Naturwissenschaft und Religion


Wissenschaft und Religion in Harmonie, Tiffany- Fenster namens Education (1890).

Naturwissenschaft und Religion (oder: Wissenschaft und Religion, engl. Science and Religion) ist ein interdisziplinäres Gebiet der Forschung, das die Interaktionen zwischen Wissenschaft und Religion untersucht. Hierbei wird unter Wissenschaft in erster Linie die Naturwissenschaft verstanden, insbesondere Physik, Kosmologie, Evolutionsbiologie, Genetik und Neurologie, aber auch Wissenschaftsphilosophie, Wissenschaftsgeschichte und seltener die Psychologie. Religion meint einerseits die traditionellen Religionen, wie die drei großen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum, und Islam, aber auch spirituelle Aspekte, insbesondere die Gottesfrage.

Gegenstand der Forschung

Als akademisches Forschungsgebiet ist Naturwissenschaft und Religion in den 1960ern Jahren in Amerika und Europa aufgekommen. Als Begründer dieses interdisziplinären Gebiets gilt der Physiker und Theologe Ian Barbour (*1923),[1] der 1966 das grundlegende Werk Issues in Science and Religion veröffentlichte.

Das themenübergreifende universitäre Fach untersucht die Beziehungen der beiden konkurrierenden Ansichten. Zudem werden neue Konzepte und Modelle erarbeitet, die das Verhältnis der beiden Sichtweisen zu relativieren versuchen.

Ein Beispiel hierfür ist die neurowissenschaftliche Erforschung der Meditation, einer weit verbreiteten spirituellen Praxis im Hinduismus und Buddhismus. Meditation beeinflusst den Bewusstseinszustand und somit, naturwissenschaftlich nachweisbar und folgerichtig, die Aktivität des Gehirns.[2]

Zu den bedeutenden Vertretern dieses umfassenden Gebiets im deutschsprachigen Raum gehören derzeit der Theologe Hans Küng (*1928) sowie die Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker (1912-2007) und Hans-Peter Dürr (*1929).

Neben der universitären Forschung beschäftigen sich auch religiöse Institutionen mit der Frage des Verhältnisses zwischen Wissenschaften und Religion, sowie Autoren von Esoterika und New Age-Literatur.

Interaktionsmodelle

Um die verschiedenartigen Verhältnisse zwischen Wissenschaft und Religion besser einordnen zu können, erarbeiteten verschiedene Forscher Interaktionsmodelle, so die vier Beziehungsmodelle Konflikt, Kontrast, Kontakt, Konfirmation von John Haught, die acht Modelle von Ted Peters, die in vier Konfliktmodelle und vier Kooperationsmodelle geteilt werden. Auch Ian Barbour spricht von vier Modellen.[3] Diese Interaktionsmodelle ermöglichen eine wissenschaftlichere Fokussierung der vielfältigen Beziehungen, anstelle der öffentlichen Wahrnehmung, die sich lediglich auf die medienwirksame Konfliktmodelle konzentriert.

Konflikt- / Konfrontationsmodell

Ein Konfliktmodell entsteht aus einer Haltung, die entweder Naturwissenschaft oder Religion ausklammern oder vereinnahmen will. Solche Modelle führen oft zu heftigen Konflikten.

Naturwissenschaftlicher Materialismus: Diese Sichtweise vertritt die Ansicht, dass die materielle Welt die einzig existierende Wirklichkeit sei (Reduktionismus) und allein von der modernen Naturwissenschaft methodisch korrekt untersucht werde. Der transzendenten Wirklichkeit der Religion wird dabei häufig jede Existenzberechtigung abgesprochen. Vertreter dieser Richtung sind der Astrophysiker Stephen Hawking (*1942) oder der Biologe Richard Dawkins (*1941).

Naturwissenschaftlicher Imperialismus: Im Zusammenhang mit religiösen und spirituellen Erscheinungen und Erfahrungen, wie z.B. Gotteserfahrungen, werden mit Hilfe der Naturwissenschaft Hypothesen formuliert und überprüft. Gott wird in diesem Modell zum Teil anerkannt, erfüllt aber manchmal auch die Rolle eines „Lückenbüßergottes“, mit dessen Hilfe naturwissenschaftlich Unerklärbares, z.B. Unendlichkeit, „erklärt“ werden soll. Zu dieser Richtung gehört der Inder Gopi Krishna (1903-1984), der die Biologie auffordert, die Phänomene der Kundalini-Erweckung naturwissenschaftlich zu erforschen.[4] Hierher gehören auch Versuche und Diskussionen, Religion zumindest abstrakt als Stufe der psychischen oder sozialen Entwicklung der Menschheit einzuordnen. Viele klassisch religiöse Begriffe wie z.B. Ewigkeit sind in der Naturwissenschaft nicht definiert und somit nicht Gegenstand der Forschung.

