Singzikaden



Singzikaden

Tibicen linnei

Systematik
Überklasse: Sechsfüßer (Hexapoda)
Klasse: Insekten (Insecta)
Ordnung: Schnabelkerfe (Hemiptera)
Unterordnung: Rundkopfzikaden (Cicadomorpha)
Überfamilie: Cicadoidea
Familie: Singzikaden
Wissenschaftlicher Name
Cicadidae
Latreille, 1802
Gesang einer Singzikade
Singzikade Mannasingzikade (Cicada orni) auf Stahlseil, Griechenland
Gut getarnte Singzikade Mannasingzikade (Cicada orni) auf Baumrinde, Kroatien
Magicicada septendecim mit vorgewölbten Facettenaugen und zu einem Dreieck angeordnete Punktaugen, USA.
Singzikade von unten (Indien, unbestimmt), gut sichtbar der Saugrüssel.
Bau des „Singapparates“ der Singzikaden, Querschnitt durch den Hinterleib im Bereich des ersten Segmentes von vorn.
Schlupflöcher
Larvenhaut Exuvie von Lyristes plebejus; gut sichtbar die Grabbeine
Graptopsaltria nigrofuscata, Japan.
Frisch geschlüpfte Graptopsaltria nigrofuscata.
Eine Singzikade aus Uganda.

Singzikaden (Cicadidae) sind eine Familie innerhalb der Unterordnung der Rundkopfzikaden (Cicadomorpha). Die Insekten sind in der Lage durch Stridulation von Menschen hörbare Laute zu produzieren. Dazu verfügen sie über speziell ausgebildete Trommelorgane (Tymbale). Auf ihre artspezifischen und damit bestimmungsrelevanten Gesänge nimmt die deutsche Bezeichnung Bezug. Dass die Gesänge hauptsächlich von den Männchen ausgehen, war schon den alten Griechen bekannt und verleitete den griechischen Dichter Xenarchos zu dem Ausspruch: „Glücklich leben die Zikaden, denn sie haben stumme Weiber“.

Die Vertreter dieser Familie gehören aufgrund ihres Gesanges, ihrer oft auffälligen Färbung und ihrer Größe zu den bekanntesten Zikaden. Beispielsweise erreicht die indomalayische Kaiserzikade (Pomponia imperatoria) 11 Zentimeter Körperlänge und eine Flügelspannweite über 22 Zentimeter. Bezeichnungen wie „Schwarzer Prinz“, „Kirschnase“, „Rotauge“ oder „Grüner Kaufmann“ geben einen Eindruck von der auffälligen Färbung australischer Singzikaden[1].

Verbreitung

Mit mehr als 4000 bekannten Arten sind die wärmeliebenden Singzikaden weltweit, vorwiegend aber in den Tropen und subtropischen Zonen verbreitet. Die größten Vertreter dieser Familie leben in Indien, Südchina und den Großen Sundainseln. In Europa kommen sie mit über 60 Arten überwiegend im Mittelmeergebiet vor, wobei etwa 13 bis 14 Arten in thermisch besonders begünstigte Regionen Mitteleuropas vordringen.

In Deutschland, Österreich und der Schweiz sind folgende Arten nachgewiesen[2]:

  • Cicadetta montana (Bergsingzikade)*, Deutschland, Österreich, Schweiz
  • Tibicina haematodes (Weinzwirner)*, Deutschland, Österreich, Schweiz
  • Cicada orni (Mannasingzikade)*, Deutschland, Österreich
  • Lyristes plebejus (Große Zikade)**, Österreich, Schweiz
  • Cicadetta tibialis, Österreich
  • Cicadatra atra (Schwarze Zikade)**, Schweiz
  • Tibicina quadrisignata, Schweiz

deutsche Namen nach *Nickel & Remane 2002[3], **Gogala 2002[4]

Morphologische Merkmale

Die Färbung der Zikaden ist meist der Umgebung so gut angepasst, dass sie vom Laien kaum in der Vegetation erkannt werden. Die Tiere sind ein- oder mehrfarbig. Es überwiegen Erdtöne, wie Braun, Schwarz, Grün, Gelb- und Orangetöne. Der Körperbau der Singzikaden ist meist gedrungen. Während die Männchen der Kaiserzikade (Pomponia imperatoria) Körperlängen bis zu 11 Zentimetern und Flügelspannweiten von über 22 Zentimetern erreichen können, misst die kleinste bekannte Singzikade Panka parvulina lediglich 1,4 Zentimeter mit einer Flügelspannweite von etwa 2,4 Zentimetern. Die Weibchen haben einen mehr oder weniger langen Legebohrer (Ovipositor), der den Hinterleib spitz erscheinen lässt. Der Hinterleib der Männchen ist stumpf abgerundet und je nach Art unterschiedlich getönt.

