Bisher ältestes Genom moderner Menschen rekonstruiert
Bio-News vom 07.04.2021
Team zweier Max-Planck-Institute und der Universität Tübingen datiert fossilen Schädel aus Tschechien anhand von eingekreuzten Neandertalergenen. Alter von mehr als 45.000 Jahren bestimmt.
Aus einem fossilen Frauenschädel, der 1950 am Berg Zlatý kůň (deutsch: Goldenes Pferd) in Tschechien gefunden wurde, hat ein Forschungsteam das bisher älteste bekannte Genom moderner Menschen rekonstruiert. Danach lebte die Frau vor mehr als 45.000 Jahren im Herzen Europas. Sie stammte aus einer später ausgestorbenen Population, die sich herausbildete, noch bevor sich die Vorfahren heutiger Menschen in europäische und asiatische Populationen trennten. Zum Team gehörten Forscherinnen und Forscher der Max-Planck-Institute (MPI) für Menschheitsgeschichte in Jena, für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und der Universität Tübingen. Ihre Studie erschien in der Fachzeitschrift Nature Ecology & Evolution.
Publikation:
Kay Prüfer, Cosimo Posth, He Yu, Alexander Stoessel, Maria A. Spyrou, Thibaut Deviese, Marco Mattonai, Erika Ribechini, Thomas Higham, Petr Velemínský, Jaroslav Brůžek, Johannes Krause
A genome sequence of a modern human skull over 45,000 years old from Zlatý kůň in Czechia
Nature Ecology & Evolution
DOI: 10.1038/s41559-021-01443-x
Vor rund 50.000 Jahren verließen moderne Menschen der Art Homo sapiens Afrika. Früheren Analysen alter DNA zufolge trafen sie im Gebiet des Nahen Ostens auf Neandertaler, mit denen sie sich kreuzten. „Als Folge tragen alle heutigen Menschen außerhalb von Afrika ungefähr zwei bis drei Prozent Neandertaler-DNA in sich“, berichtet Cosimo Posth, der vor Kurzem vom MPI für Menschheitsgeschichte als Juniorprofessor an die Universität Tübingen wechselte. In den Genomen moderner Menschen seien die Abschnitte der Neandertaler-DNA über lange Zeiträume immer kürzer geworden. „Über ihre Länge können wir abschätzen, wie viele Generationen zwischen der Vermischung mit Neandertalern und der Lebenszeit eines Individuums liegen“, erklärt Kay Prüfer vom MPI für evolutionäre Anthropologie. Das nun aus dem fast vollständig erhaltenen Frauenschädel von Zlatý kůň rekonstruierte Genom enthalte besonders lange Abschnitte der Neandertaler-DNA. Es müsse daher noch älter sein als das vormals älteste bekannte Genom des 2008 im russischen Dorf Ust-Ischim in Sibirien entdeckte Individuum, das auf ein Alter von rund 45.000 Jahren datiert wurde.
Neandertaler-Gene ermöglichen die Datierung
Die Forscherinnen und Forscher konnten abschätzen, dass die Frau von Zlatý kůň ungefähr 2.000 Jahre nach der letzten Kreuzung mit Neandertalern lebte. „Damit lebte sie zeitnäher zu diesem Ereignis als das Individuum aus Ust-Ischim. Sie ist mindestens genauso alt, wenn nicht sogar einige Hundert Jahre älter“, sagt Prüfer. Die Datierung des Frauenschädels gelang erst über die genetische Analyse. Frühere Altersbestimmungen anhand der Schädelform und über Radiokarbondatierungen von Knochenmaterial hatten ein deutlich geringeres Alter von 15.000 bis mehr als 30.000 Jahren ergeben – unter anderem auch deshalb, weil die Proben aus dem Schädelknochen mit einem Klebstoff aus Knochenleim durchsetzt sind, mit dem der Schädel einst stabilisiert wurde. Bei der Korrektur der Datierung arbeitete das Team mit Jaroslav Brůžek von der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Karls-Universität Prag und Petr Velemínský vom Prager Nationalmuseum zusammen.
Die Population, der die Frau von Zlatý kůň angehörte, muss später ausgestorben sein. „Weder das Individuum aus Zlatý kůň noch das Individuum aus Ust-Ischim und auch nicht ein mit Oase 1 bezeichneter sehr alter europäischer Schädel standen in genetischer Kontinuität mit modernen Menschen, die nach 40.000 Jahren vor heute in Europa lebten“, sagt Johannes Krause, Direktor am MPI für evolutionäre Anthropologie und Professor an der Universität Tübingen. „Es ist erstaunlich, dass die frühesten modernen Menschen in Europa sich nicht durchsetzen konnten“, kommentiert er diese Ergebnisse.
Unvollständiges Bild der Ereignisse
Als mögliche Erklärung nennt das Forschungsteam einen Vulkanausbruch im heutigen Kampanien vor 39.000 Jahren, der das Klima auf der Nordhalbkugel schwer beeinträchtigte und die Überlebenschancen von Neandertalern und frühen modernen Menschen in großen Teilen des eiszeitlichen Europas stark verringerte. Dass moderne Menschen bereits vor 47.000 bis 43.000 Jahren in Südosteuropa lebten, hatten im vergangenen Jahr veröffentlichte archäologische Daten nahegelegt. Doch weiß man bisher wenig darüber, wer diese frühen Siedler waren oder wie sie mit früheren oder heu-tigen Menschengruppen verwandt sind. Auch wissen die Forscher noch nicht, wie weit nach Westen diese frühen Menschen vordrangen, ob sie zum Beispiel auch die Höhlen auf der Schwäbischen Alb bewohnten, die einst zahlreichen Höhlenmenschen als Unterschlupf dienten. Die Forscherinnen und Forscher gehen davon aus, dass über künftige Fortschritte bei der Bearbeitung alter DNA mehr über die Geschichte der ersten modernen Menschen zu erfahren sein wird.
Diese Newsmeldung wurde mit Material der Eberhard Karls Universität Tübingen via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.