Kirchliche Autorität: Lange Zeit beanspruchte der Vatikan das Recht, das letzte Wort auch im Bereich des naturwissenschaftlichen Wissens zu haben. Zwar erlaubte er früher diesbezügliche Forschungen, schritt aber bei Fragen, die direkt den Wahrheitsgehalt der Bibel oder die Autorität der Kirche in Frage stellen könnten, mehrmals „korrigierend“ ein. Bekannte „Fälle“ sind Galileo Galilei und der Darwinismus. Diese kirchliche Haltung hat später, v.a. seit dem auslaufenden 19. Jahrhundert und bis heute, seitens mancher naturwissenschaftlichen Vertreter auch zur Ablehung oder sogar zur Auflehnung gegen religiöse Erklärungsmodelle bezüglich der göttlichen bzw. transzendenten Wirklichkeit geführt.

Religiöser Fundamentalismus: Im frühen 20. Jahrhundert entwickelte sich in den USA der religiös-fundamentalistische Kreationismus, der noch heute den naturwissenschaftlich begründeten Darwinismus kritisiert, wodurch ein breites Konfliktpotential entstand, besonders in Nordamerika und Australien. Eine „sanftere“ Sichtweise spricht von Intelligent Design, das in der Natur zu erkennen sei und auf einen intelligenten Urheber verweise.

Kontrast- / Koexistenzmodell

Das Koexistenzmodell oder Modell der "Zwei Sprachen" betrachtet Naturwissenschaft und Religion als zwei unabhängige verschiedene Sichtweisen, die sich ergänzen, aber nicht direkt in Übereinstimmung gebracht werden können. Hiernach ist Naturwissenschaft für die Erklärung der realen materiellen Welt zuständig, Religion aber für die transzendentale Wirklichkeit, wobei beide nötig sind, wie der Physiker Albert Einstein (1879-1955) formulierte: »Naturwissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Naturwissenschaft ist blind.« (Science without religion is lame, religion without science is blind.).[5]

Hans Küng spricht vom Komplementaritätsmodell und fordert, dass »alle illegitimen Übergänge vermieden werden und alle Verabsolutierungen abglehnt werden«. Theologen und Naturwissenschaftler sollten sich gegenseitig kritisch hinterfragen, um so Fehlinterpretationen zu revidieren.[6]

Dialogmodell

Bei Dialogmodellen überschneiden sich Fragen der Naturwissenschaft und der Religion an mehreren Punkten. Fragestellungen werden demnach aus der Sicht der Naturwissenschaft und aus der Sicht der Religion untersucht und die Ergebnisse gegeneinander abgewogen. Dieses Modell von Interaktion zwischen Wissenschaft und Religion ist allgemein wenig verbreitet, gewinnt aber in der Ethikfrage, die sich heute aufgrund des immer größeren Ressentiment weiter Bevölkerungsteilen bezüglich Nuklear- und Gentechnologie, breit macht, an Bedeutung.

Integrationsmodell

Das Integrationsmodell beschreibt neue Ansätze, moderne Erkenntnisse der Naturwissenschaften mit religiösen oder spirituellen und sogar – aber von der Religion meist abgelehnten[7][8] – esoterischen Meinungen zu vereinen. So gibt es Modelle, die besagen, dass die Schöpfungsgeschichte des 1. Buch Mose (Licht > Pflanze > Tier > Mensch) und der Darwinismus sich gegenseitig bestätigen würden. Besonders in der New Age-Bewegung werden immer wieder neue Modelle entworfen, die Naturwissenschaft und Religion/Spiritualität als ein harmonisches Gebilde zusammenbringen versuchen.

Dem Integrationsmodell zugeordnet werden auch die Evolutionstheologie von Teilhard de Chardin (1881-1955) und die Prozessphilosophie von Alfred North Whitehead (1861-1947).