Der Halsschild (Pronotum) ist gedrungen und kurz. Er verdeckt weniger als die Hälfte der Mittelbrust (Mesothorax). Der Kopf ist groß. Die erwachsenen Tiere haben deutlich seitlich hervorgewölbte Komplexaugen (Facettenaugen). Sie verfügen über drei Punktaugen (Ocelli), die sich im Dreieck angeordnet auf der Stirn (Frons) befinden. Dieses Merkmal unterscheidet sie von allen anderen Zikadenarten, die über nur zwei Ocelli verfügen oder deren Punktaugen völlig zurückgebildet sind. Die zwischen den Augen ansetzenden, deutlich gegliederten Fühler sind sehr kurz. Sie bestehen aus je zwei dicklichen Grundgliedern und einer fünfgliedrigen, schlanken Fühlerborste. Auffällig ist der blasenartig vorgewölbte Kopfschild, der durch mehrere Querrillen und Falten gekennzeichnet ist. An der Unterkante des Gesichts entspringt der Saugrüssel (Rostrum), der in Ruhestellung an den Körper geklappt zwischen den Hüften (Coxa) liegt.

Die Vorderflügel werden in Ruhestellung in für Zikaden charakteristischer Weise dachförmig zusammengelegt. Sie überragen stets den Hinterleib (Abdomen). Die gut entwickelte und stark ausgeprägte Aderung der hyalinen, ganz, teilweise oder gar nicht pigmentierten Vorderflügel ist je nach Art verschiedenfarbig. Teilbereiche der Adern sind abweichend gefärbt und bilden zusammen mit der unterschiedlichen Architektur der Nervatur ein Artunterscheidungsmerkmal. Die Flügel sind von einem aderfreien Raum umgeben. Unter den Vorderflügeln liegen die kleineren, einfacher geformten, häutigen Hinterflügel. Sie werden jederseits im Flug durch Häkchen am Vorderrand des Hinterflügels miteinander gekoppelt.

Die Schenkel (Femora) der Vorderbeine erwachsener Tiere sind, im Gegensatz zu den normal gestalteten Mittel- und Hinterbeinen, deutlich verdickt und bedornt. Die Vorderbeine der Larven sind in Anpassung an ihre unterirdische Lebensweise zu Grabbeinen entwickelt. Singzikaden haben kein Sprungvermögen wie andere Vertreter der Rundkopfzikaden.

Die Männchen besitzen ein Trommelorgan (Tymbal) an den Seiten des ersten Hinterleibssegmentes, hinter dem Ansatz der Hinterflügel. Durch ansetzende Muskeln (Singmuskel) werden nach außen gewölbte, durch Rippen verstärkte Schallplatten in Schwingungen versetzt. Diese liegen frei (Tibicininae) oder sind durch einen von der zweiten Rückenplatte des Außenskelettes (Tergit) ausgehenden Schalldeckel bedeckt (Cicadinae). Das Geräusch entsteht durch Eindellen (Muskelzug) und Zurückspringen (Eigenelastizität). Direkt unter dem Singmuskel sorgt ein großer Luftsack im hohlen Hinterleib für die notwendige Resonanz. Mit Hilfe dieser Organe können Laute bis 900 Hertz und Lautstärken bis 120 dB erzeugt werden. Auf der Abdomenunterseite beider Geschlechter befinden sich Gehörorgane (Tympanale). Die paarigen Organe bestehen aus einer hauchdünnen Membran, die Schwingungen aufnimmt. Zusätzlich zu den speziellen Trommelorganen besitzen einige Vertreter der Familie weitere Stridulationsorgane, bei denen zwei Teile aneinander gerieben werden und Schall erzeugen.

Ernährung und Atmung

Alle Singzikaden sind Xylemsauger. Mit Hilfe ihres Rüssels stechen die erwachsenen Tiere die Leitungsbahnen verschiedener Gehölze und krautiger Pflanzen an und saugen den an Nährsalzen und Wasser reichen Pflanzensaft. Die unterirdisch lebenden Larven saugen den Saft von Pflanzenwurzeln.

