Antwort auf Darwins Frage: Wie und wie schnell entstehen neue Arten?



Bio-News vom 28.10.2020

In einem „Nature“-Artikel beantwortet der Evolutionsbiologe Axel Meyer von der Universität Konstanz mit Hilfe der Analyse von fast 500 Genomen Fragen zur genetischen Basis von Anpassungen, Unterschieden zwischen Arten und den Mechanismen der Artenbildung

Wie und wie schnell entstehen neue Arten? Der Beantwortung dieser fundamentalen Fragen in der Biologie ist der Evolutionsbiologe Prof. Axel Meyer, Ph.D., von der Universität Konstanz mit seinem Team einen entscheidenden Schritt nähergekommen. Nach Auswertung eines umfangreichen genetischen Datensatzes, der in jahrelanger Forschung an extrem jungen Arten von Buntbarschen in Kraterseen Nicaraguas gesammelt wurde, zeigt sich, dass die evolutionäre Diversifizierung einer Population im selben geografischen Gebiet zu einer neuen Art wahrscheinlicher ist, wenn viele Gene im gesamten Genom daran beteiligt sind, artunterscheidende Anpassungen hervorzubringen. Was seit Darwin nicht bekannt war: Neue Arten können innerhalb von nur wenigen hundert Jahren entstehen. Dies widerspricht der bislang gängigen Theorie, dass Artentstehung langsam ist und ökologisch wichtige Artunterschiede mit einfacher genetischer Architektur im Sinne nur einzelner oder weniger beteiligter Gene zwangsläufiger zur Bildung einer neuen Art führen als auf polygenischer Basis, bei der viele Gene mit je kleinem Effekt zusammenwirken. Letztendlich geht es um die Frage, die sich Darwin schon gestellt hat: Was ist eine Art, und wie, warum und wie schnell entstehen neue Arten?


Buntbarsche in einem Kratersee Nicaraguas

Publikation:


Andreas F. Kautt, Claudius F. Kratochwil, Alexander Nater, Gonzalo Machado-Schiaffino, Melisa Olave, Frederico Henning, Julian Torres-Dowdall, Andreas Härer, C. Darrin Hulsey, Paolo Franchini, Martin Pippel, Eugene W. Myers, Axel Meyer
Contrasting signatures of genomic divergence in rapidly speciating crater lake cichlid fishes
Nature

DOI: 10.1038/s41586-020-2845-0



Welche und wie viele Gene sind an der Entstehung neuer Arten beteiligt?

Die Frage nach der Entstehung neuer Arten wird in der Genetik übersetzt in: Wie sieht das Muster der Veränderungen im Genom aus, das dazu führt, dass neue Arten entstehen? Was passiert genetisch während des Kontinuums von anfänglich keinen Unterschieden innerhalb einer Population bis hin zu der abgeschlossenen Artbildung von fortpflanzlich getrennten Arten? Axel Meyer forscht seit seiner Doktorarbeit in den 1980er Jahren an der University of California, Berkeley, USA, und seit Ende der 1990er Jahre an der Universität Konstanz an der Frage, welche und wie viele Gene oder Genloci – das sind Regionen auf dem Genom – an der Entstehung von Adaptationen (Anpassungen) und neuen Arten beteiligt sind.

Der Fokus liegt dabei auf der Studie von sehr jungen Arten von Buntbarschen, die oft nur wenige hundert Generationen alt sind und in Kraterseen in Nicaragua leben. Obwohl alle Fische von denselben älteren Ursprungspopulationen aus den beiden großen Seen Nicaraguas abstammen, dem Managua- und dem Nicaraguasee, gibt es in jedem einzelnen der Kraterseen Fischpopulationen oder gar kleinere Artenkomplexe von mehreren Arten, die ausschließlich in einem der kleinen Kraterseen leben, mit speziellen äußerlichen Unterschieden, die sich teilweise in mehreren Seen sehr ähnlich finden, also mehrfach unabhängig entstanden zu sein scheinen.

Verschiedene Phänotypen im selben Kratersee

Es gibt Fische mit ausgeprägten Lippen und solche ohne Lippen, goldfarbene und schwarzweiße Fische, Fische, die sich von anderen durch besonders schlanke Körper oder durch bestimmte zarte oder robuste Zahnformen unterscheiden. Diese Phänotypen sind innerhalb der Kraterseen, somit im selben geografischen Gebiet entstanden („sympatrische Artbildung“), ohne dass äußere Barrieren wie Flüsse oder Berge dies durch Begrenzung des Genflusses aufgrund von Genaustausch durch Fortpflanzung begünstigt hätten. Es handelt sich somit um keine „allopatrische Artbildung“.