Aktuelle Themen

Kosmologie

Das Modell vom Urknall vermag die Entstehung des Universums wissenschaftlich zu beschreiben. Was jedoch die Ursache des Urknalls betrifft, existieren lediglich verschiedene Hypothesen.[9] Anstelle eines zufällig entstandenen Kosmos bietet sich dem Gläubigen Gott als "geistiger Urgrund, Urhalt und Ursinn von Welt und Mensch" an.[10]

Des Weiteren wird argumentiert, dass die geringste Abweichung der Feinabstimmung der Naturkonstanten zu einem lebensfeindlichen Kosmos geführt hätten [11], weshalb von Physikern die nicht beweisbare Hypothese des Multiversums entwickelt wurde. Auch das Anthropische Prinzip wird als möglicher Erklärungsansatz angeführt. Vielfach wird auch bestritten, dass eine solche Feinabstimmung überhaupt existiert.[12] Von theologischer Seite wird argumentiert, dass diese Feststellung darauf hindeute, dass eine Göttliche Vorsehung beim Urknall mitgewirkt habe, damit auf der Erde überhaupt Leben entstehen konnte.

Siehe auch: Kritik und Diskurs der teleologischen und theologischen Erklärung der Feinabstimmung der Naturkonstanten

Evolutionsbiologie

Die Auseinandersetzungen zwischen biblischem Schöpfungsglauben und der Evolutionstheorie Darwins bildeten die härtesten Fronten; dabei kam es aber auch zu verschiedenen Integrationsmodellen.

Während eine grundsätzliche Ablehnung der Evolutionstheorie heute lediglich auf Missverständnissen oder religiösem Fundamentalismus beruht,[13] vertritt die Mehrheit der europäischen katholischen und protestantischen Theologen den Gedanken einer theistischen Evolution. Sie gehen davon aus, dass Gott „seine Welt“ nicht nach einer einmaligen Schöpfung „verlassen“ habe, sondern in einer Creatio Continua (»fortgesetzte Schöpfung«) auf meist verborgene Weise seine Schöpfung erhalte und möglicherweise auch in diese eingreife. Diese Auffassung schließt dann freilich auch die naturwissenschaftlich erkennbare Welt mit ein.

Genetik

Die Disziplin der Genetik löste vor allem in der Ethikfrage starke Diskussionen aus. Dabei verliefen die Fronten allerdings nicht nur zwischen Naturwissenschaftlern und Theologen, die Themen stießen auch auf starkes öffentliches Interesse. 1995 war das Jahr der Kontroverse, ob Wissenschaftler Patente auf Informationen bezüglich des menschlichen Genom erhalten dürfen[14], zwei Jahre später ging es um das Klonen von Lebewesen[15] und 2000 um embryonale Stammzellen[16]. Fragen, wie weit darf der Mensch »Gott spielen« oder in die Natur eingreifen und wem das menschliche Erbgut gehöre, lösten in den Medien ein breites Echo aus. Während der Vatikan die Forschung an embryonalen Stammzellen als moralisch illegitim verurteilt, argumentieren gemäßigte Protestanten, dass die christliche Nächstenliebe verlange, menschliche Gesundheit und Wohlbefinden zu verbessern, auch mit embryonalen Stammzellen. Auch jüdische Ethiker vertreten die Meinung, Gott erlaube es, embryonale Stammzellen für therapeutische Zwecke einzusetzen.[17]

Konfrontationsmodelle

Sowohl die Naturwissenschaft als auch die Religion haben den Anspruch, „wahre“ Aussagen über die Welt bzw. über die „Gesamtwirklichkeit“ zu machen. Und hierin kann es zu Konflikten zwischen beiden Sichtweisen kommen. Religion beruht in ihrem Kern auch auf der „Wahrheit“ einer wissenschaftlich nicht beweisbaren, transzendenten Wirklichkeit, die der Mensch meint, in einer von Gott gegebenen Offenbarung (z.B. Christentum, Judentum oder Islam) oder in eigener mystischer, meditativer Versenkung (z.B. Buddhismus, Hinduismus) zu erfahren. Die Naturwissenschaft erhebt den Anspruch, dass ihre „Wahrheiten in Raumzeit“ durch wiederholbare Experimente jederzeit überprüfbar sind, zumindest auf der elementaren Ebene; anders ist es bei komplexen Theorien sowie bei historischen Rückschlüssen.

Zur Debatte steht, wie diese Überschneidungen eingeordnet werden. Lange Zeit wurde eine prinzipielle Unvereinbarkeit beider Zugangsweisen angenommenen. In neuerer Zeit gehen einige europäische Theologen und Naturwissenschaftler davon aus, dass Naturwissenschaft und Theologie jeweils ihre Berechtigung in ihrer eigenen Domäne haben, da sie die (Gesamt–)Wirklichkeit auf unterschiedliche Weisen deuten und dass ein Dialog fruchtbar sei. Es gibt besonders im angelsächsischen Raum auch philosophisch-theologische Entwürfe, die beide Bereiche vereinen möchten.

