Pusher-Symptomatik


Klassifikation nach ICD-10
R29.3 Abnorme Körperhaltung
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Die Pusher-Symptomatik (auch Pusher-Syndrom oder Drucksymptomatik, von engl. to push = drücken) tritt bei Schlaganfällen bei Halbseitenlähmungen auf. Erstmals beschrieben wurde sie von der Physiotherapeutin Patricia M. Davies 1985[1]. Es handelt sich um eine Wahrnehmungsstörung für die aufrechte Körperposition des betroffenen Patienten.

Symptome

Die Symptomatik ist gekennzeichnet durch eine (objektiv scheinbar unbegründete) Angst des betroffenen Patienten im Sitz oder Stand, zur nichtgelähmten Seite zu fallen. Diesem Gefühl begegnet der Betroffene durch ein aktives Drücken („Pushen“) mit den nichtgelähmten Extremitäten zur gelähmten Seite (durch Abstützen durch den Arm in Streckung des Ellenbogengelenks, sowie durch Beinabspreizen mit Knie- und Hüftstreckung). Dies führt zur Seitwärtsneigung der Körperlängsachse zur gelähmten (paretischen) Seite bis hin zum Fallen zur paretischen Seite. Trotz objektiv deutlicher Störung besteht kein Bewusstsein für das Problem beim Patienten. Der Patient meint, aufrecht zu sitzen bzw. zu stehen. Gegen eine passive Korrektur der Seitneigung durch den Untersucher wird aktiver Widerstand (Verstärkung des Drückens) entgegengesetzt. Bei aktiven Handlungen der nichtgelähmten Extremitäten ist indes eine Unterbrechung des Pushens zu beobachten, ebenso bei fehlender fester Abstützfläche bzw. fehlendem Bodenkontakt.

Das aktive Drücken zur paretischen Seite unterscheidet die Pusher-Symptomatik von einem möglichen Gleichgewichtsverlust mit Fallen zur betroffenen Körperseite lediglich aufgrund einer Lähmung.

Es handelt sich um ein eigenständiges Phänomen, das nicht durch Neglect oder Anosognosie verursacht ist.[2]

Häufigkeit

Etwa 10 % aller Schlaganfallpatienten leiden an einer Pusher-Symptomatik. Es besteht keine Korrelation zu anderen Symptomen wie Neglect, Aphasie oder Apraxie. Es bestehen auch keine Unterschiede in Bezug auf das Alter, das Geschlecht oder die Händigkeit (Rechts- oder Linkshänder). Hingegen leiden 73 % der Pusher-Patienten auch an Sensibilitätsstörungen (im Vergleich zu 10-15 % aller Schlaganfallpatienten). Es gibt auch wider Erwarten keinen Unterschied zwischen rechts- und linksseitigen Schlaganfällen[3]. Eine scheinbare Häufung rechtshirniger Infarkte (2:1 laut Brandt/Dichgans[4]) ist durch begleitende räumlich-konstruktive Störungen des rechten Parietallappens bedingt, die verstärkend auf die Pushersymptomatik wirken (sog. „Chaos-Syndrom“ nach rechtshirniger Schädigung).

Pathogenese

Unter Laborbedingungen mit Ausschaltung der Möglichkeit des Drückens (seitliches Abstützen des Rumpfs, kein Bodenkontakt, Arme auf Oberschenkeln liegend) kann der Patient anhand der visuellen Kontrolle erkennen, ob er eine aufrechte Position einnimmt. Der Patient ist also kognitiv in der Lage, eine schiefe von einer senkrechten Lage zu unterscheiden. Er ist jedoch nicht in der Lage, eine beständige Korrektur durch visuelle Kontrolle aufrechtzuerhalten. Ohne visuelle Kontrolle auf einem seitlich kippbarem Sitz bewertet er indes eine um ca. 18° zur nichtgelähmten Seite geneigte Position als senkrecht. Die subjektive posturale Vertikale ist also verschoben. Einen Leuchtstab kann er indes im Dunklen jederzeit in eine erdvertikale Lage bringen. Die subjektive visuelle Vertikale ist demnach intakt. Da er bei Beleuchtung eine objektiv aufrechte Position seines Körpers erkennen kann, ist auch die visuell-vestibuläre Informationsverarbeitung intakt.

