Artikulation (Linguistik)


Mit Artikulation (lat. articulare = deutlich aussprechen) bezeichnet man im linguistischen Sinne die Bildung der Phoneme und Wörter menschlicher Sprachen, also den motorischen Vorgang des Sprechens bei den Lautsprachen und des Gebärdens mit Händen bei den Gebärdensprachen.

Grundvoraussetzung für die lautsprachliche Lautbildung ist die Atmung, die über die Lunge die zum Sprechen benötigte Atemluft liefert. Man spricht in diesem Sinne auch vom Phonationsstrom. Bei diesem handelt es sich in erster Linie um exspiratorischen Phonationsstrom, d. h. nur die ausgeatmete Luft dient normalerweise der Lautbildung. Nicht alle Laute, die mit dem Mund erzeugt werden können, werden in einer gegebenen Lautsprache benutzt und sind somit linguistisch relevant.

Grundvoraussetzung für die manuelle Bildung der Gebärden ist die Fähigkeit der Arme, Bewegungen auszuführen und Körperteile zu berühren, und der Hände, mit den Fingern Handkonfigurationen zu bilden. Man spricht in der Linguistik der Gebärdensprache von den vier Parametern in der Formation von Gebärden: Handkonfiguration, Handstellung, Bewegung und Bewegungsort. Nur eine Untermenge der möglichen Bewegungen der Arme und Handformen ist linguistisch relevant in einer gegebenen Gebärdensprache. Auch wird nur eine beschränkte Anzahl der Körperteile von der gebärdenden Hand bzw. Händen berührt.

Der Rest des Artikels betrifft nur die lautsprachliche Seite der Artikulation.

Die Sprechwerkzeuge

Um den Sprechvorgang besser verstehen zu können, muss man sich ein Bild darüber machen, welchen Weg der Phonationsstrom von den Lungen über die Bronchien bis zum Mundraum nimmt, das heißt welche Sprechwerkzeuge beim Sprechvorgang beteiligt sind, und wie auf diesem Weg aus der Atemluft Laute entstehen.

Unter dem Begriff Sprechwerkzeuge versteht man nicht nur die Zunge, sondern ebenso die Lippen, die Zähne, den Gaumen, das Gaumensegel, das Gaumenzäpfchen, Rachenhöhle und Nasenraum sowie den Kehlkopf und die eigentlichen Atmungsorgane, wo das Sprechen seinen Anfang nimmt. Zusammenfassend wird der supraglottale Bereich, das heißt der Bereich oberhalb des Kehlkopfes bestehend aus Mundhöhle, Nasenraum und Rachenraum als Vokaltrakt oder Ansatzrohr bezeichnet. Alle Organe und Bestandteile des Ansatzrohrs sind an der Artikulation einer Lautsprache beteiligt: Lippen, Zähne, Zunge, Gaumen, Gaumensegel, Gaumenzäpfchen, Rachen, Kehldeckel und Nasenhöhle.

Die Atmungsorgane

Unter der Bezeichnung Atmungsorgane, auch Respirationsorgane genannt, subsumiert man oft neben den Lungen und den Bronchien auch die luftleitenden Organe, wie Luftröhre, Rachen, Nase. Eine besondere Rolle bei der Erzeugung von Lauten spielt der Kehlkopf.

Der menschliche Kehlkopf

Menschlicher Kehlkopf: 1 Luftröhre, 2 Ringknorpel, 3 Elastischer Kegel, 4 Stimmlippen, 5 Adamsapfel, 6 Zungenbein, 7 Kehldeckel, 8 Schildknorpel, 9 Stellknorpel, 10 Stimmfortsatz