Religion beansprucht Bereiche der Naturwissenschaft

Im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit beginnen sich die Naturwissenschaften von der theologischen Weltdeutung zu emanzipieren. Im Hintergrund dieser Entwicklung steht wohl die im Spätmittelalter erstarkende philosophische Richtung des Nominalismus, der sich mit dem Universalienproblem befasste.

Giordano Bruno (1548-1600) vertrat als einer der ersten in Kenntnis der Forschungen des Nicolaus Copernicus, dass der Kosmos nicht um die Erde als Mittelpunkt gebaut ist, sondern unendlich ist und die Sonne das Zentrum des Sonnensystems ist. Damit bestritt er die damalige Auffassung von der Besonderheit der Erde als Wohnort des Menschen.

Galileo Galilei (1564-1642) unterstützte mit Hilfe von Beobachtungen mit einem Fernrohr das heliozentrische Weltbild des Nicolaus Copernicus. Er meinte dieses beweisen zu können und bemühte sich daher, es zu propagieren. Von der römisch-katholischen Kirche, die ihre Deutungshoheit für die Wissenschaft bedroht sah, wurde Galilei gezwungen, seine Ansicht zu widerrufen und ab 1633 unter Hausarrest gestellt. Durch Forschungen weiterer Wissenschaftler wurde das heliozentrische Weltbild jedoch bald stillschweigend von der Kirche toleriert. Galilei wurde aber erst am 2. November 1992 von Papst Johannes Paul II. offiziell rehabilitiert.

Ein weiterer Konflikt zwischen christlichen Kirchen und Vertretern der Naturwissenschaft, bei der die Kirchen ihr Verständnis von der Schöpfung bedroht sahen, ergab sich durch die Entwicklung der Evolutionstheorie durch Charles Darwin (1809-1882). Ihm zufolge entstanden die Tier- und Pflanzenarten der Erde nicht in einem siebentägigen Schöpfungsakt, wie eine wörtliche Interpretation der Bibel nahelegt, sondern durch Jahrmillionen andauernde Prozesse der Anpassung an den Lebensraum durch Variation und natürliche Selektion. In seinem Werk The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex (1871) stellte Darwin die These auf, dass der Mensch wie die Tiere ebenfalls dem Prozess der Evolution unterworfen ist und gemeinsame Vorfahren mit dem Affen hat. Diese Auffassung führt bis heute zu heftigen Kontroversen, da nach religiösen Erklärungsmodellen der Mensch nicht ausschließlich in einem sterblichen, physischen Daseinzustand, sondern zugleich auch in einem ewigen, göttlichen Seinszustand existiere. Die unzulässige Einmischung sahen und sehen bis heute die Kirchen in der Behauptung Darwins, seine Erklärung mit der Evolutionstheorie würde für den „ganzen“ Menschen gelten, also auch – nach theologischer Erklärung – für das ewige, unsterbliche Gotteskind im Menschen, welches auch nach dem Tod des biologischen Körpers in der jenseitigen Wirklichkeit weiterleben würde. Noch heute lehnen Kreationisten die Evolutionstheorie insgesamt ab, also auch bezüglich des sterblichen, biologischen „Anteils“ am Menschen, und vertreten stattdessen eine direkte göttliche Erschaffung von allen Pflanzen, Tieren und Menschen.

Naturwissenschaft beansprucht Bereiche der Religion

Als Folge des von Auguste Comte (1798–1857) begründeten Positivismus hat die Religion für viele ihre Existenzberechtigung verloren. Dabei wird davon ausgegangen, dass Religion bestenfalls noch die „Lücken fülle“, für welche die Naturwissenschaft noch keine hinreichenden Erklärungen gefunden hat. Im Szientismus wird die Meinung vertreten, dass das „Wissen“ der Naturwissenschaft dem „Glauben“ der Religion überlegen sei und potenziell ausreiche um die Welt zu erklären. Die Religion befinde sich auf einer niedrigeren Stufe der Entwicklung des Wissens (Drei-Stadien-Gesetz).