Die innere Anatomie und die Physiologie der Singzikaden entspricht weitgehend jenem der Insekten. In Anpassung an die spezielle Ernährung verfügen Singzikaden wie alle Rundkopfzikaden jedoch über eine besondere Konstruktion des Verdauungstraktes, um überschüssiges Wasser beziehungsweise Kohlenhydrate abzugeben. Der sehr wasserreiche Pflanzensaft der Leitungsbahnen (Xylem) ist im Gegensatz zum zuckerreichen Phloemsaft deutlich ärmer an Nährstoffen, weshalb Singzikaden, die sich ausschließlich hiervon ernähren, sehr viel davon aufnehmen müssen. Im Darm der Pflanzensaftsauger existiert eine Filterkammer, die eine Übergangsregion zwischen Vorder- und Mitteldarm und dem Hinterdarm herstellt. Sie ermöglicht die direkte Ableitung des überschüssigen Wassers in den Enddarm und der Nahrungssaft wird vor dem Eintritt in den Mitteldarm verdickt. Ferner sind die Zentren der für Insekten typischen Strickleiternervensysteme bei den Rundkopfzikaden nur noch im Kopf und in der Brust vorhanden; der Hinterleib wird vom Nervenzentrum der Brust versorgt[5].

Ebenso erfolgt die Atmung bei fast allen Insekten über das Tracheensystem. Sonderstrukturen sind aber offenbar bei den Larven des letzten Entwicklungsstadiums (L5) einiger afrikanischer Arten der Singzikaden entwickelt, die zum Leben in Flüssigkeit übergegangen sind (z.B. Muansa clypealis, Ugada limbalis, Orapa elliotti). Bei ihnen ist der Hinterleib zum Luftholen und -festhalten umgestaltet. Der Hinterleib ist mit einer flüssigkeitsabweisenden Oberfläche ausgestattet. Auf der Körperoberfläche befindet sich eine Luftschicht, die ab und an durch das Herausstrecken des Hinterleibes aus der Flüssigkeit erneuert wird. Offenbar handelt es sich bei der Flüssigkeit nicht um Grund- oder Regenwasser, sondern um die wasserreichen Ausscheidungen der Larve selbst, welche sich in dem Boden mit kolloidalen Eigenschaften ansammeln und nicht versickern können.

Lauterzeugung

Der typische Gesang der Singzikaden, der manchen aus einem Urlaub am Mittelmeer bekannt ist, ähnelt jenem von Heuschrecken oder Grillen. Obwohl alle Zikadenarten Schall- bzw. Erschütterungswellen zur Kommunikation von sich geben, ist nur die Mehrzahl der Vertreter der Cicadidae in der Lage, für Menschen hörbare Laute zu produzieren. Der Gesang der Männchen dient vor allem der Anlockung der Weibchen, er wird jedoch auch zur Festsetzung von Reviergrenzen eingesetzt. Es sind ferner Protest- und Alarmlaute bei Berührung bekannt. Es ist noch nicht geklärt, warum die Männchen tagsüber oder in der Dämmerung fast ununterbrochen singen. Manche untermalen ihren Gesang noch zusätzlich mit Flügelklick-Signalen. Die Weibchen sind meist stumm. Jene einiger Arten sind aber in der Lage, ein kurzes klickartiges „Ja“, das durch spezielle Flügelschläge entsteht, im Paarungsverhalten auszusenden.

Die meisten Arten produzieren Laute im für den Menschen deutlich hörbaren Bereich. Manche Arten dagegen erzeugen einen Frequenzbereich an der oberen Hörgrenze eines jungen gesunden Menschen. Die Gesänge sind artspezifisch und lassen sich anhand von Oszillogrammen und Sonagrammen beschreiben. Sie können zur Arterkennung herangezogen werden.[4]

Fortpflanzung, Entwicklung und Lebenszyklus

Schlupf einer Singzikade

Die durch die Gesänge angelockten Weibchen fliegen zu den singenden Männchen. Bei den übrigen Arten der Rundkopfzikaden ist es umgekehrt die Regel. Dort sind meist die Weibchen stationär. Zur Paarung versammeln sich die Tiere oft in großer Zahl in Bäumen, Sträuchern oder auch in der niederen Vegetation. Über das Werbe- und Paarungsverhalten ist insgesamt nur wenig bekannt.