Der Kehlkopf besteht aus Knorpelmasse, Bändern und Muskeln und zeichnet sich durch eine besondere Beweglichkeit aus. Insgesamt erkennt man fünf Knorpel: Ringknorpel, Schildknorpel, zwei Stellknorpel und den so genannten Kehldeckel. Der Ringknorpel ist ein geschlossener Ring, der sich nach hinten zu einer großen Knorpelplatte verbreitert. Er sitzt auf der Luftröhre und ist seitlich über Gelenke mit dem Schildknorpel verbunden. Der Schildknorpel besteht aus zwei Platten, die vorne zusammengewachsen und nach hinten hin offen sind und oben und unten jeweils ein Horn aufweisen. Die Gelenkverbindung zwischen Schildknorpel und Ringknorpel befindet sich an den unteren Hörnern, so dass beide Knorpel gegeneinander kippen können.

Dort, wo die zwei Platten des Schildknorpels verbunden sind, besteht eine Verbindung mit dem Kehldeckel, der schräg nach hinten aufsteigt. Er hat die Form eines Löffels und besteht aus weicher Knorpelmasse. Er verschließt den Eingang des Kehlkopfs gegen den Rachen.

Der Kehlkopf ist von außen ertastbar. Beim Schlucken bemerkt man, wie sich der Kehldeckel über den Kehlkopfeingang legt. Eine besondere Rolle spielen die Stellknorpel. Sie sitzen gelenkig auf dem hinteren Oberrand des Ringknorpels und sehen wie kleine Pyramiden aus. Nach vorne laufen sie in die so genannten Stimmfortsätze aus.

Zwischen diesen und der Wand des Schildknorpels sind die beiden Stimmlippen (siehe auch: Stimmbänder) gespannt. Die Stimmlippen sind Muskeln. Sie laufen von der inneren Kante des Schildknorpels in einer horizontalen Linie geradewegs zu den Stellknorpeln und sind über Bandgewebe mit dem Ringknorpel verbunden.

Die Stellknorpel können sich jeweils um die eigene waagerechte Achse drehen oder auseinander oder zueinander gleiten und beeinflussen damit die Stellung der Stimmbänder, die mit ihnen verbunden sind. Die Stellung zwischen Ring- und Schildknorpel andererseits erlaubt durch das gegenseitige Kippen eine Erhöhung oder Verringerung der Spannung der Stimmlippen.

Die hauptsächliche Funktion des Kehlkopfes ist aber nicht die Stimmerzeugung. Er kontrolliert vielmehr den Weg der Atmungsluft von außen zur Lunge und umgekehrt von der Lunge nach außen. Der Kehldeckel hat eine Schutzfunktion, denn er sorgt dafür, dass feste oder flüssige Nahrung nicht in die Luftröhre und somit in das empfindliche Lungengewebe gelangt. Beim Husten beispielsweise läuft ein komplizierter Vorgang ab, durch den Fremdkörper aus der Lunge und den Bronchien entfernt werden.

Durch das Vorhandensein der Stimmlippen, durch die Mechanik und vor allem durch die Lage des menschlichen Kehlkopfes ist allerdings erst die Bildung von "Stimme" und damit das Sprechen möglich.

Sprechvorgang

Bei der Bildung von Sprechlauten kommt es zu verschiedenen aufeinander abgestimmten Bewegungen zwischen den oben genannten Sprechwerkzeugen, also

  1. den subglottalen Organen (Lungen und Atemwege)
  2. den Organen des Kehlkopfs
  3. und den Organen des Ansatzrohres (Rachen, Mund- und Nasenraum).

Um einen Laut zu produzieren, laufen im menschlichen Körper folgende Prozesse ab:

  • Initiierung eines Phonationsstroms aus den Lungen
  • Phonationsprozess: Überwindung der Stimmlippen
  • eigentlicher Artikulationsprozess: die Sprechwerkzeuge werden in die erforderliche Stellung gebracht.

