Neue Erkenntnisse zu evolutionären Grundlagen der Musikalität
Bio-News vom 18.07.2022
Der Beat läuft und wir wippen mit – fast automatisch. Liegt es etwa in unseren Genen, dass wir uns im Rhythmus der Musik bewegen? Diese Frage hat sich ein internationales Forschungsteam gestellt und die Ergebnisse seiner umfangreichen Studie mit mehr als 600.000 Forschungsteilnehmern kürzlich als Open-Access-Artikel veröffentlicht.
An der Studie beteiligt waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von zehn Forschungsinstituten aus sechs Ländern. Das interdisziplinäre Team bestand aus Expertinnen und Experten für komplexe Genetik, Musikkognition, Evolutionsbiologie, Evolution, Musik- und Neurowissenschaften. Gemeinsam mit dem Biotechnologieunternehmen 23andMe, Inc. (Sunnyvale, USA) realisierten sie die erste groß angelegte genomweite Assoziationsstudie zu einem musikalischen Merkmal.
Publikation:
Niarchou, M., Gustavson, D.E., Sathirapongsasuti, J.F. et al.
Genome-wide association study of musical beat synchronization demonstrates high polygenicity
Nat Hum Behav (2022)
DOI: 10.1038/s41562-022-01359-x
Insgesamt 606.825 Probanden gaben den Forschenden Auskunft darüber, ob sie im Takt eines musikalischen Beats klatschen können. Zur Überprüfung der Zuverlässigkeit dieser Selbstauskunft führten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter der Leitung von Nori Jacoby vom MPIEA eine Reihe von Online-Experimenten durch. Hierfür nutzten sie bei einer kleineren, separaten Gruppe von Forschenden eine neue Technologie zur Online-Messung von Klopfreaktionen in Echtzeit („REPP“): Während die Forschenden an ihren Computern zu Hause Musik hörten, zeichnete das Team ihre Klopfreaktionen mit dem Computermikrofon auf und ermittelte genau, wann sie im Verhältnis zum musikalischen Takt klopften.
Die menschliche Fähigkeit, sich synchron zum Takt der Musik zu bewegen, bezeichnet man als Taktsynchronisation
Nori Jacoby, Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik (MPIEA)
Jacoby weiter: „Unsere Validierungs-Experimente ergaben, dass die Selbsteinschätzung der Forschenden mit der objektiv gemessenen Taktsynchronisation übereinstimmten. Die aus der großen Stichprobe gewonnenen Daten waren also zuverlässig – auch, wenn hier nur eine einzige Frage bewertet wurde“.
Der umfangreiche Forschungsdatensatz bot den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Gelegenheit, selbst kleine genetische Merkmale zu erfassen. So konnte das Team 69 unabhängige genetische Varianten identifizieren, die mit der Taktsynchronisation in Verbindung stehen. Damit war klar: Das Rhythmusgefühl wird nicht nur von einem einzigen Gen, sondern von vielen verschiedenen Genen beeinflusst.
Viele der Varianten befinden sich in oder in der Nähe von Genen, die an neuronalen Funktionen und der frühen Gehirnentwicklung beteiligt sind. Darüber hinaus ergab die Studie, dass die Taktsynchronisation einige der gleichen genetischen Strukturen aufweist, die auch bei biologischen Rhythmen wie Gehen oder Atmen eine Rolle spielen. Zudem fanden die Forscherinnen und Forscher Zusammenhänge mit einer Reihe von Merkmalen, die auch mit dem Altern zusammenhängen, wie Lungenfunktion oder Motorik.
„Wie auch bei anderen komplexen Merkmalen gibt es hier viele Gene mit geringer Auswirkung – wahrscheinlich sogar mehr, als wir identifizieren konnten. Zusammen erklären sie einen Teil der Unterschiede bei der Rhythmusfähigkeit der Menschen. Doch auch die Umwelt spielt eine entscheidende Rolle“, berichtet Miriam A. Mosing vom MPIEA.
Die Erkenntnisse aus dieser Studie sind ein großer Fortschritt für das wissenschaftliche Verständnis der Verbindungen zwischen menschlichem Genom und Musikalität. Allerdings lassen sie keine deterministischen Rückschlüsse zu.
Begleitpapier
Um sicherzustellen, dass die Ergebnisse auf verantwortungsvolle Weise interpretiert werden, haben die Autorinnen und Autoren gemeinsam mit weiteren Mitarbeitern ein Begleitpapier veröffentlicht, in dem die gesellschaftlichen und ethischen Auswirkungen, Risiken und Möglichkeiten dieser Studie erörtert werden.
Diese Newsmeldung wurde mit Material des Max-Planck-Instituts für empirischen Ästhetik via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.