Hochsensibilität


Hochsensibilität (deutsche Terminologie uneinheitlich; auch: Hochsensitivität, Hypersensibilität oder Überempfindlichkeit) ist ein Phänomen, bei dem Betroffene stärker als der Populationsdurchschnitt auf Reize reagieren, diese viel eingehender wahrnehmen und verarbeiten. Bis heute existiert jedoch keine eindeutige und anerkannte neurowissenschaftliche Definition des Phänomens, was Hirnforscher auf die noch in den Kinderschuhen steckende HS-Forschung zurückführen.[1] Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Hochsensibilität wurde von der US-amerikanischen Psychologin Elaine N. Aron 1997 erstmals eingeleitet, ihre Werke gelten als der Grundstein der HS-Forschung.

Wissenschaftliche Erklärungsansätze

Zwar existiert zurzeit eine reiche empirische Kenntnis des Phänomens an sich, jedoch keine anerkannte neurophysiologische Theorie, welche die Ursache der Hochsensibilität beschreibt. Als wahrscheinlich wird eine erblich bedingte spezielle neuronale Konstitution genannt. Gelegentlich werden Vergleiche mit Hochbegabung und Synästhesie gezogen. E. Aron bringt als Beleg die Zwillingsforschung an, welche unter anderem eine signifikante familiäre Häufung der HS erkennen lasse. Die Vorstellung, es handele sich um eine „psychische Störung“ oder „Krankheit“, wird abgelehnt.

Erklärt wird diese von Aron sensory processing sensitivity genannte höhere Empfindlichkeit durch eine besondere Konstitution der Reize verarbeitenden neuronalen Systeme.[2] Dabei handelt es sich nicht um eine von Aron von Grund auf entdeckte Theorie – bereits J. Kagan, A. Miller, C.G. Jung und I.P. Pawlow beschäftigten sich mit der Erscheinung der erhöhten Sensivität innerhalb der menschlichen Spezies, ohne jedoch jemals eine fundierte theoretische Basis zu schaffen. Zum Phänomen der HS gibt es zur gegenwärtigen Zeit mehrere Erklärungsansätze:

  • Die Gehirnteile und Neuronenverbünde, welche für die Dämpfung der Erregungspotentiale zuständig sind, seien aus bestimmten (wahrscheinlich genetischen) Gründen weniger stark ausgebildet, so dass die Erregung des zerebralen Kortex deutlich höher ist als bei anderen Individuen.[3]
  • Der Thalamus funktioniere bei hochsensitiven Personen (HSP) anders als bei nicht-hochsensitiven Personen, so dass mehr Reize als „wichtig“ eingestuft werden und damit das Bewusstsein erreichen.[4] Es gibt außerdem organische Hinweise, die als erhöhte thalamische Aktivität gedeutet werden können: Die von Aron beschriebenen Phänomene wie erhöhter Cortisolspiegel, stärkere Empfindlichkeit gegenüber Schlafmangel, Koffein, Hunger- und Durstgefühlen hängen hirnorganisch mit dem Hypothalamus zusammen.

Der Effekt ist, dass die Sinnesorgane zwar nicht mehr Informationen als durchschnittlich aufnehmen, dafür aber weniger Sinneseindrücke aus der Wahrnehmung herausgefiltert werden. Gemäß Aron sei in jeder Population von Lebewesen ein bestimmter Prozentsatz hochsensibel, was durch die daraus resultierende höhere Überlebenswahrscheinlichkeit der gesamten Art erklärt werden könne, da einzelne Phänotypen aufgrund höherer Sensibilität risikoscheuer seien und bspw. daher bei neuen, unbekannten Gefahren ein Verlust der kompletten Gattung vermieden werden könne.[5] Die von Aron genannte Zahl von 15 bis 20 Prozent Highly Sensitive Persons (kurz: HSP) in den menschlichen Gesellschaften wird allerdings regelmäßig in Frage gestellt. Die bereits von I.P. Pawlow gewonnenen Erkenntnisse deuten jedoch darauf hin, dass die HS als Eigenschaft ebenfalls im Tierreich zu finden ist und somit eher auf sehr grundlegenden neuronalen Vorgängen fußt.

Allgemeine Merkmale

Die Bandbreite möglicher Erscheinungsformen von Hochsensibilität wird als sehr groß dargestellt: Praktisch jeder Sinneseindruck könne stärker und damit detaillierter wahrgenommen werden;[6] häufig wird auch von höherer Intensität des Empfindens von Stimmungen der Mitmenschen berichtet. Intellektuell erfahre man sich zum Teil als intensiver und gründlicher analysierend, mit einer Affinität zur Spiritualität. Die in diesem Zusammenhang auftretende und intensiv diskutierte Frage des Verhältnisses von Hochsensibilität zu Hochbegabung ist noch ungeklärt. Dennoch lassen sich objektiv viele HS-typische Eigenschaften festlegen, welche von E. Aron erstmals systematisch aufgeführt wurden.