Entstehung des Phonationsstroms

Durch Volumenvergrößerung des Brustkorbs mittels der Brustmuskulatur, der Rippen und des Zwerchfells kann sich die Lunge ausdehnen und es entsteht ein Unterdruck, so dass Luft über die Atemwege in die Lunge strömen kann. Durch Senken der Rippen und Heben des Zwerchfells zieht sich die Lunge andererseits wieder zusammen. Der dabei entstehende Überdruck wird als Exspirationsluftstrom wieder aus der Lunge über die Bronchien in die Luftröhre gepresst. Die Luftröhre ist elastisch und endet oben mit dem Kehlkopf. Erst dort, im Kehlkopf, entscheidet sich, ob der Exspirationsstrom zum Phonationsstrom wird oder nicht.

Der Phonations- und Artikulationsprozess

Schematische Darstellung der Stellknorpel in Atmungsstellung; A: Schildknorpel, B: Ringknorpel, C: Stellknorpel, D: Stimmlippen

Während die Luft aus den Lungen ausströmt, passiert sie den Kehlkopf und die Stimmlippen. In entspanntem Zustand befinden sich die Stimmlippen in Atmungsstellung, d. h. die Glottis ist weit geöffnet, so dass die Atemluft ungehindert entströmen kann.

Um die Phonation, d. h. die Stimmerzeugung zu initiieren, werden die Stimmlippen in die Phonationsstellung (Stimmstellung), gebracht, das heißt sie liegen locker aneinander an und verschließen so die Glottis. Durch den Luftstrom werden die Stimmlippen in Schwingung versetzt, d. h. sie öffnen und schließen sich, so dass die Luft mit jeder Öffnung und Schließung stoßweise in den Artikulationsraum entlassen wird. Es entstehen komplizierte periodische aus Teiltönen bestehende Schwingungen, auch Klänge genannt. Die Frequenz (möglich sind ca. 70–1000 Hz) hängt dabei von der Länge und die Tonhöhe von der Spannung der Stimmlippen ab, die durch Stellung der Stellknorpel bzw. die Kippbewegung zwischen Ring- und Schildknorpel reguliert werden.

Schema der verschiedenen Stellungen der Stellknorpel und Stimmlippen; A: Glottisverschluss, B: Phonationsstellung, C: Flüsterstellung, D: Hauchstellung; E: Atmungsstellung oder Ruhestellung; F:Tiefatmungstellung

Sobald in den Stimmlippen ein Primärklang erzeugt wurde, strömt dieser in das (aus Rachen-, Nasen- und Mundhöhle bestehende) Ansatzrohr. Das Ansatzrohr ist vergleichbar mit einem musikalischen Instrument, bei dem die einmal erzeugte Schwingung in einen Ton modifiziert wird. Das menschliche Ansatzrohr ist also schwingungsfähig und wirkt damit als so genannter Resonanzraum. Die im Kehlkopf erzeugten Geräusche und Klänge werden im Ansatzrohr zu Sprechlauten moduliert.

Grundsätzlich muss man bei den Sprechlauten zwischen Klanglauten und Geräuschelauten unterscheiden. Bei der isolierten Artikulation eines „scharfen“ s wie in Maus beispielsweise, handelt es sich um ein Geräusch. Es entsteht, wenn sich die Stimmritze in Atemstellung (siehe Abbildung) befindet und zwischen dem Saum der Zunge und dem Alveolenrand eine Enge gebildet wird. Um einen Laut zu produzieren, ist es also nicht unbedingt notwendig, dass die Stimmlippen in Phonationsstellung (Stimmstellung) gehen. Es entsteht also auch bei Atmungsstellung ein stimmloser Konsonant. Bei der isolierten Artikulation eines „weichen“ s wie in Sonne dagegen, befindet sich die Stimmritze dagegen in Phonationsstellung (siehe Abbildung). Bei dieser sehr engen Annäherung der Stimmlippen entstehen Kräfte, die den Luftstrom in eine Folge periodischer Schwingungen versetzt (Bernoulli-Effekt). Es entsteht ein stimmhafter Konsonant, der durch Engebildung zwischen Zungensaum und Alveolenrand einen Laut erzeugt: das stimmhafte (weiche) s.