Die Kopulation erfolgt indem sich das Männchen von der Seite dem Weibchen nähert und seine Hinterleibsspitze unter die des Weibchens schiebt und seinen Penis (Aedeagus) von unten an der Basis des Legeapparates (Ovipositor) in eine, nur bei Zikaden dieser Familie entwickelten Kopulationsöffnung einführt. Es wird vermutet, dass die Paarung mehrmals wiederholt wird. Danach sucht das Weibchen dünne Zweige von Gehölzen oder Stängel krautiger Pflanzen, um seine ovalen Eier in, mittels seiner kräftigen Legesäge gebohrten Löcher, zu legen. Die Siebzehnjahr-Zikade (Magicicada septendecim) legt auf diese Weise 400 bis 600 Eier im Verlauf eines Monats.

Nach fünf bis acht Wochen ist die Embryonalentwicklung abgeschlossen. Die Junglarven sprengen die Eihülle und schlüpfen aus der Einstichöffnung heraus, wobei sie die Emryonalhülle abstreifen. Sie fallen auf die Erde. Von nun an leben die gelblichen oder weißlichen Larven grabend im Boden. Dazu verfügen sie über kräftige, zu Grabbeinen entwickelte Vorderbeine, deren sehr kurze Schenkel (Tibien) verdickt und bedornt sind. Die Larven saugen an Wurzeln. Haben sie eine geeignete Nahrungsquelle gefunden, legen sie sich eine Aufenthaltskammer an. Je nach Bodenverhältnissen sind die Larven zwischen 15 und 60 Zentimetern Tiefe zu finden. Zuweilen dringen sie sogar bis zu 3 Meter tief in den Boden ein.

Singzikaden sind hemimetabol, das heißt, sie durchlaufen fünf, durch Häutungen getrennte Larvenstadien (L1 bis L5), wobei sie dem erwachsenen Tier allmählich immer ähnlicher werden. Sie haben im Vergleich zum wenige Monate währenden Erwachsenenleben eine sehr lange Larvalentwicklungszeit. Diese dauert bei den Cicadidae von neun Monaten bis zu mehreren Jahren. Meist sind es zwei bis fünf Jahre. Bei den Singzikaden der in Nordamerika verbreiteten Gattung Magicicada sind es sogar 13 oder 17 Jahre. Sie zeichnen sich besonders durch regelmäßige Massenvermehrungen aus.

Gegen Ende der Entwicklung arbeiten sich die Larven in Richtung Erdoberfläche. Die Larven weniger Arten legen im Endstadium schlanke, zylindrische, bis zu 30 Zentimeter hohe Türmchen aus Erde an, um diese nach etwa drei Wochen durch ein Ausgangsloch zu verlassen. Einige Arten leben in wassergefüllten Röhrchen und sind morphologisch entsprechend angepasst (s. oben). Über die genaue Funktion dieser Bauten ist bis heute nichts bekannt. Möglicherweise können nur so, die für den Abschluss der Entwicklung nötigen Umweltbedingungen erreicht werden. Die zum Schlüpfen bereiten Larven klettern dann bei günstiger Witterung und oft bei Nacht an Bäumen und Sträuchern hoch, klammern sich fest und nach kurzer Zeit schlüpfen die Vollinsekten.

Schlupf von Lyristes plebejus

Phylogenie und Systematik der Cicadidae

Phylogenetische Beziehungen der Cicadoidea innerhalb der Cicadomorpha (nach Cryan Oktober 2005, vereinfacht)

Singzikaden existieren bereits seit dem Eozän, wie Einschlüsse (Inklusen) in Bernstein belegen[6].

Nach derzeitiger Auffassung sind die Cicadoidea neben den Membracoidea und den Cercopoidea eine Überfamilie der Rundkopfzikaden (Cicadomorpha). Eine umfassende phylogenetische Analyse der Überfamilie der Cicadoidea anhand der Ermittlung der ribosomalen 18S-rDNA, 28S-rDNA und Histone3 bestätigt die Monophylie der Überfamilie. Sie umfasst die Familien der Singzikaden (Cicadidae) und der Tettigarctidae. Letztere beinhaltet lediglich zwei in Süd-Ostaustralien und Tasmanien beheimatete Arten.[7]

Die Singzikaden umfassen die Unterfamilien Cicadinae und Tibicininae, die zum Teil von manchen Autoren auch als eigene Familien aufgefasst werden. Die Taxonomie und Artzuordnungen sind diesbezüglich noch nicht abschließend geklärt.

