Reziproker Altruismus
Reziproker Altruismus ist eine Theorie, welche die Evolution von altruistischem Verhalten zwischen nichtverwandten Individuen durch natürliche Selektion erklären soll. Sie wurde 1971 von Robert Trivers veröffentlicht.[1]
Beschreibung und Voraussetzungen
Altruismus wird in der Regel als Verhaltensweise eines Individuums zugunsten eines anderen Individuums definiert, wobei die Verhaltensweise dem altruistischen Individuum unmittelbar mehr Kosten als Nutzen einbringt. Einer solchen Definition steht nicht entgegen, dass altruistisches Verhalten langfristig positiv auf den Fortpflanzungserfolg (Fitness) des altruistischen Individuums oder mit ihm verwandter Individuen zurück wirkt. Eine Voraussetzung für die biologisch-evolutionäre Ausbildung jeden altruistischen Verhaltens ist jedoch, dass der Gesamtnutzen des altruistischen Verhaltens positiv ist.
Kennzeichen des spezifisch reziproken Altruismus zwischen nicht verwandten Individuen sind:[2]
- Das altruistische Verhalten ist zwischen den interagierenden Individuen ausgeglichen.
- In den reziproken Beziehungen wechseln die Individuen zwischen den Rollen des Gebers und des Empfängers.
- Der Gesamtnutzen des reziprok altruistischen Verhaltens übersteigt dessen Gesamtkosten.
Ein Tier kann auf eigene Kosten einem anderen Tier ohne Fitness-Nachteil einen Vorteil verschaffen, wenn der Nutznießer diesen Vorteil zu einem späteren Zeitpunkt erwidert. Voraussetzung ist ein Intelligenzniveau, das betrügerisches Verhalten identifizieren kann. Diese Voraussetzung ist wichtig, da altruistisches Verhalten aus evolutionärer Perspektive stets dafür anfällig ist, von nicht erwidernden Individuen ausgenutzt zu werden. Bestrafungen sind ebenfalls notwendig. Auch muss das Erinnerungsvermögen stark genug sein, um Betrüger wiederzuerkennen. Aufgrund dieser Voraussetzungen funktioniert der reziproke Altruismus am besten bei intelligenten, sozialen und langlebigen Arten. Laut dem Biologen Robin Dunbar entwickelte sich die menschliche Sprache, da sie die Identifizierung von Betrügern erleichtert.[1]
Nichtmenschliche Primaten
Die meisten Primaten leben in stabilen sozialen Gruppen. Es ist nicht bekannt, ob Primaten die kognitiven Fähigkeiten besitzen, um sich an einzelne Verhaltensweisen anderer Individuen ihnen gegenüber zu erinnern. Primaten sind zumindest sehr intelligent und fähig, komplexe Probleme zu lösen. Reziproke Fellpflege und Bündnisse wurde bei mehreren Arten der Makaken, Paviane, grünen Meerkatzen und Schimpansen beobachtet. In manchen Fällen wurden Fellpflege und Unterstützung gegen Sachleistungen getauscht, in anderen Fellpflege gegen Unterstützung. Manche Affen wechseln sich bei der Fellpflege ab, so dass die Zeit während jeder Fellpflege-Phase zwischen Individuen ausbalanciert ist. Andere Affen balancieren diese Zeit über mehrere Fellpflege-Phasen hinweg.[2]
Bei männlichen Schimpansen scheinen soziale Bindungen auf reziprokem Austausch vieler verschiedener Leistungen zu basieren. Schimpansen im Kibale-Nationalpark teilen Fleisch selektiv mit den Individuen, die selbst Fleisch mit ihnen geteilt haben oder regelmäßig Unterstützung gewährleisten. Männchen, die zusammen jagen, tendieren zu selektiver gegenseitiger Fellpflege und Unterstützung sowie gemeinsamem Patrouillieren der Grenzen. Diese Männchen sind nicht verwandt. Diese Korrelationen sind konsistent mit der Theorie des reziproken Altruismus, beweisen jedoch nicht, dass diese altruistischen Verhaltensweisen durch Reziprozität bedingt sind. Mehrere Studien haben dies jedoch nahegelegt.[2]
In einem Experiment wurden grünen Meerkatzen auf Tonband aufgenommene Hilferufe anderer Meerkatzen vorgespielt. Das Vorspielen erfolgt in zwei verschiedenen Situationen. In der ersten Situation hatte Meerkatze A zuvor Meerkatze B das Fell gepflegt. Auf den abgespielten Hilferuf von Meerkatze A reagierte Meerkatze B vergleichsweise schnell. In der zweiten Situation hatte vorher keine Fellpflege stattgefunden. Auch hier reagierte Meerkatze B auf den abgespielten Hilferuf von Meerkatze A – allerdings langsamer.[2]
In einem weiteren Experiment von Frans de Waal wurden verschiedenen Individuen in einer Gruppe von Schimpansen über einen Zeitraum von drei Jahren mehrfach Bündel von Blättern gegeben. Die Individuen konnten diese Bündel für sich behalten; oft wurden die Bündel jedoch geteilt. Dabei waren die Besitzer der Bündel immer denjenigen Individuen gegenüber großzügiger, welche kurze Zeit vorher das Fell des Besitzers gepflegt hatten. Auch wehrten sich die Besitzer der Blätter weniger stark gegen Versuche von Individuen, sich Teile der Bündel anzueignen, wenn diese Individuen vorher das Fell des Besitzers gepflegt hatten.[2]
Die Zahl der gut dokumentierten Fälle von reziprokem Altruismus bei nichtmenschlichen Primaten ist insgesamt noch klein. Es ist daher möglich, dass solches Verhalten in der Natur selten ist. Reziproker Altruismus könnte jedoch häufiger vorkommen als beobachtet. Altruismus äußert sich potenziell auf diverse Arten (z. B. Fellpflege, Schutz vor Fressfeinden), und es ist sehr schwierig, die Kosten und Nutzen all dieser altruistischen Verhaltensweisen zu quantifizieren.[2]
Literatur
- Robert Trivers: The evolution of reciprocal altruism. In: Quarterly Review of Biology. Band 46, 1971, S. 35–57.