Gerhard Roth (Biologe)


Gerhard Roth (* 15. August 1942 in Marburg) ist ein deutscher Biologe und Hirnforscher.

Biografie

Ausbildung

Roth studierte nach dem Besuch des humanistischen Friedrichs-Gymnasium in Kassel von 1963 bis 1969 als Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes in Münster und Rom zunächst Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie. In diesem Fach promovierte er 1969 mit einer Arbeit über den Marxisten Antonio Gramsci. Anschließend absolvierte Roth ein Studium der Biologie, u. a. in Berkeley (Kalifornien), das er 1974 an der Universität Münster mit einer zweiten Promotion in Zoologie beendete.

Lehre

Seit 1976 lehrt Roth als Professor für Verhaltensphysiologie an der Universität Bremen, seit 1989 in der Funktion eines Direktors des dortigen Instituts für Hirnforschung bzw. heutigen Zentrum für Kognitionswissenschaften. Von 1997 bis 2008 war er Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs. Er ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und war von 2003 bis 2011 Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes. In dieser Zeit verdoppelten sich die finanziellen Zuwendungen an die Studienstiftung und die Zahl der Stipendiaten stieg von rund 6.000 auf 12.000. Roth setzte sich insbesondere für die Erhöhung des Anteils von Stipendiaten aus nichtakademischen sowie Familien mit Migrationshintergrund ein. 2008 gründete er die Beratungsfirma Roth GmbH.[1]

Forschungsinhalte

Roths Forschungsschwerpunkte sind kognitive und emotionale Neurobiologie bei Wirbeltieren, theoretische Neurobiologie und Neurophilosophie.

Er ist als konsequenter Vertreter der kontraintuitiven Feststellung bekannt geworden, aus Sicht der naturwissenschaftlich betriebenen Neurobiologie gebe es keine Willensfreiheit.[2] Zumindest seien bestimmte Vorstellungen von einem freien Willen nicht aufrecht zu halten.[3] In letzter Zeit lässt Roth allerdings eine Vorstellung von Willensfreiheit anklingen, die zum Beispiel den von Peter Bieri entwickelten Thesen zu diesem Thema nahekommen.

Roth vertritt darüber hinaus einige Ansichten, die für den radikalen Konstruktivismus typisch sind.[4] So nimmt er an, „die Wirklichkeit“ werde von unserem Gehirn konstruiert,[5] gleichzeitig sei für uns aber nur diese vom Gehirn konstruierte Wirklichkeit erfahrbar.[6]

Als Konsequenz hieraus unterscheidet Roth ein „wirkliches Gehirn“ von einem „realen Gehirn“.[7] Das „wirkliche Gehirn“ betrachtet er dabei als einen Teil der erlebbaren Wirklichkeit, diese als Konstruktion des „realen Gehirns“. Da ihm nach Voraussetzung lediglich die von diesem „realen Gehirn“ konstruierte Wirklichkeit zugänglich sein soll, kommt Roth konsequent zu folgendem explizit formulierten Ergebnis: erstens erklärt er sich als Konstrukteur seiner Theorie selbst zum „Konstrukt“ seines „realen Gehirns“;[8] und zweitens, dass ihm das „reale Gehirn“ real „unzugänglich“ ist.[9]

Hierfür und für alle weiteren Konsequenzen seiner Konstruktionen[10] erhebt Roth „gehobene Ansprüche auf Plausibilität und interne Konsistenz.“[11]

Ehrungen

2011: Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.

Kritik

In die Kritik gerieten Roths Thesen zur Kriminologie. So müsse die Schuldfähigkeit bei einem Verbrechen vor dem Hintergrund neuronaler Abhängigkeiten gesehen werden. Diese Thesen werden als „biologischer Determinismus“ interpretiert. Weiterhin wurde kritisiert, Roth und andere Forscher würden die Willensfreiheit falsch, nämlich als unbedingte Freiheit auslegen. [12] [13]