  • intensives Empfinden und Erleben

Die Reize werden tiefer, intensiver und detaillierter wahrgenommen und gespeichert. Oft wird diese Eigenschaft mit bloßer Nervosität und Empfindlichkeit verwechselt, jedoch ist die Ähnlichkeit rein äußerlicher Natur. Die Überempfindlichkeit im profanen Sinne ist meist eine persönliche unverhältnismäßig starke Reaktion auf Reize, die nicht mit erhöhter Bandbreite der Wahrnehmung eingehen muss, was bei einer HSP (hochsensitive Person) fast immer der Fall ist.[7] Die bloße Empfindlichkeit und Reizbarkeit ist also kein Kriterium für Hochsensibilität.

  • ausgeprägte subtile Wahrnehmung (vielschichtige Fantasie und Gedankengänge)
  • erhöhte Schmerzempfindlichkeit
  • detailreiche Wahrnehmung
  • hohe Begeisterungsfähigkeit, sehr vielseitige Interessen
  • sehr ausgeprägtes Langzeitgedächtnis
  • psychosoziale Feinwahrnehmung (Befindlichkeiten, Stimmungen und Emotionen anderer Menschen werden leichter und detaillierter erkannt)
  • stärker beeinflussbar durch Stimmungen anderer Menschen
  • ausgeprägtes intuitives Denken
  • langer emotionaler „Nachklang“ des Erlebten
  • Denken in größeren Zusammenhängen
  • ausgeprägter Altruismus, Gerechtigkeitssinn
  • Harmoniebedürfnis, Gewissenhaftigkeit
  • Intensives Erleben von Kunst und Musik
  • Perfektionismus
  • meist vielschichtige komplexe und stabile Persönlichkeit (Instabilitäten wie bei Borderline, bipolaren Störungen, Psychosen o.ä. sind kein Merkmal der HS; dennoch können solche als Folge einer psychischen Erkrankung durchaus präsent sein)

Durch die verstärkte Reizaufnahme und ihre tiefere Verarbeitung ergeben sich im Großen und Ganzen Charaktereigenschaften, die Introversion, unreflektiertes Schließen von sich auf andere, intensives Erleben der zwischenmenschlichen Beziehungen, starke Reaktionen auf Medikamente, Alkohol und Koffein sowie Anfälligkeiten gegenüber Stress, Leistungsdruck und Zeitknappheit beinhalten. Der häufig postulierte Zusammenhang zwischen Introversion und HS ist jedoch nicht eindeutig, eine Gleichsetzung der beiden Eigenschaften ist also eher als vereinfachendes Schubladen-Denken zu betrachten, genauso wie die Zuschreibung von Schüchternheit und Ängstlichkeit. Es gibt empirische Evidenz dafür, dass die Konzepte der sozialen Introversion, negativer Emotionalität, Gehemmtheit und Schüchternheit vom Konzept der Hochsensibilität zu trennen sind.[8] Die Korrelation dieser Konzepte ist dahingehend zu deuten, dass die HS bei biografisch vorbelasteten Menschen (psychische Traumata, familiäre Konflikte, schwierige Sozialisation) die Entstehung der Introversion, Gehemmtheit und negativer Emotionalität begünstigt.

Die hohe Informationsdichte, welche das Gehirn zu bewältigen hat, kann unter Umständen zur Überlastung der geistigen und psychischen Kapazitäten führen, welche allgemein als Reizüberflutung bezeichnet wird. Dieses Phänomen wird ebenfalls in Verbindung mit dem Autismus und Asperger-Syndrom beobachtet, was häufig zu Verwechslungen und pauschalen Zuordnungen führen kann. Tatsache ist jedoch, dass die Symptomatik des Autismus sich grundlegend von der HS unterscheidet; alle Autisten haben ausgeprägte Beeinträchtigungen des Sozialverhaltens, insbesondere nonverbale Kommunikation und Kontakt mit anderen Menschen gestalten sich schwierig – also primär jene Sachen, die gerade zu den Stärken des HSP gehören. Anders als bei Autismus und Asperger-Syndrom gibt es keine Hinweise auf Entwicklungsstörungen im Gehirn eines HSP, laut Aron ist das Verhalten und die Entwicklung der HSP, denen der Umgang mit ihrer Sensivität sehr früh beigebracht wurde, im Vergleich zu durchschnittlichen Menschen nicht signifikant unterscheidbar.

