Differenzierung (Biologie)
Als Differenzierung (von lat. differre = sich unterscheiden) wird in der Entwicklungsbiologie die Entwicklung von Zellen oder Geweben von einem weniger spezialisierten in einen stärker spezialisierten Zustand bezeichnet. Die Differenzierung ist zusammen mit der Zellteilung verantwortlich dafür, einem mehrzelligen Lebewesen seine Form zu verleihen, die Gesamtheit dieses Prozesses wird als Morphogenese bezeichnet. Differenzierungsprozesse treten einerseits bei der individuellen Entwicklung eines vielzelligen Organismus auf, der sich aus einer Zygote zu einem komplexen Gebilde mit vielen verschiedenen Zelltypen und Gewebetypen entwickelt. Auch in ausgewachsenen Individuen spielen Differenzierungsprozesse wichtige Rollen bei der Aufrechterhaltung der Körperfunktionen.
Molekularbiologisch äußert sich die Differenzierung von Zellen darin, dass nicht das gesamte Genom exprimiert, also in Proteine umgesetzt, wird, sondern nur die für den jeweiligen Zelltyp benötigten Gene aktiv sind. Im Gegensatz zur kurzfristig variablen Genexpression, die zum Beispiel die Reaktion auf Hormone oder Stress erlaubt, stellt die Differenzierung also eine längerfristig stabile Form der Genregulation dar.
Differenzierung und Determination
Bei Lebewesen mit sexueller Fortpflanzung beginnt die Entwicklung mit einer einzigen Zelle, der befruchteten Eizelle (Zygote), welche alle Zelltypen des vollständigen Organismus hervorbringen kann. Diese Eigenschaft wird als „Totipotenz“ bezeichnet (von lat. totus - alles und potentia - Macht, Fähigkeit). Durch Zellteilung gehen aus dieser mehrere Tochterzellen hervor, die sich auf verschiedene Rollen spezialisieren.
Insbesondere bei Tieren geht dieser Vorgang mit der sogenannten Determination einher. Das bedeutet, dass die eingeschlagene Richtung der Spezialisierung auf nachfolgende Zellgenerationen auf epigenetischem Weg weitergegeben wird. Eine determinierte Zelle behält damit ihr Entwicklungsprogramm auch dann bei, wenn sie zum Beispiel an einen anderen Ort innerhalb des Organismus verpflanzt wird. Hierdurch schränkt sich die Potenz der Zelllinie immer weiter ein, von pluripotenten embryonalen Stammzellen (von lat. pluriens – mehrfach), welche alle Zelltypen des Embryos hervorbringen können, über multipotente Körperstammzellen („somatische Stammzellen“, lat. multus – viel bzw. gr. σῶμα soma - Körper), welche nur die Zelltypen eines bestimmten Gewebes hervorbringen können, bis zu irreversibel differenzierten, funktionellen Körperzellen. Diese verlieren meist die Teilungsfähigkeit und haben häufig nur eine begrenzte Lebensdauer.
Allerdings können Zellen unter bestimmten Umständen ihre Determination ändern (Transdetermination), ihre Differenzierung verlieren (Dedifferenzierung) oder sich nach einer Dedifferenzierung neu differenzieren (Transdifferenzierung). Diese Prozesse spielen zum Beispiel bei der Wundheilung und der Entstehung von Krebs eine Rolle.
In Pflanzen finden sich ebenfalls auf die Teilung und damit die Erzeugung neuer Zellen und Gewebe spezialisierte, sogenannte meristematische Zellen, allerdings sind auch ausdifferenzierte Zellen häufig nicht oder nur eingeschränkt determiniert und behalten die Fähigkeit, sich unter bestimmten Umständen, zum Beispiel nach Verwundung, erneut zu teilen und verschiedene Zelltypen hervorzubringen.
Regulation der Differenzierung
Der Weg der Differenzierung, also die Entscheidung, zu welchem Zelltyp eine Zelle sich entwickelt, hängt von verschiedenen äußeren und inneren Faktoren ab, zum Beispiel dem Einfluss von:
- Wachstumsfaktoren und Hormonen
- Nachbarzellen (Zellkontakte)
- Der Herkunft der Zelle aus ihren Vorläufern (Determination)
Quellen
- W. A. Müller, M. Hassel: Entwicklungsbiologie. Springer, Heidelberg 1999, ISBN 3-540-65867-X.
- L. Taiz, E. Zeiger: Physiologie der Pflanzen. Spektrum Akademischer Verlag, 2000, ISBN 3-8274-0537-8.