Mythologie, Kunst und Folklore

Schon seit Jahrtausenden sind Zikaden, und besonders die Singzikaden, ein Bestandteil der Mythologie, Kunst und Folklore. Ihre besondere Bedeutung ergibt sich vor allem aus ihrem Gesang, ihrer außergewöhnlichen Lebensweise, ihrer Allgegenwärtigkeit, ihrer Größe und ihrer Schönheit.

Zikaden in der Kultur verschiedener Völker

Aus brauner Jade gefertigte Zungenzikade der Han-Dynastie (206-220 v. Chr.)
Toulouhou
Münze aus Athen: Links Athene, rechts eine Eule und links von ihr eine Singzikade
Münze aus Athen: Kennzeichnung der Singzikade

Singzikaden bildeten in verschiedenen Völkern die Grundlage für zahlreiche Legenden und Mythen. Die mythologische Bedeutung beschränkte sich dabei auf mehrere Regionen, in denen auch heute noch Singzikaden vorkommen. Diese sind das antike Griechenland, das alte China und Japan sowie Nordamerika. In Afrika und im alten Ägypten scheinen die Singzikaden keine Rolle in der Vorstellungswelt der Menschen gespielt zu haben. Sie wurden als Sinnbild für die menschliche Seele verehrt sowie als Symbol für die Unsterblichkeit, der Wiedergeburt, ein langes Leben zum Teil auch der Erotik angesehen.

Aristoteles (384-322 v. Chr.) beschrieb bereits im 2. Jahrhundert v. Chr. zumindest in Grundzügen die Lebensweise der Singzikaden. Man glaubte damals in Griechenland, dass die erwachsenen Zikaden keine Nahrung zu sich nehmen würden. In Griechenland sind erste plastische Darstellungen der Tiere bereits aus prähistorischer Zeit bekannt. In Gräbern der Stadt Mykene (2000 v. Chr.) fand man die Modelle von flügellosen Insekten, die als Zikadenlarven interpretiert werden. Die Grabbeigaben deuten auf die Bedeutung der Zikaden als Symbole für die Unsterblichkeit und ein langes Leben hin. Singzikaden sind jedoch als Metaphern für die Sangeskunst und Eloquenz (Musen) und die Unsterblichkeit noch viel tiefer in der Vorstellungswelt der Griechen verwurzelt gewesen. Nach einem Text des Philosophen Platon (429-347 v. Chr.), dem Phaidros, geht man davon aus, dass Zikaden als Botschafter der Musen gleichbedeutend zu „entkörperlichten Seelen“ aufgefasst wurden. Sie sollen sich von den physischen Bedürfnissen (=Abstreifen der Larvenhaut) befreit haben und damit eine höhere Ebene der Erkenntnis erreicht haben. Damit wurden Zikaden offenbar als ein „Model der menschlichen“ Seele angesehen.

In China existieren verschiedenen Darstellungen und Ornamente mit Zikadenmotiven auf Gegenständen, die bis etwa 1500 v. Chr. datieren. Seit der Han-Dynastie (206-220 v. Chr.), möglicherweise schon vorher, gibt es Nachweise für sogenannte „Zungenzikaden“. Die aus Jade geschnitzten Figuren wurden auf die Zunge von Verstorbenen gelegt, in der Hoffnung auf deren Wiedergeburt.

Die Ureinwohner der Neuen Welt beobachteten das eigentümliche periodische Wiederkehren von Singzikaden (Gattung Magicicada) und integrierten das Phänomen in ihre Mythologie. Die in Arizona lebenden Hopi-Indianer (Oraibi) sprachen den Tieren die Kraft der Unsterblichkeit zu. Solche übernatürlichen Kräfte wurden als Kachina bezeichnet. Diese wurden in Form geschnitzter Puppen zur religiösen Unterweisung an Kinder verschenkt. Eine wurde „Mahu“ (Zikade) genannt. Sie wird auch heute noch in Tänzen und Zeremonien verehrt.