Im 20. Jahrhundert wurde Comtes Thesen vom Neopositivismus aufgegriffen und weiterentwickelt. Der Theologe Hans Küng (*1928) wirft dieser vor, in philosophisch oft unreflektierter Weise der Wissenschaftstheorie gleichsam als Weltanschauung zu dienen, obwohl die Verifikationsmethode schon Mitte des Jahrhunderts von Karl Popper (1902-1994) logisch widerlegt werden konnte.[18]

Koexistenzmodelle

Karl Popper stellte mit seinem Falsifikationismus heraus, dass jede naturwissenschaftliche Erkenntnis prinzipiell falsifizierbar sein muss, um wissenschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen, womit der naturwissenschaftlichen Weltdeutung Grenzen gesetzt werden. Somit sind Aussagen, die ein Naturwissenschaftler über die Wirklichkeit macht, stets vorläufig und müssen mit der Möglichkeit rechnen, durch andere Aussagen, durch bessere Theorien widerlegt zu werden. Auch die Heisenbergsche Unschärferelation setzt der Berechenbarkeit von subatomaren Teilchen eine klare Grenze, genau so wie der Gödelsche Unvollständigkeitssatz auf die Grenzen mathematischer Beweisführung in endlichen Systemen hinweist[19]. Ein radikales Vertreten einer (neo)positivistischen Position kann somit als genauso sinnig oder widersinnig wie eine wörtliche Auslegung der biblischen Schöpfungsgeschichte betrachtet werden.

Umgekehrt hat die Naturwissenschaft, wo es um die Erklärung von Naturphänomenen oder die Erleichterung des menschlichen Lebens durch technische Hilfsmittel geht, der theologischen Weltdeutung in der Frühen Neuzeit immer wieder deutlich die Grenzen der Religion aufgezeigt.

Hans Küng und andere zeitgenössische Denker folgern aus diesen aufgezeigten Grenzen von Religion und Naturwissenschaft, dass beide auch heute gleichberechtigt sind und sich komplementär zueinander verhalten. Sie machen demnach Aussagen über verschiedene Ebenen der Wirklichkeit. So würde sich die Theologie heute z.B. lächerlich machen, wenn sie versuchte, die Vorgänge in einem Atomkraftwerk mit der Bibel oder dogmatischen Überlegungen zu erklären, wohingegen existenzielle Menschheitsfragen wie: „Woher kommen wir?“, „Was ist der Sinn des Lebens?“, auch heute noch Domänen der Religion und/oder der Philosophie sind.

Der Neutestamentler Gerd Theißen drückt es so aus:

Die Naturwissenschaft fragt nach dem Faktischen, die Theologie nach Sinn und Wert.[20]

Eine ähnliche Ansicht wurde auch vom Paläontologen und Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould vertreten (siehe Nonoverlapping Magisteria, kurz NOMA).

Kritiker von NOMA, wie etwa der britische Evolutionsbiologe und Atheist Richard Dawkins, sehen darin lediglich eine Möglichkeit für Theologen, sich der Überprüfbarkeit zu entziehen. Ferner, so Dawkins, sei eine solche Trennung in verschiedene Bereiche schlicht nicht möglich. Ein göttliches Wesen, das auf irgendeine Weise mit dem Weltgeschehen interagiert, betrete damit zwangsläufig naturwissenschaftliches Terrain. Außerdem seien Fragen, die von der Naturwissenschaft nicht im Prinzip beantwortet werden können, der Theologie ebenso unzugänglich.[21]

Dialogmodelle

Die christliche Religion erhebt den Anspruch, sich auf das Ganze der Wirklichkeit zu beziehen und es als Schöpfung Gottes zu erklären. Dabei umfasst die Religion nicht nur die von den Wissenschaften und ihren Gesetzen darstellbare Wirklichkeit, sondern auch die Wirklichkeit Gottes jenseits von Raum und Zeit.

Dagegen versuchte und versucht die Naturwissenschaft fortgesetzt, dem „Phänomen Religion“ und ihren Erscheinungsbildern, wie beispielsweise Gotteserfahrung, mystisches Erlebnis, Transfiguration, Illumination oder Inspiration, mit ihren empirischen Mitteln auf den Grund zu gehen. Zahlreiche diesbezügliche Versuche sind gescheitert und in der Diskussion stecken geblieben, z.B. auch solche, die in Zusammenhang mit theologisch erklärbaren Phänomenen wie Ich–Erkenntnis, Gewissen oder freier Wille stehen. Dazu gehören etwa gescheiterte oder umstrittene Versuche, von der Religion beschriebene transzendente Erfahrungen ausschließlich mit Hilfe von Drogen oder eines Magnetfeldes zu „produzieren“ (vgl. z.B. Religionshelm von Michael Persinger). Die aufgeschlossene Religion/Theologie akzeptiert diese und andere Versuche, solange Naturwissenschaft nicht selbst „religiöse“, „weltanschaulich-geprägte“ Generalisierungen oder gar naturwissenschaftlich unzulässige Einmischungsversuche in die Theologie vornimmt. Vor dem Hintergrund einer pluralistischen Welt nennen es Religion und Theologie heute auch einen Ausweis von Glaubwürdigkeit, wenn sie solche Anfragen der Naturwissenschaft als Herausforderung sehen und mit ihr in Dialog treten. Bekannt sind die Anfragen der klassischen Religionskritik an den religiösen Glauben. Eine Auseinandersetzung mit diesen Fragestellungen wird als Hilfestellung angesehen, wahren Glauben vom „Ideologieverdacht“ zu befreien.

