Milchgeschwister


Milchgeschwister sind leiblich nicht verwandte Menschen, die von derselben Frau gestillt wurden. Milchgeschwisterschaft entsteht in der Regel, wenn eine Amme stillt.

Judentum

Die Vorstellung, dass durch Muttermilch verwandtschaftliche Beziehung entsteht, lässt sich bereits biblisch belegen. Im biblischen Hebräisch wird Verwandtschaft in der Regel durch Samen (זֶרַע) oder „Knochen und Fleisch“ (עֶצֶם וַבָּשָּׂר) hergestellt[1]. Jedoch wurde auch das im orientalischen Umfeld verbreitete Motiv, wonach menschliche Könige häufig als an den Brüsten einer Göttin saugend dargestellt wurden, um deren königliche Legitimität zu demonstrieren[2] (so zum Beispiel der assyrische König Aššur-bāni-apli), in den prophetischen Schriften des Alten Testaments aufgegriffen und umgedeutet. So wird in Jes 49,23 EU angekündigt, dass Zion von Königinnen gesäugt wird um somit selbst königlichen Status zu erhalten, was als Ansage der künftigen Herrlichkeit Zions in Jes 60,16 EU erneut aufgegriffen wird. Und in Jes 66,11 EU sind es die Exilierten selbst, die an der Brust Jerusalems saugen, um dadurch ihre Identität als Israeliten wiederzugewinnen[3]. Demnach werden durch die Muttermilch verwandtschaftliche Beziehungen hergestellt. In Hld 8,1 EU wird diese Vorstellung konkretisiert. Hier wünscht die Liebende, dass ihr Geliebter von ihrer Mutter gesäugt worden wäre, um somit als Milchbruder nicht den üblichen Restriktionen bezüglich des öffentlichen Kontakts zwischen Mann und Frau unterworfen zu sein (vergleichbar den muslimischen Vorstellungen). Nach alttestamentlicher Vorstellung konstituiert das Stillen also eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen Amme und Kind und somit auch eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen den Kindern, die von der gleichen Amme gestillt wurden. Dennoch findet sich im Alten Testament kein Bild von der Fürsorge einer Amme, was darauf schließen lässt, dass Ammen im Judentum nur eine geringe Rolle hatten[4]. Mayer Irwin Gruber belegt sogar anhand der im Alten Testament überlieferten Kinderzahlen, dass die Frauen im Alten Testament ihre Kinder üblicherweise drei Jahre lang selbst stillten und somit während der Zeit nicht in der Lage waren, weitere Kinder zu gebären (empfängnisverhütende Wirkung des Stillens).[5]

Während im Alten Testament und im griechischen Umfeld der Einsatz von Ammen nicht abgelehnte wurde, war deren Anstellung im rabbinischen Judentum unüblich [4]. Die Mischna definiert in mKet 5,5 das Säugen eines Kindes als Regelverpflichtung für eine jüdische Ehefrau, die lediglich dann nicht erfüllt werden muss, wenn die Ehefrau mindestens zwei Sklavinnen mit in die Ehe einbringt. Diese Anordnung wird im Talmud dahingehend entfaltet, dass das Säugen eines Kindes eine Beziehung zwischen Kind und Mutter bzw. Amme generiert. Es wird aber nicht weiter auf die Milchverwandtschaft und daran hängende rechtliche Folgen eingegangen, wahrscheinlich weil der Einsatz von Ammen eng an ökonomische Voraussetzungen geknüpft wurde und Milchverwandtschaft somit ein seltenes Oberklassenphänomen war[6].

Christentum

Da die Vorstellung, dass Muttermilch verwandtschaftliche Bande konstituiert, nicht nur im Judentum sondern auch im nicht-jüdischen antiken Mittelmeerraum bestand, wurde sie auch im Christentum aufgegriffen. Im römischen Bereich allerdings wurde dieses Konzept aufgrund seiner Nähe zur Adoption bereits in der Antike durch ein Konzept der geistlichen Verwandtschaft bei bestehender Patenschaft ersetzt[7], das beispielsweise Einfluss auf das Eherecht hat. So waren Ehen zwischen Pateneltern und Patenkindern in der römisch-katholischen Kirche bis 1983 untersagt (can. 1079 CIC/1917) und sind es bis heute in den unierten Kirchen (can. 811 CCEO).

