Wildtiere verfügen über mehr „Treibstoff der Evolution“ als bisher angenommen



Bio-News vom 30.05.2022

Natürliche Auslese fördert jene genetischen Veränderungen, die für Überleben und Reproduktion günstig sind – dies ist der Kern der Evolution im Sinne Charles Darwins. Wie schnell sich die Evolution vollzieht, hängt entscheidend von der Menge ihres „Treibstoffs“ ab: wie groß die genetischen Unterschiede innerhalb einer Population in Bezug auf die Fähigkeit, zu überleben und sich fortzupflanzen, sind. Neue Forschungen eines internationalen Teams zeigen auf, dass der Treibstoff der Evolution bei Wildtieren viel reichlicher vorhanden ist als bisher angenommen.

Darwin betrachtete den Evolutionsprozess als etwas Langsames, das nur über geologische Zeiträume hinweg sichtbar ist. Inzwischen haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jedoch viele Beispiele dafür entdeckt, dass sich Evolution in nur wenigen Jahren vollziehen kann. Ein solches Beispiel sind die britischen Bestände des Birkenspanners (Biston betularia). Bei diesen Nachtfaltern veränderte sich die Häufigkeit von zwei unterschiedlich gefärbten Morphen in nur wenigen Jahrzehnten in der Zeit der industriellen Revolution dramatisch – als Ergebnis der Evolution durch natürliche Auslese, die je nach Luftverschmutzung unterschiedliche Morphen begünstigt. Es war jedoch unklar, wie schnell sich Tiere mit längerer Lebensdauer wie Vögel und Säugetiere entwickeln und an Umweltveränderungen anpassen können.


Tüpfelhyänen passen sich gut an Veränderungen in ihrer Umwelt an. Hier hat ein Hyänenclan im Ngorongoro-Krater (Tansania) eine kaputte Walze schnell zu seinem neuen Lieblingsruheplatz erklärt.

Publikation:


Timothée Bonnet et. al.
Genetic variance in fitness indicates rapid contemporary adaptive evolution in wild animals

Science

DOI: 10.1126/science.abk0853



Unter der Leitung von Dr. Timothée Bonnet von der Australian National University (ANU) beschäftigte sich ein Team von 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus 27 Einrichtungen mit dieser Frage. Sie maßen, wie viel „Treibstoff der Evolution“ in wilden Beständen von Vögeln und Säugetieren vorhanden ist. Die Antwort: Viele Vögel und Säugetiere können sich erstaunlich schnell weiterentwickeln – die genetische Differenziertheit innerhalb einer Population in Bezug auf ihre Fähigkeit zur Fortpflanzung und zum Überleben ist zwei- bis viermal so hoch wie bislang angenommen.

Ein Grund, warum frühere Analysen das evolutionäre Potenzial von Arten unterschätzten, ist, dass sie Individuen ohne Nachkommen nicht vollständig berücksichtigten. Diese in die neue Untersuchung zu integrieren, erforderte die Entwicklung neuer statistischer Methoden sowie eine sorgfältige Auswahl der verwendeten Daten. Nur Wildtierpopulationen, die sehr sorgfältig und über viele Jahre hinweg untersucht wurden, kamen in Frage. „Um diese Studie durchführen zu können, mussten wir wissen, wann jedes Individuum geboren wurde, mit wem es sich gepaart hat, wann es Nachwuchs bekam und wann es starb“, so Dr. Bonnet. Trotz dieser hohen Ansprüche gelang es dem Forschungsteam, genetische Analysen von 19 Populationen von 15 Arten aus der ganzen Welt zu kombinieren. Zusammengenomen flossen 2,6 Millionen Stunden Felddatenerfassung und genetische Daten über viele Jahrzehnte in die Meta-Analyse ein.