Die subjektive posturale Vertikale ist trotz intaktem visuell-vestibulären System verkippt. Ursächlich hierfür ist ein weiteres gravizeptives Zentrum zur Bestimmung der Orientierung des Körpers. (Gravizeption = Erkrennung der Erdvertikalen)

Ein kontraversives Drücken erfolgt offenbar aufgrund eines Missverhältnisses zwischen den gestörten posturalen und den intakten visuell-vestibulären Informationen. Unerwarteterweise erfährt der Patient bei einer Lage in der subjektiven posturalen Vertikalen (welche ja um 18° zur nichtgelähmten Seite geneigt ist) einen Gleichgewichtsverlust, den er durch das Drücken zur gelähmten Seite zu kompensieren sucht.

Lage der Schädigung im Gehirn

Kerngebiete des Thalamus

Bei betroffenen Patienten zeigt sich in der Magnetresonanztomographie oder der Computertomographie ein Maximum der Überlagerung der Befunde im Bereich des posterolateralen (hinteren und seitlichen) Thalamus, genauer den folgenden Kerngebieten des Thalamus[2]:

Mit einbezogen in dieses Maximum ist der benachbarte hintere Schenkel der Capsula interna, wodurch sich die gleichzeitige Hemiparese erklärt. Die Einbeziehung des VPL und VPM mit seinen lemniskalen Zuflüssen erklärt die Korrelation mit gleichzeitig vorhandenen Sensibilitätsstörungen.

Bei Patienten ohne Thalamusbeteiligung zeigte sich, dass kortikale Strukturen im Bereich der Inselrinde und des Gyrus postcentralis offenbar an der posturalen Gravizeption beteiligt sind.[5]

Therapie

Die Behandlung erfolgt physiotherapeutisch und ergotherapeutisch. Wichtig erscheinen sinnvolle Handlungen mit nichtgelähmten Extremitäten, um das Pushen zu unterdrücken. Notwendig ist eine Tonusminderung der nichtgelähmten Seite und eine Aktivierung der hypotonen gelähmten Seite mittels Rumpfbewegungen in Kombination mit Bewegungen der nichtparetischen Extremitäten. Letztlich ist das Ziel, das subjektive Gefühl der Schiefe auszuhalten. Weiterhin kann die visuelle Kontrolle zum Beispiel durch Feedbackverfahren vermehrt genutzt werden, um die gestörten posturalen Informationen zu kompensieren.

Auswirkungen und Prognose

Die Pusher-Symptomatik hat eine gute Prognose. Bei Nachuntersuchungen nach 6 Monaten zeigt sich eine vollständige beziehungsweise weitgehende Rückbildung bei nahezu allen Patienten.[6]
Das Ergebnis der Schlaganfall-Rehabilitation ist bezüglich Alltagskompetenz und Gehfähigkeit nicht prinzipiell schlechter als bei Patienten ohne Pusher-Symptomatik. Jedoch ist hierzu ein doppelt so langer (durchschnittl. um 3,6 Wochen längerer) stationärer Aufenthalt notwendig.[3].

Literatur

  • Karnath, Hans-Otto, Thier, Peter: Neuropsychologie. Springer Verlag, Berlin, 2. Auflage, 2006. ISBN 3540284486
    Der Volltext des Buchkapitels ist mit Abbildungen frei als .pdf verfügbar (279 KB).

Einzelnachweise

  1. Davies PM: Steps To Follow. A guide to the treatment of adult hemiplegia. 1985, Springer, New York ISBN 0387134360
  2. 2,0 2,1 Karnath HO, Ferber S., Dichgans J: The neural representation of postural control in humans. PNAS 2000;97:13931-13936 PMID 11087818 Volltext
  3. 3,0 3,1 Pedersen PM, Wandel A, Jorgensen HS, Nakayama H, Raaschou HO, Olsen TS: Ipsilateral pushing in stroke: incidence, relation to neuropsychological symptoms, and impact on rehabilitation. The Copenhagen Stroke Study. Arch Phys Med Rehabil 1996;77:25-28 PMID 8554469
  4. Brandt T; Dichgans J.; Diener HC: Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen. Kohlhammer Verlag, 5. Aufl. 2007, ISBN 3170190741
  5. Johannsen L, Broetz D, Naegele T, Karnath HO »Pusher syndrome« following cortical laesions that spare the thalamus. J Neurol 2006;253:455-463 PMID 16435080
  6. Karnath HO, Johannsen L, Broetz D, Ferber S, Dichgans J: Prognosis of contraversive pushing. J Neurol 2002;249:1250-1253 PMID 12242549