Anticholinerges Syndrom


Klassifikation nach ICD-10
T44 Vergiftung durch primär auf das autonome Nervensystem wirkende Arzneimittel
T44.8 Zentral wirkende und adrenerge Neuronenblocker, anderenorts nicht klassifiziert
T62 Toxische Wirkung sonstiger schädlicher Substanzen, die mit der Nahrung aufgenommen wurden
T62.1 Verzehrte Beeren
T62.2 Sonstige verzehrte Pflanze(n) oder Teil(e) davon
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Anticholinerges Syndrom ist ein krankhafter Zustand des vegetativen Nervensystems, bei dem der Nervus vagus (Parasympathikus) in seiner bremsenden und dämpfenden Funktion weitgehend ausgeschaltet wurde.

Meist tritt das Syndrom als Folge von unerwünschten Arzneimittelwirkungen bzw. Vergiftungen mit Atropin bzw. Hyoscyamin, Antidepressiva, Neuroleptika, Antihistaminika oder nach Einnahme von giftigen Pflanzen aus der Familie der Nachtschattengewächse (Tollkirsche, Bilsenkraut, Stechapfel, Engelstrompete) auf.[1]

Entgegen oft gehörten Behauptungen wirken die Inhaltsstoffe des Fliegenpilzes und des Pantherpilzes (nämlich Ibotensäure und Muscimol) nicht anticholinerg und verursachen daher kein anticholinerges Syndrom.

Pathophysiologie

Der cholinerge Neurotransmitter Acetylcholin ist zerebral an verschiedenen Funktionen beteiligt, hierzu gehört unter Anderem das Bewusstsein. Wird dieser Effekt durch anticholinerge Substanzen, wie beispielsweise die oben genannten, antagonisiert führt dies zu einer Reihe neurologischer Symptome. Dieser antagonistische Effekt wird durch eine kompetitive Verdrängung vom Acetylcholinrezeptor erzielt.

Symptome

Man unterscheidet periphere von zentralen Symptomen. Zentrale Symptome sind diejenigen, die das Zentrale Nervensystem (Gehirn und Rückenmark) betreffen. Es können zwei Verlaufsformen unterschieden werden.

1. Delirante Form mit

2. Somnolente Form

  • verzögertes Erwachen nach der Narkose
  • Schläfrigkeit (Somnolenz) bis hin zum Koma
  • im Extremfall bis hin zum Atemstillstand

Bei beiden Verlaufsformen können die folgenden peripheren Symptome auftreten:

  • trockene, heiße, gerötete Haut durch
    • Verminderte Schweißproduktion
    • Fieber (Hyperthermie)
  • Weite Pupillen (Mydriasis)
  • Glaukomanfall
  • Störungen der Akkommodation, das heißt im Wesentlichen verschwommenes Sehen, besonders in der Nähe
  • Mundtrockenheit, Durst durch
    • Verminderte Speichelproduktion
    • Verminderte tracheobronchiale Sekretion
  • Schluckstörungen
  • Herzrhythmusstörungen
    • Zu schneller Puls (Tachykardie)
    • Supraventrikuläre Extrasystolen
    • Selten (bei hoher Dosis) AV-Überleitungsstörungen
  • Magen-Darm-Atonie
  • Harnverhaltung (durch Blasenatonie)

Therapie

Patienten mit einem schweren anticholinergen Syndrom müssen auf einer Intensivstation überwacht werden. Bei ausgeprägter Unruhe und Halluzinationen kann zur Vermeidung von Eigengefährdung des Patienten eine Fixierung notwendig werden. Ein mögliches Gegenmittel ist Physostigmin, das unter Beachtung der Nebenwirkungen (z.B. Bradykardie) gegeben werden kann. Manchmal wird versucht durch eine forcierte Diurese eine schnellere Ausscheidung der verursachenden Substanz aus dem Körper zu erreichen. Magenspülungen werden nur in Ausnahmefällen empfohlen, da das Risiko einer Aspiration den potentiellen Nutzen meist überwiegt. Dies gilt vor allem, wenn der Patient bewußtseinsgetrübt und nicht intubiert ist. Eine besondere Rolle in der Therapie spielt die Aktivkohle, die als Adsorbens verabreicht wird, um die Giftaufnahme im Verdauungstrakt zu verhindern.

Einzelnachweise

  1. Prange H.: Neurologische Intensivmedizin: Praxisleitfaden für Neurologische Intensivstationen und Stroke Units, Georg Thieme Verlag, 2004, S.211ff., ISBN 3131298219, hier online