Validität

Mangels entsprechender Forschung sind sowohl die Validität des Terminus als solchem wie auch nähere Einzelheiten weitgehend ungeklärt. E. Aron hat einen HS-Test ausgearbeitet, der heute in der Psychologie zur empirischen Erfassung der HSP Verwendung findet. Ohne eine abgeschlossene neurowissenschaftliche Theorie bleiben jedoch viele methodische Unklarheiten.

Ein Teil der sich als hochsensibel wahrnehmenden Menschen erlebt bei Kontakt mit dem Konzept ein Gefühl der starken Erleichterung (ähnlich der „Doppelenttäuschung“ nach C. G. Jung;[9]). Auch ist zu hören, „ein Stein falle vom Herzen“ („Gebirgsketteneffekt“)[10], da man erstmals nicht mehr das Empfinden habe, „von einem anderen Stern“ zu sein.[11] Als Quelle der wahrgenommenen Andersartigkeit wird maßgeblich die Unverträglichkeit der eigenen Belastungsgrenzen mit dem für Zeitgenossen typischen Lebensstil genannt. Derartige subjektive Selbstwahrnehmungen sind für die wissenschaftliche Validität jedoch irrelevant.

Grundsätzlich gibt es keine primären Auffälligkeiten, welche die HS als eine „Abweichung“ oder „Störung“ klassifizieren würden. Zum besseren Verständnis ist die Parallele zur Synästhesie hilfreich; durch bildgebende Verfahren wurde nachgewiesen, dass Synästhesie nichts mit „blühender Fantasie“ oder „psychotischen Halluzinationen“ zu tun hat, sondern mit einer neuralen Besonderheit in der Verschaltung des limbischen Systems, welche in der Regel stabil über das ganze Leben erhalten bleibt. Auch für die Hochsensibilität wird eingefordert, sie sei eine solche intrinsische angeborene Fähigkeit, die sich weder unterdrücken noch „abschalten“ lässt. Es sei unpassend, HSP als „Betroffene“ oder „Erkrankte“ zu bezeichnen, genauso wie Synästhetiker oder Hochbegabte.

Neuerdings wird ein Zusammenhang zwischen Hochsensitivität und der Diagnose ADHS gesehen.[12]

Der Verein Informations- und Forschungsverbund Hochsensibilität (IFHS) ist der Meinung, dass veraltete Vorstellungen die korrekte HS-Erkennung und empirische Datenerhebung erschweren, und sieht Aufklärungsbedarf.[13]

Sozialisation und Gesellschaft

Den meisten HSP sind Charaktereigenschaften gemein, die aus einer intensiven Reizwahrnehmung resultieren. Zum einen ist dies ein grundsätzlich komplexes, detailreiches und emotional intensives Erfassen aller Sinnesdaten, zum zweiten die hohe Empfänglichkeit für die soziale Kommunikation, sowohl verbal als auch nonverbal. Die sinnlichen Wahrnehmungen, Befindlichkeiten der Menschen, eigene Gedanken und selbst weit hergeholte Zusammenhänge liegen in einer sehr hohen „geistigen Auflösung“ vor, so dass die eigentliche Datenmenge sehr viel höher ist (digitale Bilder als Vergleich; gleiches Bild mit höherer Auflösung benötigt mehr Speicherplatz) und die Verarbeitung und Integration dieser Information viel Zeit und Energie benötigt. Das emotionale Hineinversetzen in andere Menschen geschieht oft automatisch und unfreiwillig, so dass ein simples Ignorieren nicht möglich ist, was letztendlich die Anfälligkeit gegenüber Reizüberflutung ausmacht. All diese Eigenschaften bewirken, dass die HSP in ihrer Umwelt Zusammenhänge und Ereignisse wahrnehmen können, die bei durchschnittlichen Menschen aus dem Bewusstsein „herausgefiltert“ werden und somit nicht zur Verfügung stehen. Dadurch ergeben sich zwangsläufig Missverständnisse bei der Kommunikation mit anderen Menschen, gewöhnlich zu Lasten der Nicht-Hochsensitiven, da die HSP bei Unkenntnis ihrer speziellen geistigen Konstitution zu leicht von sich auf andere schließen und damit ihre Gesprächspartner überfordern.