Literatur, Musik und bildende Kunst

In der Literatur (Gedichte, Fabeln und Erzählungen) spielen die Zikaden eine bedeutende Rolle. Abgehoben wird überwiegend auf die Zikaden als Sänger oder als Sinnbilder für Musik und Kunst aber auch als Lärmverursacher.

Singzikaden und ihre Gesänge werden bereits in den frühesten schriftlichen Werken, der „Ilias“ von Homer (800 v. Chr.) erwähnt. Die Aspekte der griechischen „Zikaden-Mythologie“ sind in dem Gedicht „An die Zikade“ von Anakreon verarbeitet. Es handelt sich um eine wahrscheinlich aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. stammende Hymne an die „gottgleichen“ Singzikaden. Das Gedicht erfreute sich auch in späterer Zeit großer Beliebtheit. Es wurde beispielsweise von Thomas Moore und Johann Wolfgang von Goethe übersetzt. Erwähnt werden im deutschsprachigen Raum die Zikaden in den Gedichten von Heinrich Heine „Die Libelle“ („...Und mit der Cikade, der Künstlerinn...“) oder in Karl Leberechts Epos „Tulifäntchen“ („...Zu der Tulpe Füßen spielte/ der tonkundigen Zikaden/ auserwählte Kapelle/ Stücke von den besten Meistern...“). Wenig freundlich geht Eugen Roth in seinem Gedicht „Die Zikaden“ um: „Es lobe hoch Anakreon/ Das Flöten der Zikaden schon./ Doch leicht wird´s einem nachts zuviel: O unglückseliges Flötenspiel! “ Ein weiteres modernes Gedicht ist jenes von Dao (2001) „Streichen und Kürzen“, welches auf die vom Zirpen der Singzikaden ausgehenden melancholische Stimmung abzielt.

Die wohl bekannteste Fabel ist jene, die auf den griechischen Fabeldichter Äsop (600 v. Chr.) zurückgeht. Sie wurde von Sebastian Brant im Jahr 1501 in der Version „De formica et cicada“ herausgebracht und von dem Franzosen La Fontaine (1621-1695) 1668 in Versform mit dem Titel „La Cigale et la Fourmi“ gebracht. Beide Autoren sprechen ausdrücklich von einer Zikade, während in deutschen und englischen Übersetzungen späterer Autoren Bezeichnungen wie „Heuschrecke“, „Grille“ oder „grasshopper“ verwendet werden. Entsprechend werden auch in vielen zeitgenössischen Illustrationen, besonders jenen der oben genannten Autoren Brant und La Fontaine, Grillen oder Heuschrecken statt Singzikaden abgebildet. Der Grund dieser Verwechslung der Zikaden mit anderen „singenden“ Insekten wird darin vermutet, dass die Singzikaden hauptsächlich im Mittelmeerraum beheimatet sind. Sie waren den Illustratoren, Lesern und vielleicht auch Autoren in Mitteleuropa wenig bekannt oder es war einfach kein vergleichbarer Begriff vorhanden. Die Singzikaden wurden demnach bewusst oder unbewusst durch die in Mitteleuropa besser bekannten Arten ersetzt, da die richtige Artbezeichnung ohnehin für die Botschaft der Fabel, bereits im Sommer für den Winter vorzusorgen, keine Rolle spielt.

Der auffällige Gesang der Insekten legt nahe, dass sie auch in der Musik eine größere Rolle spielen. Dennoch sind nur relativ wenige Musikstücke bekannt, die Zikaden zum als Motiv haben. Der schweizer Komponist Ulrich Gasser verfasste 1989 das Stück „Die singenden Zikaden“ für Flöte und drei Klangsteine. Wassili Leps setzte eine Zikaden-Drama „Yo-Nennen“ in Form einer Kantate. Aufbauend auf ein Gedicht des Griechen Anakreon „An die Zikade“ (siehe oben) komponierte der deutsche Komponist Harald Genzmer (1909–2007) das gleichnamige Stück.

Besonders viele Beispiele von Liedern und Gedichten, die Zikaden zum Gegenstand haben, sind aus Südfrankreich zu nennen. Vor allem in der Provence werden Singzikaden als Ausdruck des leichten, mediterranen Lebensgefühles symbolhaft verwendet und in Volksliedern besungen. Beispiele für Zikaden in Chansons sind „Aussi bien que les cigales“ oder „La mort de la cigale“. Auch in die moderne Folks-, Pop- und Unterhaltungsmusik haben Zikaden Einzug gehalten. Melancholisch besingt beispielsweise Linda Ronstadt in ihrem Song „La Cigarra“ die Zikaden und spielt damit auf deren kurzes Leben an.