Die Variationen mit den Lippen, der Farbe, der Körper- sowie der Zahnform im Schlundkiefer der Fische sind bereits in der Ursprungspopulation genetisch angelegt, wie Axel Meyer und sein Team (insbesondere Dr. Andreas Kautt, Dr. Claudius Kratochwil und Dr. Alexander Nater) zeigen konnten, nachdem sie aus jedem der kleinen Seen komplette Genome von insgesamt fast 500 Fischen analysiert hatten. Damit handelt es sich um keine unabhängig entstandenen neuen Mutationen, sondern um das Aussortieren und die selektive Auswahl von denselben Ursprungs-Genvarianten, die sich in den verschiedenen Seen wieder neu aussortiert haben. Bislang war man sich dabei nicht sicher, ob es sich um jeweils neue Arten handelt, die sich durch Anpassung an neue ökologische Umstände herausgebildet haben. Tatsächlich paaren sich die äußerlich unterschiedlichen Populationen in den Seen auch vorzugsweise jeweils untereinander.

Viele Gene bewirken viel

Für Ernst Mayr – den nach dem Urteil von Fachkollegen „Darwin des 20. Jahrhunderts“, der das biologische Artkonzept mit entwickelt hat, wäre das ein Indiz dafür gewesen, dass es sich um eine eigenständige Art handelt. (Der 2005 verstorbene Mentor Axel Meyers von der Harvard University erhielt 1994 von der Universität Konstanz eine Ehrendoktorwürde.) Die neuen Ergebnisse der Genomsequenzierung legen jedoch anderes nahe. Es stellte sich nach der Sequenzierung von über 450 Fischgenomen, Kreuzungsexperimenten und sogenannter Genomweiter Assoziationsanalyse (GWA) heraus, dass die auffälligen Unterschiede, wie etwa die Lippengröße und die Farbe, im Genom dieser Populationen durch nur ein bis zwei lokal sehr begrenzte Genom-Regionen nach den Mendelschen Regeln bedingt werden. Fische mit gleichem Lippen- oder Farbentyp pflanzen sich auch fast ausschließlich untereinander fort. Dennoch hat dies nicht zu genomweiten Unterschieden, die man zwischen Arten erwarten würde, geführt. Dagegen sind überraschenderweise die anderen sympatrischen Arten mit den phänotypisch weit weniger auffälligen Unterschieden in Körperform und spezieller Zahnform durch vielfach höhere genomweite genetische Unterschiede gekennzeichnet.

Das bedeutet, dass viele Gene an vielen Stellen des Genoms jeweils nur einen kleinen Beitrag zur genetischen Ausdifferenzierung leisten, deren Effekte sich aber über das gesamte Genom aufaddieren und zur Artentstehung führen. Die Anzahl der genetischen Unterschiede im gesamten Genom zwischen diesen jungen Arten ist zehnmal höher als beispielsweise zwischen den äußerlich sehr unterschiedlichen Polymorphismen der großlippigen oder goldenen gegenüber schwarz-weiß gestreiften Fischen, die deshalb auch keine Arten darstellen. Der vereinte Effekt vieler Gene bewirkt somit insgesamt stärker, neue Arten entstehen zu lassen. „Das hatten wir nicht erwartet. Es widerspricht auch großen Teilen der Theorie, nach der einzelne Loci mit großem Effekt auf das Äußere von Arten wie ausgeprägte Lippen oder Färbung schneller neue Arten entstehen lassen sollten“, sagt Axel Meyer. Es ist insbesondere überraschend, wenn sich die Loci ungewöhnlicherweise hier sowohl auf die Ökologie als auch auf die Partnerwahl auswirken. „Zumindest nach dem Kriterium des durchschnittlichen Unterschieds im gesamten Genom sind Fische, die sich äußerlich so auffällig unterscheiden, trotzdem keine unterschiedlichen Arten, sondern bleiben auf dem Kontinuum der Artbildung lediglich auf dem Niveau eines Polymorphismus (Vielgestaltigkeit) stehen.“

Kraterseen bieten sich als natürliches Experiment an

Die geographische Situation macht die untersuchten Kraterseen zu einem „natürlichen Experiment“. Die ursprünglichen Fischpopulationen stammen aus zwei viel älteren benachbarten Seen, zu denen es keinerlei Verbindung gibt, haben aber unabhängig voneinander diese Kette von Kraterseen besiedelt. Wann und wie Exemplare der Ursprungspopulation jeweils in die sieben kleineren Seen gelangten, lässt sich nur durch Simulationen errechnen. Es passierte aber vor nur wenigen hundert bis wenigen tausend Generationen, und es waren nicht sehr viele Fische, die die Kraterseen besiedelten. Die Entstehung von Arten kann sich also, wie hier gezeigt wurde, sehr viel schneller vollziehen als bisher gedacht. Der Evolutionsbiologe Meyer vergleicht die Seen mit Petrischalen, alle mit derselben genetischen Ausgangssituation geimpft, die über Generationen unabhängig evolvieren: „Es gibt nur ganz wenige Systeme in der Welt, wie die Galapagosinseln oder eben die Kraterseen in Nicaragua, die sich der Evolutionsforschung als natürliche Experimente anbieten.“


Diese Newsmeldung wurde mit Material der Universität Konstanz via Informationsdienst Wissenschaft erstellt

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