In den orientalischen Kirchen hingegen gilt weiterhin auch Milchverwandtschaft als Ehehindernis. In der Syrisch-Orthodoxen Kirche gilt nach Aufweis des Nomocanon des Barhebräus (13. Jhdt.), dass zwei Kinder, die von der gleichen Amme gestillt wurden nicht erlaubt heiraten können, wobei die Verwandtschaft zwischen Milchgeschwistern genauso wie die Verwandtschaft zwischen natürlichen Geschwistern behandelt wird und sich das Ehehindernis somit auch auf die Angehörigen erstreckt[8]. In der Koptischen Kirche gilt die Bestimmung nach Aufweis Ibn al-ʿAssāls (13. Jhdt.) gleichermaßen[9]; Ibn Sabāʿ (13. Jhdt.) spricht diese Ausdehnung jedoch nicht an, so dass hier das Ehehindernis nur für die betroffenen Milchgeschwister zu gelten scheint.[10] In der Armenischen Kirche stellt die Milchverwandtschaft ebenfalls nur für die betroffenen Milchgeschwister ein Ehehindernis dar[11]. Umstritten ist allerdings, ob diese Quellen des orientalischen Kirchenrechts originär christliche Ideen aufgreifen oder muslimisch beeinflusst wurden.[12][13]

Islam

Im Islam gelten Milchgeschwister als verwandt. Deshalb sind die Vorschriften für den sozialen Umgang solcher Menschen nicht den gleichen Restriktionen unterworfen, wie dies unter Fremden der Fall wäre. Ein „Milchbruder“ oder eine „Milchschwester“ darf niemals geheiratet werden und gilt wie ein leiblicher Verwandter, mit dem ein Heiratsverbot wegen zu enger Verwandtschaft besteht.

Für internationales Aufsehen sorgte die Fatwa des Izzat 'Atiyya, Leiter der Fakultät für Überlieferungswissenschaften (Hadith-Wissenschaften) an der Al-Azhar-Universität, der das Stillen von Erwachsenen für islamisch erlaubt erklärt, damit nichtverwandte Männer und Frauen sich gemeinsam in denselben Räumlichkeiten aufhalten dürfen. Konkret sei es weiblichen Mitarbeitern einer Firma erlaubt, ihre männlichen Arbeitskollegen zu diesem Zweck einige Male zu „stillen“. Diese Praxis sei bereits im 7. Jahrhundert auf Befehl von Aischa ausgeübt worden, die sich auf eine Anweisung des Propheten berief. Die Universitätsleitung und diverse andere islamische Gelehrte haben dieser Auslegung vehement widersprochen.

Literatur

Einzelnachweise

  1. Cynthia Chapman: “Oh that you were like a brother to me, one who had nursed at my mother's breasts.”. Breast Milk as a Kinship-Forging Substance. In: Journal of Hebrew Scriptures (JHS) 12:7 (2012), S. 2.
  2. Cynthia Chapman: “Oh that you were like a brother to me, one who had nursed at my mother's breasts.”. Breast Milk as a Kinship-Forging Substance. In: Journal of Hebrew Scriptures (JHS) 12:7 (2012), S. 8.
  3. Cynthia Chapman: “Oh that you were like a brother to me, one who had nursed at my mother's breasts.”. Breast Milk as a Kinship-Forging Substance. In: Journal of Hebrew Scriptures (JHS) 12:7 (2012), S. 13.
  4. 4,0 4,1 Theodor Hopfner und Theodor Klauser: Amme. In: Reallexikon für Antike und Christentum (RAC) 1, Anton Hiersemann Verlag, Stuttgart 1950, Sp. 384.
  5. Mayer Irwin Gruber: Breast-Feeding Practices in Biblical Israel and in Old Babylonian Mesopotamia. In: Journal of the Ancient Near Eastern Society (JANES) 19 (1989), S. 63.
  6. Mayer Irwin Gruber: Breast-Feeding Practices in Biblical Israel and in Old Babylonian Mesopotamia. In: Journal of the Ancient Near Eastern Society (JANES) 19 (1989), S. 74–75.
  7. Peter Parkes: Milk kinship in Islam. Substance, structure, history. In: Comparative Studies in Society and History (CSSH) 13 (2005), S. 320.
  8. Nomocanon Gregorii Barhebraei VIII, 3
  9. Fetha Negest XXIV, II, 3.
  10. Al-ğawhratu an-nafīsatu fī ʿulūm al-kanīsati 41.
  11. Mxit'ar Goš 92.
  12. Peter Parkes: Milk kinship in Islam. Substance, structure, history. In: Comparative Studies in Society and History (CSSH) 13 (2005), S. 307–329 (nimmt einen muslimischen Einfluss an).
  13. Michael Mitterauer: Christianity and endogamy. In: Continuity and Change (CON) 6 (1991), S. 295–333. (schließt einen muslimischen Einfluss aus).

Weblinks

Siehe auch

  • Westermarck-Effekt