Prinzipiell unterscheidet man in der Phonetik zwischen dem Artikulator, dem Artikulationsort (Artikulationsstelle) und schließlich der Art der Artikulation.

1. exolabial 2. endolabial 3. dental 4. alveolar 5. postalveolar 6. prepalatal 7. palatal 8. velar 9. uvular 10. pharyngal 11. glottal 12. epiglottal 13. radikal 14. posterodorsal 15. anterodorsal 16. laminal 17. apikal 18. sublaminal
  • Der Artikulator ist der aktive Teil der Artikulation, der sich auf die Artikulationsstellen (den Artikulationsort) hinzubewegt oder ihn berührt:
    • Unterlippe
    • Zunge
      • Apex (Zungenspitze)
      • Korona (Zungensaum)
      • Dorsum (Zungenrücken)
      • Radix (Zungenwurzel)
    • Stimmbänder
  • Der Artikulationsort ist der relativ unbewegliche Teil des Ansatzrohrs und Ziel des Artikulators. Die Laute benennt man entsprechend:
    • labial (Oberlippe)
    • dental (Oberkieferzähne)
    • alveolar (Zahndamm)
    • postalveolar (halbwegs zwischen Zahndamm und hartem Gaumen)
    • palatal (Harter Gaumen, Palatum)
    • velar, (Weicher Gaumen/Gaumensegel, Velum)
    • uvular (Gaumenzäpfchen, Uvula)
    • pharyngal (Rachen, Pharynx)
    • glottal (Stimmlippen)
  • Die Artikulationsart ist schließlich die Art und Weise, wie sich der Kontakt zwischen Artikulator und Artikulationsort darstellt, zum Beispiel eine Verengung bildet bei /v/ wie in „Wein“ oder den Luftstrom kurzfristig blockiert (Obstruktion) bei /b/ wie in „Bein“. Die Phonationsluft kann aber auch, ohne dass sie ein Hindernis überwinden muss, durch das Ansatzrohr fließen, wie das bei Vokalen und den Halbvokalen, einer Untergruppe der Approximanten, der Fall ist. Vokale, Halbvokale und stimmhaften Konsonanten sind Klänge, die wir als Sprechlaute wahrnehmen. Verschluss, Engebildung oder ungehindertes Ausströmen der Atmungsluft sind die drei einzigen Überwindungsmodi.
  • Palatalisierung
  • Velarisierung
  • Pharyngalisierung
  • Glottalisierung
  • Labialisierung

Darstellung und Beschreibung von Sprachlauten

Laute lassen sich durch Angabe der artikulierenden Organe beschreiben. Bei der Stimmbeteiligung muss beachtet werden, dass es voll stimmhafte und teilweise stimmhafte Konsonanten gibt, je nach Stimmeinsatzpunkt (engl. »voice onset«).

Mit Hilfe einer Lautschrift wie dem Internationalen Phonetischen Alphabet kann man die Laute der menschlichen Sprachen der Welt darstellen.

Siehe auch

  • Singen
  • Myoelastisch-aerodynamischer Prozess

Video

  • Manfred Spitzer: Sprechen und Singen. RealVideo aus der BR-alpha-Reihe „Geist und Gehirn“ (ca. 15 Minuten)

Literatur

  • William J. Hardcastle: Physiology of Speech Production. An introduction for speech scientists. Academic Press, London u. a. 1976, ISBN 0-12-324950-3.
  • Bernd Pompino-Marschall: Einführung in die Phonetik. de Gruyter, Berlin u. a. 1995, ISBN 3-11-014763-7, (De-Gruyter-Studienbuch).
  • Hans-Heinrich Wängler: Physiologische Phonetik. Eine Einführung. Elwert, Marburg 1972, ISBN 3-7708-0435-X.