In Asien und Südeuropa existiert ein bei Kindern beliebtes Musikinstrument, dass als „Zikade“ oder „Toulouhou“ bezeichnet wird. Damit werden die Gesänge von Singzikaden nachgeahmt oder zumindest schnarrende Geräusche erzeugt. An einem Stock mit einer konischen, mit Kolophonium bestrichenen Nut verläuft in die Schlinge einer Schnur. Am anderen Ende der Schnurr ist eine Dose mit einer aufgespannten Membran befestigt. Durch Herumwirbeln wird das Instrument zum Klingen gebracht, wobei die Schnur in der Nut durch das Harz abwechselnd haftet und gleitet. Die Geräusche werden über die Schnur auf die Membran übertragen, die Dose wirkt als Resonanzkörper.

Älteste bildliche Darstellungen stammen aus China und Japan auf Gefäßen und Seidenpapier. In der Kunst der neueren Zeit ist vor allem van Gogh zu nennen, der mehrere Zeichnungen von Singzikaden anfertigte. Bei den Künstlern der japanischen Faltkunst Origami sind auch Singzikaden ein beliebtes Motiv. Eine Singzikade kann mit 95 Faltschritten aus einem Stück Papier hergestellt werden.

Volkskunst und Alltag

Die Insekten waren und sind vielfach Bestandteil von Schmuckgegenständen. Im antiken Griechenland wurden nicht nur Münzen mit Zikadenmotiven geprägt, sondern die Bürger Athens trugen auch Goldschmuck, wie beispielsweise Haarnadeln mit Ornamenten in Zikadenform. Später galten sie als Symbol für die Autonomie Athens, da die frühesten Vorfahren, den Zikaden gleich, aus dem angestammten Boden „entschlüpften“. Bei den Goten und den Römern galten Zikaden als Symbole für Macht. Auch bei ihnen wurde Schmuck mit Zikadenmotiven als Statussymbol getragen. Im Mittelalter trugen Troubadoure, wahrscheinlich als Ausdruck ihrer Zunft, Zikadenbroschen.

Napoleon im Krönungsmantel

Dem Grab des ersten Frankenkönigs Childerich I. († 482 n. Chr.), beziehungsweise seinem mitbestatteten Lieblingspferd, wurden 300 zikadenförmige Schmuckstücke beigegeben. Bei der Entdeckung des Grabes im 17. Jahrhundert wurden sie zunächst für „Bienen“ und als Besatz des königlichen Mantels gehalten, waren aber Bestandteil und Verzierung des Pferdegeschirrs. Heute geht man davon aus, dass es sich um Zikaden handelt und möglicherweise auch um Singzikaden. Napoleon (1769-1821) war von den Grabbeigaben so beeindruckt, dass er in Unkenntnis der einstigen Bedeutung seinen Krönungsmantel mit 300 goldenen „Bienen“ besticken ließ.[8]

Besonders weitverbreitet sind die Singzikaden im Alltag der Menschen in der Provence. Als Ausdruck des leichten mediterranen Lebensgefühls begegnet man hier den Tieren in der povenzialischen Kultur in vielfältiger Form, beispielsweise auf Gasthausschildern, als Willkommenssymbol über Haustüren, in Form kleiner Tonfiguren und Fayencen, als Darstellungen auf Vasen und Geschirr oder Broschen. In vielen weiteren Ländern und Regionen der Welt finden sich Abbildungen von Singzikaden auf Briefmarken und anderen Alltagsgegenständen.

Singzikaden wurden und werden auch in der Medizin eingesetzt. Vor allem in China und Japan wurden die Larvenhäute verwendet, um daraus ein Mittel, ironischerweise gegen Ohrenschmerzen, herzustellen. Heute noch werden aus Zikaden Präparate gegen Fieber gewonnen. Im Orient wurde die Zikade Huechys sanguinea („Rote medizinische Zikade“) für ein Mittel gegen Blasen eingesetzt. Von dem Glauben ausgehend, Zikaden wären unsterblich, nutzten auch die Oraibi-Indianer eine Medizin aus diesen Tieren gegen tödliche Verletzungen.