2011 behauptete Roth in einem Interview mit GEO, dass „Jungen im räumlichen Bereich und darum mathematisch und musikalisch etwas besser talentiert“ seien und selbst frühkindliche Förderung „diese Differenz bei Mädchen offenbar nicht aufhole“. Günter M. Ziegler kritisierte daraufhin in den scilogs unter anderem, dass von Roth „mit der Autorität des ‚bedeutenden Hirnforschers‘“ „Pauschalbehauptungen über sehr komplizierte Sachen gemacht werden“, „Dinge gleichgesetzt oder korreliert werden (teilweise auch nur dadurch, dass sie in aufeinanderfolgenden Sätzen einer Argumentationskette auftreten) wie ‚räumliches Vorstellungsvermögen‘, ‚mathematisches Talent‘ und ‚Intelligenz‘“, „Kausalitäten behauptet oder suggeriert werden, etwa dass statistisch stärkere Durchblutung gewisser Hirnregionen Intelligenzunterschiede erklären könnten“ und „biologistisch-einseitig argumentiert wird, also ahistorisch und akulturell“.[14]

Schriften (Auswahl)

  • (1972) Gramscis Philosophie der Praxis. Patmos, Düsseldorf
  • (1974) Kritik der Verhaltensforschung. (herausgegeben) Beck, München
  • (1994) Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Suhrkamp, Frankfurt (8. Aufl. 2000); als Taschenbuchausgabe[15] stw 1275 ebd. auch 1997 ISBN 3-518-28875-X
  • (1995) Schnittstelle Gehirn - Interface Brain. Benteli, Bern
  • (1996) mit Wolfgang Prinz (Hrsg.): Kopfarbeit. Kognitive Leistungen und ihre neuronalen Grundlagen. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg
  • (2001) Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Suhrkamp, Frankfurt; als Taschenbuchausgabe stw 1678 mit der Angabe „Neue, vollständig überarbeitete Ausgabe“[16] ebd. 2003 ISBN 3-518-29278-1
  • (2001) mit Michael Pauen (Hrsg.): Neurowissenschaften und Philosophie. Fink, München (UTB 2208) ISBN 978-3825222086
  • (2003) Aus Sicht des Gehirns. Suhrkamp, Frankfurt ISBN 3-518-58383-2
  • (2004) Das Problem der Willensfreiheit. Die empirischen Befunde. Information Philosophie. H. 5, S. 14–21[17]
  • (2006) Möglichkeiten und Grenzen von Wissensvermittlung und Wissenserwerb – Erklärungsansätze aus Lernpsychologie und HirnforschungBeitrag. In: Ralf Caspary (Hrsg.): Lernen und Gehirn. Herder, Freiburg[18] ISBN 3-451-05763-8
  • (2006) mit Klaus-Jürgen Grün (Hrsg): Das Gehirn und seine Freiheit. Beiträge zur neurowissenschaftlichen Grundlegung der Philosophie.[19] Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen.
  • (2007) Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern. Klett-Cotta, Stuttgart 2007 ISBN 978-3-608-94490-7
  • (2008) mit Michael Pauen: Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. ISBN 978-3-518-26012-8
  • (2011) Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Klett-Cotta, Stuttgart 2011 ISBN 978-3-608-94655-0
  • (2012) Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten: Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern. Klett-Cotta, Stuttgart 2012 ISBN 978-3608947069

Ausführliches Publikationsverzeichnis

DVD-Videos

  • (2001) Wie macht das Gehirn die Seele? (ASIN: B000BWDLEY)[20]
  • (2002) Das verknüpfte Gehirn: Bau und Leistung neurobiologischer Netzwerke. (ASIN: B000BWDLF8); 5-teilige Vortragsreihe anlässlich der Lindauer Psychotherapiewochen 2002[21]

