Biologische Artbildung mit Zwischenstufen



Bio-News vom 09.11.2020

Der Prozess der Aufspaltung einer Art in zwei neue Arten fasziniert die Biologie seit Jahrhunderten. Dass die Bildung von Arten jedoch nicht zwangsläufig in deren vollständiger Isolation enden muss, wie bisher oft vermutet, bestätigt eine soeben in der Fachzeitschrift „Evolution Letters“ veröffentlichte Studie an Zuckmücken. Vielmehr seien stabile Zwischenstufen möglich. Das bisherige Konzept der biologischen Art gerät damit auf den Prüfstand.

Die bisher vorherrschende Theorie legt nahe, dass vor allem regelmäßige Paarungen zwischen unterschiedlichen Gruppen einer Art verhindern, dass sich eine Art aufspaltet. Neuere Studien haben jedoch gezeigt, dass unter bestimmten Umständen trotz dieses fortwährenden Austauschs von Erbinformationen neue Artbildungen möglich sind. Bisher gibt es wenige Forschungsergebnisse dazu, wie weit verbreitet das Phänomen der Artbildung trotz nachgewiesenem Genfluss ist und in welchem Zeitraum sich eine neue Art entwickelt. Insbesondere ist unklar, ob ein Aufspaltungsprozess, einmal begonnen, früher oder später immer zu einer vollständigen genomischen und reproduktiven Isolation führt. Damit entwickelten sich – im Sinne des weithin anerkannten biologischen Artkonzepts – die auseinanderstrebenden Populationen zu eigenständigen Arten.


Zuckmücken der Art Chironomus riparius kommen in weiten Teilen Europas vor. Genauso wie ihre äußerlich identische Schwesternart Chironomus piger können sie den Menschen nicht stechen.

Publikation:


Schreiber, D. and Pfenninger, M.
Genomic divergence landscape in recurrently hybridising Chironomus sister taxa suggests 1 stable steady-state between mutual gene-flow and isolation
Evolution Letters

DOI: 10.1002/evl3.204



Die Ergebnisse einer neuen Studie am LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik (TBG) und dem Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum stellen diese Definition infrage. „Wir konnten zeigen, dass Arten ihre Unterschiedlichkeit gewinnen und bewahren können, obwohl sie den größten Teil ihres Genoms miteinander teilen“, sagt Dennis Schreiber vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Schreiber analysierte die Genome von Individuen zweier Zuckmücken-Arten, Chironomus riparius und Chironomus piger. Beide Arten kommen in der gesamten nördlichen Hemisphäre vor und haben ähnliche Verbreitungsgebiete; sie bevorzugen aber ökologisch verschiedene Lebensräume. Ihr Genom zeigt, dass sich diese Arten bereits vor Millionen von Generationen, das entspricht ungefähr 700.000 Jahren, innerhalb kurzer Zeit gebildet haben. Doch der Aufspaltungsprozess endete offenbar vollständig wieder, noch bevor das gesamte Genom gegenseitig isoliert wurde. Seitdem kommt es regelmäßig zur Hybridisierung, also zu Paarungen zwischen den Individuen beider Arten.

Dabei tauschen sie gut 70 Prozent ihres Genoms regelmäßig aus; in diesem Anteil liegt etwa die Hälfte aller Gene. Die Arten bleiben trotzdem ökologisch erkennbar verschieden, obwohl sie jeweils nur 30 Prozent ihres Genoms (allerdings mit der anderen Hälfte der Gene) exklusiv für sich beanspruchen können, und diese Bereiche vergleichsweise klein und über das ganze Genom verstreut sind. „Dies betrifft zum einen Gene, die mit den bekannten ökologischen Unterschieden zwischen den Arten zusammenhängen, wie zum Beispiel die Empfindlichkeit gegenüber Stickstoffverbindungen wie Nitrit etwa aus Gülle“, erläutert Schreiber.

„Genauso weisen jedoch auch solche Gene Unterschiede auf, die auf molekularer Ebene eng mit anderen Genen zusammenarbeiten, beispielsweise in der Atmungskette, der Proteinproduktion oder bei Schleusen durch Membranen. An diesen Stellen würden Unverträglichkeiten zwischen den verschiedenen Arten offenbar zu sehr stören, so dass sie hier isoliert bleiben“, so der Studienleiter Prof. Markus Pfenninger, LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik und Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum.

„Diese neuen Erkenntnisse verändern unser Konzept von einer biologischen Art. Offensichtlich ist ein komplett eigenständiges Genom keine Voraussetzung dafür, sondern es gibt stabile Zwischenstufen, bei denen sich verwandte, gut charakterisierte Arten trotz großer genomischer Überschneidungen ihre Eigenständigkeit erhalten. Daran wollen wir nun weiter forschen“, so Pfenninger abschließend.


Diese Newsmeldung wurde mit Material des Senckenberg Forschungsinstituts und Naturmuseen via Informationsdienst Wissenschaft erstellt

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