Residualton


Residualton oder Residuum (von lat. residuum „Rest“, englisch: virtual pitch) ist ein von F. J. Schouten eingeführter Begriff für ein psychoakustisches Phänomen. Bei der Präsentation eines akustischen Signals in Form einer periodischen Schwingung, bei der der Grundton nur sehr schwach oder gar nicht vorhanden ist, ergibt sich trotzdem eine Tonhöhenwahrnehmung, die diesem fehlenden Grundton entspricht. Auch von der Klangfarbe her wird das Fehlen des Grundtons oft weniger deutlich empfunden, als zu erwarten wäre. Diesen „hinzugefügten“ Grundton bezeichnet man als Residualton.

Erklärung

Datei:Residualton Sinus.jpg
Die Überlagerung zweier Schwingungen (z. B. 200 Hz und 300 Hz) ergibt eine Schwingung mit der Frequenz des Residualtons von 100 Hz

Es gibt zwei wesentliche Effekte. Zum einen wertet das Gehör stets nicht nur das Frequenzspektrum, sondern auch die Periode des akustischen Signals aus, wenn die Grundfrequenz nicht zu hoch ist. Bei einem harmonischen Obertonspektrum bleibt die Periode des Zeitsignals erhalten, selbst wenn der Grundton entfernt wird. Aus der Auswertung der Periode ließe sich somit der Grundton rekonstruieren.

Zur Methode, wie das Gehör die Periode des Zeitsignals bestimmen kann, gibt es mehrere Erklärungsansätze:

  1. Nichtlinearitäten der Basilarmembranschwingungen im Innenohr – Im Innenohr läuft eine Wanderwelle die Basilarmembran entlang. Hohe Frequenzen führen direkt am Anfang der Basilarmembran zu einer Resonanzstelle und regen dort die Haarzellen an. Tiefe Frequenzen erzeugen dagegen erst am Ende der Basilarmembran eine Resonanzstelle und erregen dort die Haarzellen. Treten während des Durchlaufs der Wanderwelle durch die vorderen höheren Frequenzbereiche Nichtlinearitäten auf, so könnten hierdurch z. B. Differenzfrequenzen zu den vorhandenen Frequenzen erzeugt werden. Diese Differenzfrequenzen könnten dann zu einer Basilarmembran-Resonanz an der Stelle des Grundtons führen und dort die Haarzellen anregen
  2. Nichtlinearitäten bei den Haarzellen im Innenohr – Da die Frequenzselektivität der Haarzellen nicht besonders hoch ist, liegen dort jeweils die Frequenzen mehrerer Obertöne vor. Es ergibt sich ein Misch-Signal, dessen Hüllkurve die Periode des Grundtons besitzt. Da die Umsetzung in Nervenimpulse deutlich nichtlinear ist (Halbwellengleichrichter), ergibt sich bei nicht zu hohen Frequenzen ein Pulsmuster in den Kanaldaten mit der Periode des Grundtones.
  3. Zum anderen ist die mechanische Impedanztransformation im Mittelohr durch Hammer, Amboss und Steigbügel ein Hebelsystem, und somit zwingend nichtlinear. Auf diesem Wege bilden sich sofort Differenztöne, die bei einer periodischen Schwingung auch auf der Frequenz des fehlenden Grundtons liegen. Schon beim Eintritt in das Innenohr ist also der in der Luftschallwelle vor der Ohrmuschel noch messbar fehlende Ton physikalisch wieder vorhanden.

Anwendung

Orgelbau

Dieses Phänomen wird seit langem im Orgelbau eingesetzt: Bei gleichzeitigem Einsatz des 8-Fuß und des 51/3-Fuß, der eine Quinte darüber liegt, hört man den 16-Fuß, also eine Oktave unter dem 8-Fuß. So lässt sich ein fehlender Grundton simulieren, indem zwei Tonerzeuger auf der Oktave und der reinen Duodezime zu dem real nicht vorhandenen Grundton gleichzeitig erklingen. Bei der Orgel wird so z. B. ein 32'-Register gespart, indem ein (vorzugsweise offenes) 16'-Labialregister mit einem (vorzugsweise gedeckten) 102/3'-Labialregister kombiniert wird.

Sonstige Instrumente

Bei Sackpfeifen und Drehleiern sind die Bordune oft im Quintabstand gestimmt, wodurch durch den daraus gebildeten Residualton eine zusätzliche Klangfülle entsteht.

Bei Glocken ist der Nominal/Schlagton physikalisch nicht messbar, wird aber trotzdem wahrgenommen, da er sich aus den Teiltönen Terz, Oktave und Duodezime bildet.

Einfluss tiefer Töne auf den Höreindruck

Aus der Möglichkeit des Gehörs, den Grundton einer streng periodischen Schwingung abzuleiten, selbst wenn dieser nur schwach oder überhaupt nicht übertragen wird, folgern manche, dass eine Übertragung tiefer Töne unnötig sei. Dieses ist jedoch eine zu begrenzte Sichtweise.

So ist z. B. beim Telefon die untere Frequenzgrenze bei 300 Hz, der Grundtonbereich erwachsener Sprecher also ausgeblendet. Die Tonlage der Stimme wird jedoch vom Gehör erkannt. Allerdings geht das Merkmal der Klangfarbe dabei verloren, der Klang einer Telefonstimme unterscheidet sich erheblich vom Original.

Auch manche billige Mikrophone können oft nur Frequenzen ab etwa 100 Hz aufnehmen.

Ein streng periodisches Signal ist ein mathematischer Grenzfall, der i. a. in der Natur nicht anzutreffen ist und nur mit elektronischen Mitteln hinreichend genau dargestellt werden kann. Daher gibt es bei Schallereignissen i. d. R. auch nichtperiodische oder geräuschhafte Anteile, bei denen von einem Grundton schon theoretisch gar nicht die Rede sein kann. Am Telefon ist daher die Erkennung von Umweltgeräuschen sehr schwierig.

Fehlen bei Übertragung die tiefen Töne, so sind z. B. bestimmte Instrumente im Orchester oder bestimmte Orgelregister gar nicht mehr hörbar, was den Charakter von Musik erheblich verändert. Dieses wird besonders deutlich, wenn von einer linearen Wiedergabe bis hinab zu 20 Hz direkt auf eine Hochpass-gefilterte Wiedergabe umgeschaltet wird.

Große Räume haben Moden die in diesen tiefen Bereichen liegen und die leise, von Umweltgeräuschen angeregt, stets mitklingen. Dieses macht einen großen Teil des Raumempfindens aus, das wir z. B. beim Betreten einer Kathedrale haben. Das Fehlen tieffrequenter Information verfälscht also auch das Raumempfinden.

Das Fehlen tiefer Töne ist also einer der Hauptgründe dafür, dass eine elektroakustische Wiedergabe oft nicht einmal entfernt wie die Originalsituation klingt.

Literatur

  • Thomas Görne: Tontechnik. 1. Auflage, Carl Hanser Verlag, Leipzig, 2006, ISBN 3-446-40198-9

Siehe auch

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