Der Lebensweg einer Gazelle in der Mongolei: Über 18.000 Kilometer!



Bio-News vom 16.03.2022

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben in der Mongolei die Bewegungsdaten einer weiblichen Gazelle ausgewertet. Über fünf Jahre konnte das Team die Wanderung des Tieres mittels GPS-Sender aufzeigen: Insgesamt legte die Gazelle über 18.000 Kilometer – eine halbe Erdkugelumrundung – in der mongolischen Steppe zurück. Die Daten geben wichtige Auskünfte zum Schutz der nomadischen Tiere.

Vom Erklimmen schneebedeckter Hügel, über Versuche einen tosenden Fluss zu überqueren bis hin zur Rückkehr in heimische Gefilde – die heute veröffentlichte Auswertung von GPS-Daten eines besenderten, mongolischen Gazellen-Weibchens lesen sich wie ein abenteuerlicher Reisebericht. „Im Oktober 2014 haben wir 15 Gazellen der Art Procapra gutturosa in der mongolischen Steppe mit GPS-Sendern ausgestattet“, erzählt Dr. Thomas Müller vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum Frankfurt und ergänzt: „Einer dieser Sender hat mit fünf Jahren ungewöhnlich lange gehalten. So konnten wir die Wanderungen der Gazelle über einen großen Teil ihres Lebens verfolgen.“


Eine weibliche mongolische Gazelle (Procapra gutturosa) mit Sender.

Publikation:


Dejid, Nandintsetseg, Olson, Kirk, Stratmann, Theresa S. M., and Mueller, Thomas
A Gazelle's Extraordinary, 18,000-km-Long Journey through the Steppes of Mongolia

Ecology e3660 (2022)

DOI: 10.1002/ecy.3660



Die aus den stündlichen GPS-Ortungen abgeleitete Gesamtstrecke zeigt, dass die Gazelle mehr als 18.000 Kilometer zurücklegte – etwa die Hälfte des äquatorialen Erdumfangs! Dabei durchquerte das Tier die östliche Mongolei mehrfach von Norden nach Süden. „Die Reise war aber nicht nur aufgrund ihrer beeindruckenden Distanz außergewöhnlich, sondern auch, weil sich die Gazelle häufig über Hunderte von Kilometern in unbekannte Regionen wagte. Während ihrer Reise besuchte sie viele Gebiete nur ein einziges Mal, andere Gebiete jedoch mehrfach in unregelmäßiger und unvorhersehbarer Weise“, erläutert Erstautorin und Senckenbergerin Dr. Nandintsetseg Dejid die Ergebnisse.

Ein wesentlicher Unterschied der Reise der Gazelle im Vergleich zu den Wegen anderer bekannter Huftiere, wie etwa den Maultierhirschen in den USA oder den Gnus im Serengeti-Mara-Ökosystem, besteht laut Autorinnen und Autoren-Team darin, dass bei der Gazelle keine regelmäßigen saisonalen Bewegungen zu erkennen sind. Sie kehren nicht jedes Jahr in dieselben Überwinterungs- und Kalbungsgebiete zurück. „Wir konnten zwar nur ein Tier über so einen langen Zeitraum beobachten. Da sich mongolische Gazellen aber meist in teilweise sehr großen Gruppen zusammenschließen, gehen wir davon aus, dass es sich bei den langen Distanzen nicht um einen Einzelfall handelt“, so Dejid.


Über fünf Jahre wurde die Wanderung der Gazelle mittels GPS-Sender aufgezeichnet: Insgesamt legte das Tier über 18.000 Kilometer in der mongolischen Steppe zurück.

Das erste Jahr der nomadischen Gazelle verlief relativ ereignislos. Das Tier hielt sich überwiegend in dem Gebiet auf, in dem die Forscherinnen und Forscher ihr das Halsband mit Sender umlegten. Im November 2015 trat die Gazelle dann – zunächst ohne ersichtlichen Grund – ihre Reise nach Norden an. Sie überquerte zwei große zugefrorene Flüsse bis sie, nach einer etwa 900 Kilometer langen Reise, schneefreies Gebiet nahe der russischen Grenze erreichte. Im darauffolgenden Frühjahr ging es wieder zurück Richtung Süden, wo ihr die Überquerung der – nun wasserführenden – Flüsse Ulz und Kherlen einige Schwierigkeiten bereitete. Auf dem Weg nach Süden verfolgte der Hornträger weder die ursprüngliche Route zurück, noch pausierte das Tier auf dem Breitengrad, von dem es kam. Stattdessen legte die Gazelle zum Kalben im Sommer eine kurze Pause in einem Schutzgebiet ein. Anschließend setzte sie ihre Reise nach Süden fort, bis sie schließlich im Dezember 2016 einen Abschnitt des Grenzzauns zu China erreichte. Anstatt in das vorherige Winterquartier im Norden zurückzukehren, überwinterte das Gazellen-Weibchen im Süden – 440 Kilometer Luftlinie vom Winterquartier des Vorjahres entfernt. Im Frühling 2017 zog sie zunächst nach Norden.

„Dann besuchte sie überraschenderweise genau denselben Ort, an dem wir sie vor drei Jahren zum ersten Mal gefangen hatten und dies sogar zur gleichen Jahreszeit“, berichtet Müller und fährt fort: „Im Frühjahr 2018 zog sie dann nach Süden und kehrte in die Region zurück, in der sie sich im Sommer 2017 aufgehalten hatte. Dort blieb sie bis zum Herbst 2018, bis sie sich erneut in unbekanntes Terrain wagte. Diesmal zog sie 90 Kilometer entlang des Grenzzauns zu China und absolvierte eine mehr als 400 Kilometer lange Schleife im südlichen Teil der Steppe, bevor sie schließlich im Januar 2019 in das Überwinterungsgebiet zurückkehrte, das sie zwei Jahren zuvor genutzt hatte. Im Anschluss war unsere Gazelle recht sesshaft und blieb fast ein Jahr lang in demselben Gebiet, bis das GPS-Gerät ihren Tod im August 2019 übermittelte.“ Das Halsband der Gazelle wurde in der Jurte eines Hirten gefunden, der berichtete, dass die Gazelle offenbar an einem Madenbefall an ihrer Hüfte gestorben war.

Die Studie zur mehrjährigen Reise der Gazelle verdeutlicht, wie wichtig es für nomadisierende Huftiere ist, durchlässige Landschaften zu erhalten. Dies ermöglicht den Tieren Nahrungsressourcen zu finden und lokalen Extremereignissen zu entgehen. „So sind beispielsweise hügelige Regionen, die schneefreie Flächen bieten, für das Überleben der Gazellen – zumindest in einigen Wintern – unerlässlich. Das zeigt wiederum, dass es keine unüberwindbaren Barrieren geben sollte, welche die nördlichen und südlichen Regionen der östlichen Steppe voneinander trennen“, resümiert Müller und gibt einen Ausblick: „Weitere Langzeitstudien sind notwendig, um die Navigationsmechanismen, die Gruppenkommunikation und die Zufluchtsorte dieser Tiere besser zu verstehen und ihnen so einen zuverlässigen Schutz zu bieten.“


Diese Newsmeldung wurde mit Material des Senckenberg Forschungsinstituts und Naturmuseen via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.


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