Hier einige Beispiel für eine diesbezügliche Dialogmöglichkeit: Der französische Religionsphilosophe Pascal Boyer versucht evolutionsbiologisch die Religion als eine Art „Urlaub“ des Gehirns zu erklären. Religion habe im Gehirn keinen bestimmten „Ort“, sie nutze dieselben kognitiven Systeme, die dem Bewusstsein nicht zugänglich seien, aber die auch bei kreativen Tätigkeiten genutzt werden [22]. Eine wichtige Anfrage stellen inzwischen zahlreiche neuere Erkenntnisse der Hirnforschung über die Gehirnprozesse bei bewussten Entscheidungen dar. Sie zeigen auf, dass z.B. schon vor der bewussten Entscheidung eines Probanden, seine Hand zu bewegen, eine unbewusste Gehirnaktivität auftritt. Immer mehr Forscher, v.a. in Medizin und Psychologe, deuten diese neuen Erkenntnisse so, dass der Mensch keine Willensfreiheit habe und diese nur Illusion sei. Diese Auffassung stellt freilich eine große Herausforderung für die Menschheit dar, die in der Regel – ähnlich oder gleich der Theologie – einen zu gut und böse fähigen und für sein Tun verantwortlichen Menschen annimmt. (→Siehe auch:Willensfreiheit#Hirnforschung). Dem gegenüber kann die Theologie ein Erklärungsmodell stellen, wonach der freie Wille ohne eine zweite Instanz, die neben dem biologischen Dasein existiere, gar nicht möglich wäre. Diese zweite Instanz erklärt die Theologie mit dem göttlichen Dasein des Menschen in Gott. Demnach würde sowohl die oben genannte „vorprogrammiert“ biologische als auch die religiös transzendente Wirklichkeit im Menschen jeweils eine Alternative bei Handlungen zur Verfügung stellen, eben eine biologisch- und eine göttlich-motivierte. Der freie Wille käme somit zum Ausdruck, weil der Mensch zumindest zwischen diesen beiden Alternativen frei entscheiden könne.

Auch Versuche der Soziologie, eminent sei hier Niklas Luhmann genannt, religiöse Phänomene als Funktionen in einer Gesellschaft zu interpretieren, stellen Anfragen an die Theologie.

Auch die Naturwissenschaft kann von Anfragen der Theologie profitieren. Die religiöse Überzeugung, dass der Mensch als Ganzes Gottes Schöpfung ist, kann überall dort als kritisches Korrektiv dienen, wo Menschen durch Forschung, Arbeitswelt oder Technik primär verzweckt werden sollen. Sehr umstrittene Beispiele wären: das Klonen von Menschen als „Ersatzteillager“ für Organe oder die umstrittene Beihilfe zur Tötung alter oder todkranker Menschen (aktive Sterbehilfe).

In vielen Fällen kann die Theologie einerseits vor einem entmenschlichenden Umgang mit naturwissenschaftlicher Erkenntnis warnen und Grenzen der menschen(un)würdigen Machbarkeit aufzeigen. Andererseits kann sie auch Sinnperspektiven, z.B. vor dem Hintergrund der christlichen Nächstenliebe und Barmherzigkeit, aufzeigen und anbieten, die die menschliche Hoffnung auf eine bessere Welt und auf Gerechtigkeit in Liebe ausdrücken. D.h., sie kann einen wissenschaftlichen Dialog mit der Naturwissenschaft auch in denjenigen Kategorien führen, die in der Theologie Forschungsgegenstand sind aber in der Naturwissenschaft keine Existenz haben.

Einen Anknüpfungspunkt stellt auch das anthropische Prinzip dar. Zwar ist die Annahme, der Kosmos sei auf die menschliche Erkenntnisfähigkeit hin ausgerichtet, kein Beweis, dass der Mensch im Kosmos gewollt sei [23]. Für den Glaubenden kann dies aber eine Stütze im Glauben an eine Sinnhaftigkeit des Daseins sein.