HSP fallen in der Gesellschaft zusätzlich dadurch auf, dass sie selbst scheinbar unbedeutenden Sachen große Bedeutung beimessen. Der Hang zur Gewissenhaftigkeit, Detailverliebtheit und die Wertschätzung der sozialen Kommunikation erfordert Zeit, Akribie und eine ruhige Atmosphäre, die nicht immer gegeben ist. Bei Leistungsdruck und Tätigkeiten, die schnelle Entscheidungen erfordern, sind die HSP sehr häufig überfordert, eben aufgrund der Unmöglichkeit der geistigen Reduktion auf nur eine Aufgabe oder einen Wahrnehmungsbereich. Gemessen am Ideal der Leistungsgesellschaft ist es ein Nachteil, auch dadurch bedingt, dass die HSP oft typische Querdenker sind und in ihren Problemlösungsstrategien nicht den gesellschaftlichen Standards entsprechen, welche sie oft für zu primitiv und ineffizient halten. Aber auch im privaten Bereich ist Hochsensivität nicht unbedingt ein Vorteil; zwar bringt HS sehr enge zwischenmenschliche Beziehungen mit sich, dennoch ist es häufig der Fall, dass HSP bei Nicht-Hochsensitiven auf Unverständnis stoßen, nicht zuletzt, weil Hochsensitive dem Verhalten des Anderen oft zu viel Bedeutung beimessen und daraus mitunter sehr weitreichende Schlüsse ziehen. Oft korreliert HSP mit hohem Einfühlungsvermögen (Empathie).[14] Dabei besteht immer die Gefahr der Entfremdung von anderen Menschen, da diese die Sichtweise der HSP selten nachvollziehen können, so dass oft die Vereinsamung der HSP schon relativ früh einsetzt.

Es gibt jedoch mindestens genauso viele HS-Eigenschaften, welche heute als positiv bewertet werden. HSP fallen oft schon im Kindergarten auf, da sie meistens über eine sehr ausgeprägte und blühende Fantasie und komplexe „innere Welten“ verfügen, sie haben oft herausragende soziale und psychologische Fähigkeiten und beherrschen mitunter sehr exotische Methoden zur Lösung von Problemen, bei denen die Standardmethoden versagen (z. B. Schlichtung von komplexen Konflikten). Das ausgeprägte Langzeitgedächtnis, welches meist recht früh in der Kindheit einsetzt, erlaubt ihnen umfangreiches Wissen anzuhäufen. Die meist stark ausgeprägte Orientierung in Raum und Zeit sowie scharfe Intuition bringen Vorteile mit sich, insbesondere für diejenigen Berufe, wo behutsames Handeln in unübersichtlichen Situationen (z. B. Botschafter, Psychotherapeut) erwünscht ist.

Literatur

  • Aron, E. N., & Aron, A. (1997). Sensory-processing sensitivity and its relation to introversion and emotionality. Journal of Personality and Social Psychology, 73, 345-368.
  • Aron, E. N., Aron, A., & Davies, K. M. (2005). Adult Shyness: The Interaction of Temperamental Sensitivity and an Adverse Childhood Environment. Personality and Social Psychology Bulletin, 31, 181-197.
  • Benham, G. (2006). The highly sensitive person: Stress and physical symptom reports. Personality and Individual Differences, 40, 1433–1440.
  • Klages, W.: Der sensible Mensch. Psychologie, Psychopathologie, Therapie. Enke Ferdinand Verlag © 1991
  • Evers, A., Rasche, J., & Schabracq, M. J. (2008). High sensory-processing sensitivity at work. International Journal of Stress Management, 15, 189-198.
  • Hofmann, S. G., & Bitran, S. (2007). Sensory-processing sensitivity in social anxiety disorder: Relationship to harm avoidance and diagnostic subtypes. Journal of Anxiety Disorders, 21, 944-954.
  • Jerome, E. M., & Liss, M. (2005). Relationships between sensory processing style, adult attachment, and coping. Personality and Individual Differences, 38, 1341–1352.
  • Kemler, D. S. (2006). Sensitivity to Sensoriprocessing, Self-Discrepancy, and Emotional Reactivity of Collegiate Athletes. Perceptual and Motor Skills, 102, 747-759.
  • Liss, M., Timmel, L., Baxley, K., & Killingsworth, P. (2005). Sensory processing sensitivity and its relation to parental bonding, anxiety, and depression. Personality and Individual Differences, 39, 1429–1439.
  • Marletta-Hart, Susan (2009). Leben mit Hochsensibilität Aurum Verlag, Bielefeld. ISBN 978-3-89901-203-3
  • Meyer, B., Ajchenbrenner, M., & Bowles, D. P. (2005). Sensory sensitivity, attachment experiences, and rejection responses among adults with borderline and avoidant features. Journal of Personality Disorders, 19, 641-658.
  • Neal, J. A., Edelmann, R. J., & Glachan, M. (2002). Behavioural inhibition and symptoms of anxiety and depression: Is there a specific relationship with social phobia? British Journal of Clinical Psychology, 41, 361-374.
  • Smolewska, K. A., McCabe, S. B., & Woody, E. Z. (2006). A psychometric evaluation of the Highly Sensitive Person Scale: The components of sensory-processing sensitivity and their relation to the BIS/BAS and „Big Five“. Personality and Individual Differences, 40, 1269–1279.
  • Kagan. J.: Galens Prophecy; Temperament in human nature. New York Basic Books © 1994

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