Fibromyalgie (chronische Schmerzen, geistige und körperliche Erschöpfung) und psychischen Erkrankungen.

Weil die Symptome wie Blähungen, Schmerzen und veränderte Stuhlgewohnheiten bei Aufnahme von Mehrfachzuckern wie Laktose in Milchprodukten und Stärke in Weizenmehl sich verstärken, suchen viele eine Ursache in Nahrungsmittelunverträglichkeiten, die jedoch durch einen Test auf Laktoseintoleranz und Zöliakie (Glutenunverträglichkeit) ausgeschlossen werden können. Vielmehr könnte eine Dünndarmfehlbesiedlung für diese temporäre Unverträglichkeit verantwortlich sein.

Diagnose

Nach den Rom-II-Konsensus-Kriterien der American Gastroenterological Association und anderen medizinischen Gesellschaften kann ein Reizdarmsyndrom diagnostiziert werden, wenn folgende Kriterien erfüllt sind:

innerhalb der letzten 12 Monate mindestens 12 Wochen, die nicht in Folge sein müssen, abdominelle Schmerzen oder Unwohlsein mit zwei der drei Eigenschaften:

  1. Linderung durch Stuhlgang
  2. Beginn der Schmerzen verbunden mit einer Veränderung der Stuhlhäufigkeit
  3. Beginn der Schmerzen verbunden mit einer Veränderung der Stuhlkonsistenz

Nebenkriterien, die die Diagnose unterstützen, aber für sich keine Diagnose erlauben, sind:

  • abnormale Stuhlhäufigkeit (z. B. mehr als 3 Stühle pro Tag oder weniger als 3 Stühle pro Woche)
  • abnormale Stuhlkonsistenz
  • abnormales Absetzen von Stuhl (z. B. starkes Pressen, imperativer Stuhldrang, Gefühl der unvollständigen Entleerung)
  • schleimiger Stuhl
  • Blähungen und Gefühl des Aufgeblähtseins

Die Diagnose setzt voraus, dass keine strukturelle oder biochemische Veränderung die Symptome erklären kann. Das muss ausgeschlossen werden durch:

  • Darmspiegelung u. a. zum Ausschluss von Kolonkarzinomen und chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen
  • Magenspiegelung u. a. zum Ausschluss von Magenkarzinomen und Magengeschwüren
  • Ultraschalluntersuchung des Bauches u. a. zum Ausschluss von Lebererkrankungen und extraenteralen Neubildungen
  • Blutuntersuchungen: Blutbild, Leberenzyme, Elektrolyte, Nierenwerte usw. zum Ausschluss anderer internistischer Erkrankungen wie Lebererkrankungen, hormoneller Störungen oder Allergien
  • tiefe Dünndarmbiopsie zum Ausschluss einer Zöliakie
  • H2-Atemtests zum Ausschluss von Laktoseintoleranz, Fruktosemalabsorption und Dünndarmfehlbesiedlung
  • Test auf eine Sorbitunverträglichkeit

Eine Reizschwellenbestimmung durch Barostat wird als diagnostischer Test diskutiert. Sensitivität und Spezifität sind jedoch noch nicht gut genug, um es als klinische Methode anwenden zu können.

Ebenfalls diskutiert und erprobt wird die Nahrungsmittelprovokation bei gleichzeitiger Diät nach Ausschluss einer pathologisch-klinischen Diagnose allergologischer und gastroenterologischer Untersuchungen, basierend eher auf der Annahme, dass psychische Intoleranzen die Folge langanhaltender Erschöpfungszustände als Folge einer unentdeckten Nahrungsmittelunverträglichkeit sein können.

Pathophysiologie

Die Ätiologie (Ursache) des Reizdarmsyndromes ist weitgehend unklar. Veränderungen der Motilität, Immunreaktionen und psychische Faktoren sind vorgeschlagen worden. Einzig konsistenter Befund bei vielen Patienten sind erniedrigte Schmerzschwellen (Hyperalgesie) im Kolon. Bis zu 50 % der Frauen mit Reizdarmsyndrom berichten eine Missbrauchsgeschichte.

Etwa 25 % der Reizdärme entstehen nach einer Gastroenteritis (z. T. nach dem Einsatz von Antibiotika). In diesen Fällen werden eine verlängerte Immunreaktion oder neuroplastische Vorgänge auf Ebene des Rückenmarks als ursächlich diskutiert, allerdings basieren diese Annahmen bisher nur auf Tiermodellen.

Das Reizdarmsyndrom wird von vielen als ein Konglomerat von Störungen mit ähnlicher Symptomatik, aber unterschiedlicher Ätiologie angesehen. Wie bei vielen anderen Krankheiten wird über Ursachen spekuliert, unter anderem von Seiten der alternativen Medizin.

Nach neueren Erkenntnissen sollen die enterochromaffinen Zellen des Verdauungstrakts Aromastoffe in der Nahrung detektieren und so die Verdauung steuern.[1] Somit könnten Aromastoffe für Reizdarmprobleme mitverantwortlich sein.