Die Wirklichkeit, von der wir sprechen können, ist nie die Wirklichkeit an sich, sondern […] eine von uns gestaltete Wirklichkeit. Wenn […] eingewandt wird, dass es schließlich doch eine objektive, von uns und unserem Denken völlig unabhängige Welt gebe, […] so muss diesem […] entgegengehalten werden, dass schon das Wort »es gibt« aus der menschlichen Sprache stammt und daher nicht gut etwas bedeuten kann, das gar nicht auf unser Erkenntnisvermögen bezogen wäre. Für uns gibt es eben nur die Welt, in der das Wort »es gibt« einen Sinn hat.“

W. Heisenberg: In: Physik und Philosophie. S. Hirtzel, Stuttgart 1959.

Integrationsmodelle

Evolutionstheologie (Teilhard de Chardin)

Ausführlicher siehe: Teilhard de Chardin

Der Theologe, Naturwissenschaftler und Mystiker Teilhard de Chardin (1881-1955) ging davon aus, dass der Kosmos eine zielgerichtete Entwicklung durchlaufe. Der Drang zur Vereinigung brachte die Materie dazu, sich komplexeren Formen und Molekülen (Kosmogenese) zusammenzuballen, was schließlich zur Entstehung des Lebens führte. Die Prozesse der biologischen Evolution gipfelten darin, dass sich der Mensch und das menschliche Bewusstsein entwickelte (Noogenese).

Doch der Mensch ist für Teilhard nicht die Endstufe der zielgerichteten Evolutionsbewegung. Durch soziale Evolution wird sich auch der Mensch weiterentwickeln. Ziel dieser Entwicklung werde eine vergeistigte Einheit alles Seienden sein, die er „Punkt Omega“ nennt. Die Entwicklung zum „Punkt Omega“ hin wird durch Jesus Christus bereits angezeigt und vorweggenommen (Christogenese). Triebfeder dieses gesamten evolutionären Prozesses ist das Prinzip der Liebe, das letztendlich eine Einheit von Gottes- und Weltwirklichkeit hervorbringen wird.

Prozessphilosophie (Whitehead)

Ausführlicher siehe: Whitehead, Charakterisierungen und Folgen

Alfred North Whitehead (1861-1947) erhebt mit seiner Prozessphilosophie den Anspruch, Naturwissenschaft, Theologie und Philosophie in einem Begriffssystem zu vereinen. Materie, Gedanken oder Wünsche sind nach ihm gleich wirklich. Nicht kleinste, feste Atome, sondern ständiger Wandel, der Wechsel von Ereignissen sind der Kern der Wirklichkeit. Das In-Beziehung-Stehen nennt Whitehead als unteilbare Grundeinheit aller Wirklichkeit „wirkliche Einzelwesen“. Auch Materie ist nach ihm nichts anderes als die sich wiederholende Abfolge von Ereignissen. Gott zeigt sich in Whiteheads System im „kreativen Akt“ eines wirklichen Einzelwesens. Damit transzendiert es sich selbst. Dieses Transzendieren kann nur als in Beziehung zu einem Anderen gedacht werden, da alles ja nur „Beziehung“/Ereignis ist. Dieser Gott, dieses Andere umfasst daher alle Möglichkeiten der Welt und geht über sie hinaus (Transzendenz), ermöglicht zugleich aber immanent deren „Ordnung im Werden“. Whiteheads Philosophie wurde von seinem Schüler Charles Hartshorne (1897-2000) in der Prozesstheologie theologisch weiterentwickelt.

