Wenn Tauben träumen
Bio-News vom 05.06.2023
Träumen galt lange Zeit als etwas, das den Schlaf des Menschen auszeichnet. Neue Erkenntnisse deuten jedoch darauf hin, dass Tauben im Schlaf möglicherweise Flugszenen erleben. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum und des Max-Planck-Instituts für biologische Intelligenz untersuchten mithilfe der funktionellen Kernspintomographie die Aktivierungsmuster im Gehirn schlafender Tauben. Die Studie zeigte, dass das Taubengehirn während des REM-Schlafs größtenteils sehr aktiv ist. Dieser wachähnliche Zustand könnte jedoch zur Folge haben, dass das Gehirn nur unzureichend von schädlichen Substanzen gereinigt wird.
Während wir schlafen, durchläuft unser Gehirn eine Reihe komplexer Prozesse, die dafür sorgen, dass wir erholt aufwachen. Beim Menschen gehen die unterschiedlichen Schlafphasen, der REM-Schlaf (Rapid Eye Movement) und der Non-REM-Schlaf, mit Veränderungen in der Physiologie, der Gehirnaktivität und des Bewusstseins einher. Während des REM-Schlafs ist unser Gehirn besonders aktiv und wir erleben lebhafte, bizarre oder emotionale Träume.
Publikation:
Ungurean, G., Behroozi, M., Böger, L. et al.
Wide-spread brain activation and reduced CSF flow during avian REM sleep
Nat Commun 14, 3259 (2023)
DOI: 10.1038/s41467-023-38669-1
In der Non-REM-Schlafphase ist das Gehirn metabolisch weniger aktiv und entsorgt Abfallprodukte. Dazu spült es die Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit durch die miteinander verbundenen Hirnkammern, welche die Gehirnstrukturen umgeben, und anschließend in das Gehirn. Dieser Prozess unterstützt den Körper vermutlich dabei, schädliche Proteinablagerungen, die unter anderem an der Entstehung der Alzheimer-Erkrankung beteiligt sind, aus dem Gehirn zu spülen.
Was geht im Gehirn einer schlafenden Taube vor?
Ob ähnliche Vorgänge auch bei Vögeln ablaufen, blieb bisher ungeklärt. „Der letzte gemeinsame evolutionäre Vorfahre von Vögeln und Säugetieren lebte vor etwa 315 Millionen Jahren und stammt somit aus der Frühzeit der Landwirbeltiere“, sagt Prof. Dr. Onur Güntürkün, Leiter der Biopsychologie an der Ruhr-Universität Bochum. „Dennoch ähneln die Schlafmuster von Vögeln denen der Säugetiere auf erstaunliche Weise, und zwar sowohl in den REM- als auch in den Non-REM-Phasen.“
Um herauszufinden, was genau vor sich geht wenn Vögel schlafen, haben die Forschenden die Schlaf- und Wachzustände von 15 Tauben mit Infrarot-Videokameras und funktioneller Kernspintomographie (fMRT) beobachtet und aufgezeichnet. Die Vögel waren speziell darauf trainiert, unter diesen experimentellen Bedingungen zu schlafen.
Die Videoaufzeichnungen gaben Aufschluss über die jeweilige Schlafphase der Vögel. „Wir konnten beobachten, ob nur ein oder beide Augen im Schlaf geöffnet oder geschlossen waren. Durch die transparenten Augenlider der Budapest-Tauben konnten wir auch bei geschlossenem Lid die Augenbewegungen und Veränderungen der Pupillengröße messen“, erklärt Mehdi Behroozi aus dem Bochumer Team. Gleichzeitig lieferten die fMRT-Aufzeichnungen Informationen über die Hirnaktivierung und die Bewegung der Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit durch die Hirnkammern.
Der Traum vom Fliegen
„Während der REM-Phasen waren vor allem Gehirnbereiche aktiv, die für die Verarbeitung visueller Reize zuständig sind, darunter auch Areale, die analysieren, wie sich die Umgebung einer Taube während des Flugs bewegt“, sagt Mehdi Behroozi. Das Team maß auch Gehirnaktivität in Bereichen, die Nervensignale aus dem Körper und von den Flügeln verarbeiten. „Aufgrund dieser Beobachtungen vermuten wir, dass Vögel wie wir Menschen in REM-Phasen träumen, vielleicht sogar Flugsequenzen durchleben“, fügt Mehdi Behroozi hinzu.