Ein anderer Erklärungsansatz macht eine Dünndarmfehlbesiedlung für die Symptome verantwortlich.[2] Demnach führt eine gestörte Dünndarmperistaltik dazu, dass der Essensbrei nicht mit der normalen Geschwindigkeit weiter befördert wird. Der verlangsamte Transport führt dazu, dass Bakterien aus dem Dickdarm in den Dünndarm aufsteigen und sich dort vermehren können. Nährstoffe, die etwas langsamer verstoffwechselt werden und somit in die untere Partie des Dünndarms hinabsteigen, stehen somit als Nahrungsquelle für die Bakterien bereit. Die Bakterienanzahl und Zusammensetzung variiert je nach Patient, und so entstehen bei der Gärung durch Bakterien unterschiedliche Gase und Schadstoffe, die zu der breiten Palette an Symptomen führen. So kann es durch allergische Reaktionen auf die Schadstoffe zu nesselsuchtartigen Hautausschlägen kommen. Die Gase verflüssigen den Stuhl, und so kommt zum Paradoxon, dass trotz verlangsamter Darmmotilität der Stuhl nicht eingedickt werden kann, und die Patienten unter Durchfall leiden. Diese Tatsache könnte die fehlende Wirksamkeit von Immodium erklären, das die Darmbewegung weiter verlangsamt. Andererseits können zu schnelle Darmkontraktionen zu einer Umkehrung des Transits von Essensbrei/Stuhl führen, so dass Patienten eher Verstopfungssymptomatiken anführen.

Schließlich fließen chronische Stoffwechselstörungen in das Darmgeschehen ein. Zu den klassischen Grunderkrankungen mit Störungen des Verdauungssystems gehört die Zuckerkrankheit. Neben einem Infekt können bestimmte Diabetesmedikamente wie zum Beispiel Metformin und Acarbose regelmäßig Durchfälle auslösen. Zudem wirken auch einige Zuckeraustauschstoffe bei übermäßigem Verzehr abführend. Des weiteren führt der überwiegend erhöhte Zuckergehalt des Blutes und der inneren Schleimhäute zu verstärkter Mikrobenbildung. Permanent vermehrter Bakterien- und Pilzbefall im Verdauungatrakt hat insofern eine dauerhafte Überreizung des Darms zur Folge. Nicht zuletzt können auch diabetische Nervenschäden die Darmtätigkeit beeinträchtigen.

Behandlung

Bei günstiger Symptomatik kann die Behandlung auf eine Diätberatung beschränkt bleiben. Bei verstopfungs-prädominantem RDS können Abführmittel eingenommen werden, bei diarrhoe-prädominantem Reizdarmsyndrom dagegen die Abfuhr hemmende Wirkstoffe. Die Wirksamkeit verschiedener anderer Ansätze, wie Pfefferminzöl, Ballaststoffe oder krampflösende Medikamente belegt eine neue Meta-Untersuchung bekannter Studien.[3]

Als empfehlenswert haben sich wasserlösliche Ballaststoffe wie z. B. Flohsamenschalen herausgestellt. Auch pflanzliche Wirkstoffe wie Pfefferminzöl oder hochkonzentrierter Extrakt aus Melissenblättern haben sich bei Reizdarm bewährt. Es sind die darin auf den Darm beruhigend wirkenden ätherischen Öle, ebenso wie Alkaloide aus Nachtschattengewächsen (Wirkstoff: Butylscopolamin).[3]

Neuere Präparate wie Alosetron und Tegaserod, die zurzeit (August 2011) in Deutschland noch nicht zugelassen sind, werden von der Pharmaindustrie heftig beworben, ihr Nutzen im klinischen Alltag muss sich jedoch erst zeigen. Der Hersteller Novartis hat in den USA den Verkauf des Medikamentes Zelnorm® (Wirkstoff: Tegaserod) gestoppt, das seit Juli 2002 zur Behandlung des Reizdarmsyndroms (Colon irritabile) zugelassen war. Grund ist eine aktuelle Auswertung von Studienergebnissen, die ein erhöhtes Risiko von kardiovaskulären (Herz-Kreislauf) Komplikationen gegenüber einem Placebo ergab.

Psychotherapie ist eine Behandlungsform für das Reizdarmsyndrom bei den Patienten, bei denen eine psychische Komorbidität besteht. Allerdings sind viele Patienten nicht bereit, eine solche Therapie zu beginnen. Es gibt unterschiedliche Psychotherapie-Formen, wobei die Wirkung oft unabhängig von der Therapieform ist (Psychoanalyse, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, Verhaltenstherapie, Hypnose, Gesprächstherapie, Gruppentherapie). Auch der Gebrauch von Antidepressiva ist eine Möglichkeit, z. B. Amitriptylin in niedriger Dosierung. Sie unterdrücken die Schmerzen und wirken sich bei manchen Patienten positiv auf die Darmmotilität aus.