In der Ernährung spielen Zikaden, vor allem Singzikaden, auch heute noch eine Rolle. Zikaden haben 153 Kalorien pro 100g, ähnlich wie gebratenes Hühnchen. Weltweit sind 73 essbare Zikadenarten bekannt, darunter auch etliche Singzikadenarten. Bei den Tabare Sine einem Volk, das im Hochland von Papua-Neuguinea lebt, gelten die dort beheimateten Singzikaden als Delikatesse (Cosmopsaltria papuensis, Cosmopsaltria aurata, Cosmopsaltria mimica, Cosmopsaltria gigantea gigantea). Die Zikaden tragen in der volkseigenen Sprache Bezeichnungen wie beispielsweise „Dui helme“ oder „Dui meh“. Ferner sind die Singzikaden mit ihrem Gesang soweit im Alltag der Menschen verwurzelt, als dass sie ihre Aktivitäten wie Feldarbeit und Jagd nach den durch den Gesang der Zikaden gekennzeichneten Tageszeiten richten. Beispielsweise beginnen sie mit ihren Jagdvorbereitungen, wenn der Gesang von „Dui erangrre“ (C. mimica) ertönt. Wenn „Dui wave“ (C. gigantea gigantea) singt, ist es Zeit in den Wald zu gehen und zu jagen, da dann auch alle anderen Tiere aktiv sind. „Dui wave“ bedeutet in etwa „Cuscus schließt die Tür“ und nimmt auf den Gesang des Insektes, das sich wie eine sich schließende Tür anhört, Bezug.[9]

Quellen und weiterführende Informationen

Literatur

  • R. Achtziger & U. Nigmann: Zikaden in Mythologie, Kunst und Folklore. In: Denisia 4, S. 1-16, 2002, ISBN 3-85474-077-8
  • M. Boulard: Diversité des Auchénorrhynques Cicadomorphes Formes, couleurs et comportements (Diversité structurelle ou taxonomique Diversité particulière aux Cicadidés). In: Denisia 4, S. 171-214, 2002, ISBN 3-85474-077-8
  • W. Westheide & R. Rieger (Hrsg.): Spezielle Zoologie, Teil 1: Einzeller und Wirbellose Tiere. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart, Jena, New York, 1996. S. 650-651, ISBN 3-437-20515-3

Einzelquellen

  1. M. S. Moulds: Australien Cicadas. - New South Wales University Press 1999, NSW.
  2. W. E. Holzinger, I. Kammerlander & H. Nickel: The Auchenorrhyncha of Central Europe - Die Zikaden Mitteleuropas. Volume 1: Fulgoromorpha, Cicadomorpha excl. Cicadellidae. - Brill, Leiden 2003, ISBN 90-04-12895-6
  3. H. Nickel & R. Remane: Artenliste der Zikaden Deutschlands, mit Angabe von Nährpflanzen, Nahrungsbreite, Lebenszyklus, Areal und Gefährdung (Hemiptera, Fulgoromorpha et Cicadomorpha). – Beiträge zur Zikadenkunde 5/2002. pdf 229 kB
  4. 4,0 4,1 M. Gogala: Gesänge der Singzikaden aus Südost- und Mittel-Europa. In: Denisia 4, S. 241-248, 2002, ISBN 3-85474-077-8
  5. R. Remane & E. Wachmann: Zikaden – kennenlernen, beobachten – Naturbuch Verlag, Augsburg 1993. ISBN 3-89440-044-7
  6. A. Stroinski & J. Szwedo: An overview of Fulgoromorpha and Cicadomorpha in East African copal (Hemiptera). In: Denisia 4, S. 57-66, 2002, ISBN 3-85474-077-8
  7. J. R. Cryan: Molecular phylogeny of Cicadomorpha (Insecta: Hemiptera: Cicadoidea, Cercopoidea, and Membracoidea): adding evidence to controversy. Systematic Entomology 30 (4), Oktober 2005, Seite 563-574.
  8. E. Kysela: Zikaden als Schmuck- und Trachtenbestandteil in Römischer Kaiserzeit und Völkerwanderungszeit. In: Denisia 4, S. 21-28, 2002, ISBN 3-85474-077-8
  9. M. Mogia: Traditional uses of cicadas by Tabare Sine people im Simbu province of Papua New Guinea. In: Denisia 4, S. 17-20, 2002, ISBN 3-85474-077-8

Weblinks

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