Außerdem stellten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fest, dass während der REM-Phasen die Amygdala aktiviert wurde, eine Gehirnstruktur, die bei emotionalen Prozessen eine wichtige Rolle spielt. „Das deutet darauf hin, dass auch Vögel in ihren Träumen Gefühle empfinden, sofern sie etwas erleben, das unseren menschlichen Träumen ähnelt“, sagt Gianina Ungurean aus der Forschungsgruppe Vogelschlaf am Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz. Diese Hypothese wird unterstützt durch die Beobachtung, dass sich im REM-Schlaf die Pupillen der Vögel schnell zusammenziehen, so wie es im Wachzustand zum Beispiel bei der Balz oder bei Aggression der Fall ist, wie Gianina Ungurean und ihre Kolleginnen und Kollegen kürzlich in einer anderen Studie nachgewiesen haben.
Aufräumen am Ende des Tages
Wie beim Menschen steigt auch bei Tauben der Durchfluss der Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit durch die Hirnkammern während des Non-REM-Schlafs an. Wie die Forschenden nun erstmals beobachten konnten, nimmt die Bewegung der Flüssigkeit während des REM-Schlafs jedoch drastisch ab.
„Die gesteigerte Hirnaktivität im REM-Schlaf ist mit einem erhöhten Blutfluss zum Gehirn verknüpft. Wir vermuten, dass dieser den Fluss der Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit aus den Hirnkammern ins Gehirn behindern könnte“, erklärt Niels Rattenborg, Leiter der Forschungsgruppe Vogelschlaf. „Das deutet darauf hin, dass der REM-Schlaf und die damit verbundenen Prozesse auf Kosten des Abtransports von Abfallprodukten aus dem Gehirn gehen könnten."
Der REM-Schlaf könnte jedoch auf unerwartete Weise wiederum auch zur Abfallbeseitigung beitragen: „Zu Beginn des REM-Schlafs vergrößert sich der Durchmesser der Blutgefäße durch den steigenden Blutzufluss. Dadurch könnte Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit, die während des Non-REM-Schlafs in die Hirnkammern geflossen ist, ins Hirngewebe strömen und dafür sorgen, dass die mit Abfallstoffen belasteten Flüssigkeiten abfließen“, erläutert Gianina Ungurean.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten, dass die Reinigung des Gehirns im Schlaf für Vögel von besonders großer Bedeutung sein könnte. Da Vogelgehirne dichter mit Nervenzellen gepackt sind als die Gehirne von Säugetieren, sind möglicherweise effizientere – oder häufigere – Spülzyklen erforderlich, um schädliche Rückstände abzutransportieren. Vögel erleben während des Schlafs häufigere und kürzere REM-Phasen und der damit verbundene häufige Anstieg des Blutstroms könnte dabei helfen, ihre dichten Gehirne von schädlichen Abfallprodukten freizuhalten.
Erzählt uns von euren Träumen!
Für die Zukunft plant das Team, die mögliche Funktion des REM-Schlafs für die Abfallbeseitigung näher zu untersuchen. Außerdem überlegen die Forschenden, wie sie etwas über den Inhalt der Träume einer Taube erfahren könnten. „Wir hoffen, die Vögel so trainieren zu können, dass sie uns vermitteln können, ob und was sie gerade gesehen haben, wenn sie aus dem REM-Schlaf erwachen. Das wäre ein wichtiger Schritt, um herauszufinden, ob sie träumen“, sagt Gianina Ungurean.
Aber auch ohne eine detaillierte Traumanalyse helfen uns die neuen Erkenntnisse, die Rolle des Schlafs besser zu verstehen – bei Vögeln ebenso wie beim Menschen. Sie verdeutlichen, wie wichtig der Schlaf für ein gesundes Gehirn und die Vorbeugung von kognitivem Verfall ist. Und sie legen nahe, dass das Träumen eine sehr lange Geschichte hat.
Kooperation & Förderung
An der Studie waren Forschende des Max-Planck-Instituts für biologische Intelligenz, des Lehrstuhls Biopsychologie an der Ruhr-Universität Bochum, des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie des Verhaltens, der Neurophysiologie der Ruhr-Universität Bochum sowie der Université Claude Bernard Lyon beteiligt.
Die Arbeit wurde gefördert durch die Max-Planck-Gesellschaft sowie die Deutsche Forschungsgemeinschaft – Projektnr. 316803389 – SFB 1280, und AVIAN MIND, ERC-2020-ADG, LS5, GA Nr. 101021354.
Diese Newsmeldung wurde mit Material des Max-Planck-Instituts für biologischen Intelligenz via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.