Ist durch einen Wasserstoff- und Methanatemtest nach Verabreichung von Mehrfachzuckern (Laktulose, aber auch Laktose und Fruchtzucker) eine Dünndarmfehlbesiedlung nachgewiesen worden, kann diese auf verschiedene Weisen behandelt werden. Ein Ansatz ist hochdosierte Antibiotikabehandlung mit Rifaximin (Xifaxan).[4] Studien zeigen eine positive Wirkung für einen Zeitraum [5]. Allerdings kommen die Symptome meistens wieder, weil die Antibiotika zwar die Ursache der Symptome, nicht aber die Ursache für die Dünndarmfehlbesiedlung selbst beseitigen, so dass diese nach einer Zeit wieder auftaucht. Die Zeit bis zum erneuten Ausbruch der Symptome kann mit Gabe von Tegaserod deutlich hinausgezögert werden.[6]

Wenn das Rifaximin wegen Bakterienresistenzen nicht anschlägt, schlagen Ärzte am Cedars Sinai Medical Center eine Diät mit ausschließlich Vivonex vor, einer künstlichen Ernährung aus kurzkettigen Nährstoffen. Weil die Nährstoffe sehr schnell im Dünndarm absorbiert werden, haben die Bakterien keine Zeit, diese zu verstoffwechseln und werden regelrecht "ausgehungert".[7]

Sind die Bakterien im Dünndarm für die Symptome verantwortlich, so können mehrere Maßnahmen Linderung verschaffen. Diät, die auf Oligosaccharide (Zucker, Früchte, Weizenmehl, Alkohol) und viele Polysaccharide (Ballaststoffe) verzichtet, vermindert die Symptome bedeutend. Allerdings muss diese ärztlich begleitet werden, weil sie die Patienten einer großen Gefahr von Fehlernährung aussetzt. Weil der Darm den Transit von Essen nur dann durchführt, wenn kein Essen sich im Magen befindet, sollten die Mahlzeiten (drei am Tag) mit genügend Abstand eingenommen werden, und alle Knabbereien zwischendurch wirken kontraproduktiv. Des Weiteren wirken sich regelmäßiger Sport und ein gesunder geregelter Schlafrythmus positiv auf die Steuerung der Darmbewegung aus.

Epidemiologie

Die Punktprävalenz in westlichen Ländern beträgt ca. 10–20 % bei einer wesentlich höheren Lebenszeitprävalenz. Die Prävalenz in Indien, Japan und der Volksrepublik China ist ähnlich. In Thailand und dem ländlichen Südafrika ist das Reizdarmsyndrom weniger häufig. In westlichen Ländern (aber z. B. nicht in Indien oder Sri Lanka) haben Frauen ein höheres Risiko, am Reizdarmsyndrom zu erkranken, als Männer.

Die meisten Personen mit Reizdarmsyndrom suchen keine medizinische Hilfe auf. Es lässt sich bisher nicht vorhersagen, welche der Erkrankten Hilfe aufsuchen werden.

Prognose

Das Reizdarmsyndrom ist weder mit der Entwicklung ernsthafter Darmerkrankungen noch mit einer eingeschränkten Lebenserwartung verbunden. Dennoch kann die Lebensqualität im Einzelfall stark eingeschränkt sein, u. a. durch ständige Schmerzen, unangenehme Stuhlgewohnheiten, Krankschreibungen und durch die Entwicklung sozialer Phobien.

Siehe auch

Literatur

  • Thompson WG, Longstreth GL, Drossman DA et al. (2000). Functional Bowel Disorders. In: Drossman DA, Corazziari E, Talley NJ et al. (eds.), Rome II: The Functional Gastrointestinal Disorders. Diagnosis, Pathophysiology and Treatment. A Multinational Consensus. Lawrence, KS: Allen Press.
  • I. B. Jeffery, P. W. O'Toole u.a.: An irritable bowel syndrome subtype defined by species-specific alterations in faecal microbiota. In: Gut. [elektronische Veröffentlichung vor dem Druck] Dezember 2011, ISSN 1468-3288. doi:10.1136/gutjnl-2011-301501. PMID 22180058.

Quellen

  1. Nase im Darm. Meldung bei Scienceticker.info vom 12. Juni 2007
  2. Mark Pimentel, MD. 2005: "A New IBS Solution: Bacteria - The Missing Link in Treating Irritable Bowel Syndrome, Health Point Press
  3. 3,0 3,1 Ford AC et. al. Effect of fibre, antispasmodics, and peppermint oil in the treatment of irritable bowel syndrome: systematic review and meta-analysis. BMJ 2008;337:a2313 PMID 19008265
  4. In Deutschland, England und Niederlanden zugelassen als Mittel gegen Reisedurchfall
  5. Mark Pimentel, MD: Rifaximin Therapy for Patients with Irritable Bowel Syndrome without Constipation, New England Journal of Medicine 2011;364:22-32.
  6. Mark Pimentel, MD: Low-Dose Nocturnal Tegaserod or Erythromycin Delays Symptom Recurrence After Treatment of Irritable Bowel Syndrome Based on Presumed Bacterial Overgrowth, Gastroenterol Hepatol (N Y). 2009 June; 5(6): 435–442.
  7. Mark Pimentel, MD 2005: A New IBS Solution: Bacteria - The Missing Link in Treating Irritable Bowel Syndrome, Health Point Press

Weblinks