„Dies war eine bemerkenswerte Teamleistung, die möglich war, weil Forschende aus der ganzen Welt bereit waren, ihre Daten im Rahmen einer großen Zusammenarbeit zu teilen. Es zeigt auch den Wert von Langzeitstudien mit detaillierter Überwachung der Lebensgeschichte von individuellen Tieren – dies hilft uns enorm, den Prozess der Evolution in der freien Natur zu verstehen“, sagt Professor Loeske Kruuk, ebenfalls von der ANU (und jetzt an der Universität von Edinburgh, UK).

In die Untersuchung bezog das Team – neben Prachtkrähen in Australien, Singspatzen in Kanada und Rothirschen in Schottland – auch die gesamte Population der Tüpfelhyänen des Ngorongoro-Kraters in Tansania ein. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Leibniz-IZW forschen an diesen Hyänen seit mehr als 26 Jahren und erstellten einen genetischen Stammbaum, der mehr als 2000 Individuen aus acht Generationen umfasst.

Auch wenn die neue Analyse über alle Arten hinweg mehr genetische Differenziertheit und damit „Treibstoff für die Evolution“ enthüllt als erwartet, zeigt sie auch deutliche Unterschiede zwischen den Arten auf. Es stellte sich heraus, dass Tüpfelhyänen von allen 15 untersuchten Arten den meisten „Treibstoff“ aufweisen. Dies war für das Leibniz-IZW-Team eine Überraschung. „Tüpfelhyänen können in allen möglichen Lebensräumen leben und sind das am weitesten verbreitete große Raubtier in Afrika. Das deutet darauf hin, dass sie sich gut an neue Umgebungen anpassen können, aber wir haben nicht erwartet, dass sie zu den am besten ausgerüsteten aller untersuchten Arten gehören“, sagt Dr. Oliver Höner vom Leibniz-IZW und Mitautor des Science-Aufsatzes.

Neben dem Sammeln riesiger Datenmengen über Jahrzehnte und der Entwicklung neuer Methoden musste das Team eine zusätzliche Herausforderung bewältigen. Bei sehr sozialen Arten wie der Tüpfelhyäne werden Veränderungen von Merkmalen, die das individuelle Überleben und die Fortpflanzung beeinflussen, möglicherweise nicht nur durch genetische Vererbung, sondern auch durch soziale Lern-Prozesse vorangetrieben. Die Methode zur Bewertung des „Treibstoffs der Evolution“ kann die individuellen, persönlichen Details jedes einzelnen Tieres oder jeder Population nicht berücksichtigen. Daher musste das Team einen Weg finden, um mögliche Verzerrungen durch die soziale Vererbung auszuschließen. Dazu entwarfen Dr. Alexandre Courtiol und der von der DFG geförderte Postdoc Dr. Liam Bailey vom Leibniz-IZW Computersimulationen, die eine theoretische Hyänenpopulation darstellen, bei der die Vererbung nur sozial erfolgt, und verglichen die für diese virtuellen Hyänen geschätzte Menge an „Treibstoff der Evolution“ mit der der realen Population. „Dieser zusätzliche Test änderte nichts Wesentliches an den Ergebnissen, was darauf hindeutet, dass Hyänenpopulationen tatsächlich eine relativ hohe Menge an 'Treibstoff der Evolution' in ihrem Genpool aufweisen", so Courtiol.

Den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zufolge lässt sich aufgrund ihrer Ergebnisse besser vorhersagen, wie und wie gut sich Arten an Umweltveränderungen anpassen. „Diese Forschung hat uns gezeigt, dass die Evolution auch für die Anpassungsfähigkeit von Arten an rasche Umweltveränderungen eine Rolle spielen dürfte“, so Bonnet. „Da sich der Lebensraum vieler Arten immer schneller verändert, gibt es keine Garantie dafür, dass diese Bestände damit Schritt halten können. Wir können jedoch sagen, dass die Evolution ein viel wichtigerer Faktor für die Anpassungsfähigkeit von Populationen an die gegenwärtigen Umweltveränderungen ist als bisher angenommen.“


Diese Newsmeldung wurde mit Material des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V. via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.

Mehr zu den Themen


warte
warte
warte
warte
warte
warte
warte
warte
warte
warte