Literatur

  • J. Wenzel Vrede van Huyssteen (Hrsg.): Encyclopedia of Science and Religion. Vol. 2. Thomson Gale, 2003, ISBN 0-02-865706-3, S. 746-775.
  • Lindsay Jones (Hrsg.): Encyclopedia of Religion. Vol. 12. 2. Ausgabe. Thomson Gale, Detroit 2005, ISBN 0-02-865981-3, S. 8180-8191.
  • J. Gordon Melton, Martin Baumann: Religions of the World. Vol. 6. 2. Ausgabe. ABC-CLIO, Santa Barbara 2010, ISBN 978-1-59884-203-6, S. 2550-2557.
  • Pascal Boyer: Und Mensch schuf Gott. 2. Auflage. Klett-Cotta, 2009, ISBN 978-3-608-94032-9.
  • Tonke Dennebaum: Urknall Evolution Schöpfung: Glaube contra Wissenschaft? Echter, 2008, ISBN 978-3-429-03034-6.
  • Hans-Peter Dürr, Raimon Panikkar: Liebe - Urquelle des Kosmos. Herder, Freiburg 2008, ISBN 978-3-451-05965-0.
  • Max Jammer: Einstein und die Religion. Univ.-Verlag, Konstanz 1995, ISBN 3-87940-484-4.
  • Hans Küng: Der Anfang aller Dinge: Naturwissenschaft und Religion. 3. Auflage. Prometheus Books, Amherst NY 2008, ISBN 978-1-59102-652-5.
  • Samuel Leutwyler u. a.: Spiritualität und Wissenschaft. Hochschulverlag, Zürich 2005, ISBN 3-7281-2964-X.
  • Andreas Losch: Jenseits der Konflikte. Eine konstruktiv-kritische Auseinandersetzung von Theologie und Naturwissenschaft. Vandenhoeck&Ruprecht, Göttingen 2011, ISBN 978-3-525-56366-3.
  • Tobias Daniel Wabbel: Im Anfang war kein Gott: Naturwissenschaftliche und theologische Perspektiven. Patmos, 2004, ISBN 3-491-72477-5.
  • Carl Friedrich von Weizsäcker: Christlicher Glaube und Naturwissenschaft. In: Evangelische Stimmen zur Zeit Heft 2 1959. Evangelische Verlagsanstalt, Berlin.
  • Ken Wilber: Naturwissenschaft und Religion. Frankfurt a. M. 1998, ISBN 3-596-18659-5.

Weblinks

  • Alvin Plantinga: Religion and Science. In: Stanford Encyclopedia of Philosophy. 20. Februar 2007. Abgerufen am 13. August 2011.
  • Bradley Sickler: Conflicts Between Science and Religion. In: The Internet Encyclopedia of Philosophy. 11. Februar 2009. Abgerufen am 13. August 2011.
  • Andreas Losch: Was steckt dahinter? (PDF; 607 kB) Eine konstruktiv-kritische Anfrage an Ian G. Barbours Typologie der Verhältnisbestimmungen von Theologie und Naturwissenschaften

Einzelnachweise

  1. J. Gordon Melton, Martin Baumann (Hrsg.): Religions of the World. V. 6, S. 2550f.
  2. Antoine Lutz u. a.: Long-term meditators self-induce high-amplitude gamma synchrony during mental practice. doi:10.1073/pnas.0407401101
  3. J. Wentzel Vrede van Huyssteen (Hrsg.): Encyclopedia of Science and Religion. Vol 2. 2003.
  4. Gopi Krishna, Carl Friedrich von Weizsäcker: Biologische Basis der Glaubenserfahrung. 1971.
  5. Nature. 146 (1940), S. 605-607.
  6. Hans Küng: Der Anfang aller Dinge. 2008, S. 57.
  7. Katechismus der Katholischen Kirche
  8. Glaubens-ABC der EKD
  9. Thomas Thiemann: Was war vor dem Urknall?. Wissenschaft im Dialog. Abgerufen am 4. Juni 2013.
  10. Hans Küng: Der Anfang aller Dinge. 2008, S. 177.
  11. Charles H. Townes: Warum sind wir hier? - Wohin gehen wir?; in: Im Anfang war kein Gott; Patmos, Düsseldorf 2004. ISBN 3-491-72477-5. S. 29-44
  12. V. J. Stenger: Natural Explanation For The Anthropic Coincidences. (PDF; 64 kB)
  13. Richard Dawkins: Die Schöpfungslüge. Ullstein 2010
  14. Patents - Is The Human Genome Patentable?, Law Library (englisch)
  15. Jetzt wird alles machbar, Der Spiegel 1997
  16. Stammzellenforschung in Deutschland. iPS-Zellen als Chance?, wissensschau.de 2010
  17. Embryonale Stammzellen. Religionen uneins über Lebensrecht des Embryos, wissensschau.de 2011
  18. Hans Küng: Der Anfang aller Dinge. 2008, S. 112f.
  19. Hans Küng: Der Anfang aller Dinge …. S. 46.
  20. Gerd Theißen: Evolution. In: Tobias Daniel Wabbel: Im Anfang war (k)ein Gott: Naturwissenschaftliche und theologische Perspektiven. Patmos, 2004, ISBN 3-491-72477-5, S. 150.
  21. Richard Dawkins: Der Gotteswahn. Ullstein 2008, S. 78 ff.
  22. Pascal Boyer: Und Mensch schuf Gott. 2009, S. 67.
  23. Gerd Theißen: Evolution. In: Im Anfang war (k)ein Gott …. S. 151.