Spurensuche im Kurzzeitgedächtnis des Auges



Bio-News vom 26.07.2021

Was wir sehen, hinterlässt Spuren: Mit schnellen Bewegungen, sogenannten Sakkaden, springt unser Blick zwischen verschiedenen Orten hin und her, um möglichst scharf abzubilden, was sich vor unseren Augen abspielt. Lichtspuren auf der Netzhaut sorgen für räumlich-zeitliche Kontinuität unseres Sehens

Mit einer Dauer von weniger als 50 Millisekunden sind die Sakkaden die schnellsten Bewegungen, zu denen ein Mensch fähig ist. Dabei hinterlassen Objekte, die mal zentral, mal am Rande des Sichtfeldes erscheinen, kurzzeitig Lichtspuren auf der Netzhaut, ähnlich der Bewegungsunschärfe, die entsteht, wenn man eine Filmkamera schwenkt.

Lange Zeit wurde angenommen, dass wir während der schnellen Augenbewegungen vorübergehend blind sind. Eine neue Studie der Berliner Forscher Richard Schweitzer (Exzellenzcluster „Science of Intelligence“) und Martin Rolfs (Humboldt-Universität zu Berlin / Bernstein Center Berlin) zeigt, dass dem nicht so ist. Informationen werden von einem Blick zum nächsten durchgängig gesammelt und es entsteht eine Kontinuität von Objekten. Das ist ungefähr so, als würde man den Weg mehrerer Personen digital und analog verfolgen: Werden die Koordinaten nur in regelmäßigen Abständen erfasst, lässt sich die Identität einzelner Personen nach kurzer Zeit nicht mehr bestimmen - man weiß nicht, wer sich wie schnell wohin bewegt hat. Folgt man jedoch den individuellen Fußspuren, lässt sich jede Identität lückenlos nachverfolgen.


Beim Anblick einer Szene entstehen durch schnelle Augenbewegungen Bewegungsspuren auf der Netzhaut, die wir nicht bewusst wahrnehmen.

Publikation:


Schweitzer, R. & Rolfs, M.
Intra-saccadic motion streaks jump-start gaze correction

Science Advances, 23.07.2021

DOI: 10.1126/sciadv.abf2218



Lichtspuren garantieren kontinuierliche Wahrnehmung

Ähnliche Spuren entstehen im Auge, wenn wir die Blickrichtung ändern und das Licht, das von Objekten reflektiert wird, über die Netzhaut huscht. Die Forscher haben diese Lichtspuren genauer untersucht. Sie haben rekonstruiert und experimentell gezielt verändert, wie sich Objekte über die Dauer einer Sakkade auf der Netzhaut verschieben. Dabei haben sie herausgefunden, dass die visuelle Informationsverarbeitung auch während der Sakkade kontinuierlich stattfindet und nicht erst nach dem Ablauf der Bewegung wiedereinsetzt, wodurch zwei Bilder miteinander abgeglichen werden müssten. Ihre Ergebnisse belegen, dass die flüchtigen Lichtspuren, die durch Blickbewegungen entstehen, eine Funktion haben und von unserem Sehsystem genutzt werden.

Um dies nachzuweisen, haben die beiden Forscher Experimente durchgeführt, in denen Probandinnen und Probanden auf bestimmte Objekte blicken sollten. Mithilfe ihres psychophysikalischen Labors, das - wie nur wenige Labore der Welt - mit Hochgeschwindigkeitsprojektoren ausgestattet ist, konnten sie die Szenerie, die ihre Probandinnen und Probanden sahen, während der Sakkaden (also in nur wenigen Millisekunden) kontinuierlich verändern. Durch die gleichzeitige genaue Messung der Bewegungen der Augen ließ sich die Verbindung herstellen zwischen dem, was am Bildschirm verändert wurde und dem, was auf der Netzhaut passierte. Es zeigte sich, dass die visuellen Spuren der Objekte tatsächlich beeinflussten, wie schnell und wie oft Probandinnen und Probanden ihren Blick auf sie wendeten.


Symbolbild Bewegung.

Neue Forschungsansätze – neue Möglichkeiten

Das alte Forschungsparadigma, dass einen unterbrochenen Sehprozess mit Blindheitsphasen während der Sakkaden annahm, wird durch die Arbeit von Schweitzer und Rolfs widerlegt. Sie ermöglicht eine neue Herangehensweise an das, was unsere Wahrnehmung ausmacht und vereinfacht gängige Theorien, die davon ausgehen, dass Lücken in der visuellen Wahrnehmung durch komplexe Vorhersageprozesse gefüllt werden müssten.

Aber auch für klinische Anwendungen sind ihre Erkenntnisse übersetzbar, gerade wenn es um die Verbindung visueller Eindrücke und motorischer Funktionen geht oder die psychischen Beeinträchtigungen, die durch die Störung dieser Verbindung entstehen.

Industriell gesehen können die Erkenntnisse auch in der Entwicklung optischer Geräte berücksichtigt werden. Ein Beispiel wäre das „foveated rendering“ bei VR Brillen, bei dem nur die Bildanteile hochaufgelöst dargestellt werden, die der oder die Nutzer:in gerade fokussiert. Die Ergebnisse von Schweitzer und Rolfs erlauben konkrete Vorhersagen darüber, welche Veränderungen der Darstellung während Blickbewegungen geeignet sind, um eine unterbrechungsfreie Wahrnehmung zu ermöglichen.


Diese Newsmeldung wurde mit Material der Humboldt-Universität zu Berlin via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.


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