Der Abwärtstrend der biologischen Vielfalt ist umkehrbar
Bio-News vom 10.09.2020
Die Politik muss in den kommenden Jahrzehnten alles daran setzen, die noch bestehenden natürlichen Lebensräume zu schützen, viele bereits verloren gegangene wiederherzustellen und vor allem die Ernährungsgewohnheiten und Nahrungsproduktion nachhaltig zu gestalten. Nur so sei der Verlust der biologischen Vielfalt bis 2050 oder früher zu stoppen. Dieses Rezept haben Wissenschaftler mithilfe von Modellen errechnet.
Die biologische Vielfalt - die Vielfalt und Individuenzahl der Arten sowie die Größe und Qualität der Ökosysteme, die diese beheimaten - nimmt seit vielen Jahren in alarmierendem Tempo ab. Grund dafür ist die menschliche Lebensweise. Während in vielen verschiedenen politischen Prozessen ehrgeizige Schutzziele vorgeschlagen wurden, erschweren praktische Fragen wie die Ernährung der wachsenden menschlichen Bevölkerung der Erde das Erreichen solcher Ziele, denn: Naturschutz und Nahrungsmittelproduktion konkurrieren um die gleichen Flächen. Eine neue Studie eines internationalen Wissenschaftlerteams unter der Leitung des IIASA untersucht erstmals so ehrgeizige Politikziele wie die Umkehrung globaler Biodiversitätstrends und zeigt auf, wie zukünftige Wege zur Erreichung dieses Ziels aussehen könnten.
Publikation:
Leclere D, Obersteiner M, Barrett M, Butchart SHM, Chaudhary A, De Palma A, DeClerck FAJ, Di Marco M, Meyer, C et al.
Bending the curve of terrestrial biodiversity needs an integrated strategy
Nature 2020
DOI: https://doi.org/10.1038/s41586-020-2705-y
„Wir wollten auf fundierte Weise beurteilen, ob es machbar ist, die vor allem durch Landnutzung abwärtsgerichtete Kurve der globalen Biodiversität umzubiegen, ohne andere Ziele der nachhaltigen Entwicklung zu gefährden“, erklärt David Leclère, Erstautor der Studie und IIASA-Forscher. „Und sollte sich dies tatsächlich als möglich erweisen, wollten wir auch herausfinden, wie wir dorthin gelangen können - genauer gesagt, welche Art von Maßnahmen in Bezug auf Landnutzung erforderlich wären und welche Kombinationen verschiedener Typen von Maßnahmen am wenigsten Kompromisse und am meisten Synergien hervorrufen.“
Die Studie untersucht anhand verschiedener Modelle und neu entwickelter Szenarien, wie integrative Politikansätze dazu beitragen könnten, die Biodiversitätsziele zu erreichen, und gibt Informationen über mögliche Wege, wie die Vision der Biodiversitätskonvention (CBD) der Verienten Nationen für 2050 - „Leben in Harmonie mit der Natur“ - verwirklicht werden könnte. Um den globalen Trend der Biodiversität an Land zu stoppen und eine Erholung bis 2050 oder früher zu ermöglichen, sind nach Ansicht der Forscher Maßnahmen in zwei Schlüsselbereichen erforderlich:
- Ehrgeizige Anstrengungen zur Erhaltung und Wiederherstellung von Ökosystemen bei wesentlich effektiverem Management: Die Studie geht davon aus, dass Schutzgebiete schnell auf 40 % der weltweiten Landfläche ausgeweitet werden. Dies sollte mit verstärkter Wiederherstellung degradierter Flächen (die in den Studienszenarien bis 2050 etwa 8 % der terrestrischen Flächen erreichen) und einer Landnutzungsplanung einhergehen, die Produktions- und Erhaltungsziele auf allen bewirtschafteten Flächen in Einklang bringt. Ohne solche Anstrengungen könnte der Rückgang der biologischen Vielfalt nur verlangsamt und nicht gestoppt werden, eine mögliche Erholung wäre nur sehr verlangsamt möglich.
- Grundlegende Umgestaltung des Ernährungssystems: Da mutige Schritte zur Erhaltung und Wiederherstellung allein wahrscheinlich nicht ausreichen werden, sind zusätzliche Maßnahmen erforderlich, um dem globalen Druck des Ernährungssystems auf die biologische Vielfalt zu begegnen. Die Forscher führen hier die Verringerung der Nahrungsmittelabfälle, eine umweltfreundlichere Ernährung, nachhaltige Intensivierung der Produktion und nachhaltigen Handel auf.
Integrierte Maßnahmen müssten jedoch in beiden Bereichen gleichzeitig ergriffen werden, um die Kurve des Biodiversitätsverlusts bis 2050 oder früher nach oben zu biegen. In einem Szenario, indem sich die Politik nur auf verstärkte Schutz- und Wiederherstellungsanstrengungen beschränkt, ließen sich nur ca. die Hälfte der Biodiversitätsverluste gegenüber einem „Weiter-wie-bisher-Ansatzes“ vermeiden. Ein „Umbiegen der Kurve nach oben“ war nicht bei allen Modellen zu beobachten, und wo dies der Fall war, kam dies oft erst in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts zustande. Darüber hinaus stellten die Forscher fest, dass ein sich Beschränken auf Erhaltung und Wiederherstellung der Ökosysteme den Preis von Nahrungsmitteln in die Höhe treiben könnten, wodurch möglicherweise künftige Fortschritte bei der globalen Bekämpfung des Hungers behindert würden.
Szenarien, in denen die Politik massiv in Erhaltung und Wiederherstellung investiert und gleichzeitig das Ernährungssystem auf globaler Ebene verändert, Produktion und Konsumgewohnheiten in nachhaltige Bahnen lenkt, eröffneten hingegen wesentlich mehr Möglichkeiten zur Erhaltung und Wiederherstellung von Ökosystemen und gleichzeitig geringere Risiken für die Ernährungssicherheit. Diese Kombination, so zeigte das Modell, ermögliche es, den durch Landnutzungsänderungen bedingten globalen Abwärtstrend bis 2050 zu stoppen und sogar umzukehren.
„Eine grundlegende Umgestaltung der Ernährungs- und Landnutzungssysteme brächte außerdem einen erheblichen Zusatznutzen“, sagt Co-Autor Dr. Carsten Meyer vom iDiv. „Diese Maßnahme wäre ein großer Beitrag zur Erreichung der Klimaschutzziele und verringerte den Druck auf die Wasserressourcen und den Überschuss an reaktivem Stickstoff in der Umwelt, was sich auch förderlich für die menschliche Gesundheit auswirkt.“
Da die CBD derzeit einen neuen Strategische Plan für die biologische Vielfalt bis 2030 entwickelt, sind die Ergebnisse der Studie unmittelbar relevant für die laufenden Verhandlungen im Rahmen des Übereinkommens über die biologische Vielfalt der Vereinten Nationen.
„Unsere Ergebnisse stellen eine sehr positive Botschaft für Regierungen dar, die derzeit die neuen Biodiversitätsziele diskutieren“, sagt Meyer. „Klar wird aber auch, dass es unmöglich sein wird, die Biodiversität allein durch klassische Naturschutzinstrumente wie Schutz und Renaturierung von Ökosystem zu erhalten. Vielmehr werden zusätzlich dazu weitreichende Maßnahmen auf Verbraucher- und Erzeugerseite der Nahrungsmittel- und Bioenergie-Sektoren nötig sein - insbesondere in Regionen mit besonders hoher Biodiversität.“
Diese Newsmeldung wurde mit Material des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.