Einzelnachweise

  1. "Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth. Roth Gmbh, abgerufen am 15. November 2011.
  2. Der Begriff Freiwilligkeit ist laut Roth irrelevant. Den Begriff Anlassermodell hat C.F. Gethmann auf S. 216 seiner Arbeit Die Erfahrung der Handlungsurheberschaft und die Erkenntnisse der Neurowissenschaften [In dem Reader von Dieter Sturma (Hrsg.) Philosophie und Neurowissenschaften, Suhrkamp, Frankfurt 2006, S. 215-239] geprägt. Danach können - oder dürfen... - sämtliche Geschehnisse auf der Welt einschließlich menschlicher Handlungen nur auf ihnen zeitlich vorausgehende Umstände bezogen werden, die jene veranlassen. Eine Akteurskausalität, Handlungsurheberschaft oder agent-causality, nach der ein Handelnder selbst Ursachen setzt, ist dann aus methodologischen Gründen nicht (mehr) erfass- und darstellbar und damit apriori ausgeschlossen.
  3. Diesen Standpunkt vertreten auch Roths Frankfurter Kollege Wolf Singer und der Psychologe Wolfgang Prinz, beide allerdings mit der Besonderheit, dass sie ihre Argumentation nicht - gemäß dem erwähnten „Anlassermodell“ - auf deterministisch gedeutete Daten hirnphysiologischer Korrelationsexperimente – zum Beispiel jene der umstrittenen Experimente von Libet – stützen, wie Roth dies vorwiegend tut (zum Beispiel in seinem Beitrag von 2004 in Inform. Philosophie). Prinz und Singer führen vielmehr prinzipielle Gründen an, die sich aus der szientistischen Gleichsetzung von Wissenschaft mit Naturwissenschaft und der daraus folgenden Festlegung auf deren methodologische Normen ergeben. Hierauf hat Singer wiederholt, auch in Interviews hingewiesen, so etwa in dem Gespräch der Sendereihe «Sternstunde Philosophie»() des SF1 vom 11. Dezember 2005, genauso Wolfgang Prinz.
  4. Dabei zeigt Roths Denken wegen dessen sinnesphysiologischer Komponenten besonders in seinen Konsequenzen erkenntnistheoretisch eine große Nähe zum philosophischen Sensualismus.
  5. Kap. 13 Realität und Wirklichkeit in (1994), erster Abschnitt Wirklichkeit als Konstrukt des Gehirns, in der TB-Ausbgabe von 1997 S. 314ff
  6. ebd. S. 328ff; so bereits 1987 in seinem Beitrag „Erkenntnis und Realität: Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit“ zu Siegfried J. Schmidt (Hrsg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Suhrkamp, Frankfurt (stw 636) S. 229-225
  7. ebd. S. 329
  8. ebd. S. 329 und insb. S. 330
  9. ebd. S. 332; es bleibt dabei nur die Kleinigkeit ungeklärt: woher hat Roth dann eigentlich seine Kenntnisse von seinem „realen Gehirn“? Nebenbei gefragt: und den „realen Gehirnen“ anderer?!
  10. nach denen es zum Beispiel „in einem bestimmten Sinn der Fall“ sein soll, dass „jeder die Welt nur in seiner Weise“ sieht, „wir wirklich voneinander isoliert“ sind und daher „jeder von uns“ (ganz solipsistisch... ) „in seiner einsamen Wirklichkeit“ lebt - ebd. S. 333f, oder „der Anspruch“ aufgegeben werden müsse, „objektive Wahrheiten zu verkünden“ - S. 363
  11. ebd.; die feine Nuance sollte nicht übersehen werden, dass Roth diese Ansprüche selbst erhebt, und zwar von sich aus, und dies nicht einmal im Namen seines realen Gehirns, dessen Konstrukt er wie die gesamte Wirklichkeit insgesamt seiner Auffassung nach ist. Anders sein Frankfurter Kollege Wolf Singer, der ohne jeden theoretischen Aufwand postuliert, die Verschaltungen unserer - nach Roth wohl realen - Gehirne würden uns darauf festlegen zu tun, was wir tun, so bereits im Titel seines FAZ-Artikel vom 8. Januar 2004 Keiner kann anders“ ( DF), der in der gedruckten Ausgabe vollständig lautet(e): „Keiner kann anders als er ist. Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten aufhören von Freiheit zu reden.“ (weitere Einzelheiten dazu hier)
  12. Fabian Kröger: Nicht der Mensch mordet, sondern sein Gehirn. In Telepolis vom 10. Oktober 2005 [1]
  13. „Die Zeit des Philosophierens ist vorbei“; Interview mit Ernst Tugendhat [2]
  14. Kommentar in den scilogs.
  15. Text- und seitenidentisch mit der 5., überarbeiteten Ausgabe von 1996
  16. Drei Exkurse hinzugefügt; zwei Teile dem 10. Kapitel hinzugefügt, einen weiteren neu geschrieben; 7., 15., 16. Kapitel weitgehend neu geschrieben.
  17. Hier online (Kritische Replik darauf)
  18. Weitere Beiträge von Joachim Bauer, Manfred Spitzer, Gerald Hüther, Elsbeth Stern u.a. – s..
  19. Zurückgehend auf ein gleichnamiges Symposium am 20.-21. Januar 2005 in Frankfurt/M.
  20. Roth, Gerhard: Wie macht das Gehirn die Seele? Abgerufen am 26. September 2011.
  21. Roth, Gerhard: Das verknüpfte Gehirn (2002). Abgerufen am 26. September 2011.

Weblinks

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