Der Knick in der Optik
Bio-News vom 02.08.2021
Wenn Menschen ein Objekt fixieren, kommt sein Bild nicht an der Stelle der Netzhaut zu liegen, an der die Zellen am dichtesten sind. Stattdessen ist seine Position etwas in Richtung Nase und nach oben verschoben, zeigt eine Studie. Die Forschenden untersuchten insgesamt 20 gesunde Versuchspersonen und spekulieren, dass dieses Fixationsverhalten hilft, insgesamt besser zu sehen.
Wir stellen uns das Auge gerne als eine Art Fotoapparat vor. Doch diese Analogie hinkt. Das wird beispielsweise offensichtlich, wenn man sich die Netzhaut ansieht – sozusagen den Licht-Sensor auf der Hinterwand des Auges. Bei Digitalkameras besteht dieser Sensor aus vielen Millionen Fotozellen, die gleichmäßig über die Sensorfläche verteilt sind. Jeder dieser Pixel ist gleich groß, und auch ihre Packungsdichte ist überall identisch.
Publikation:
J.L. Reiniger, N. Domdei, F.G. Holz, W.M. Harmening
Human gaze is systematically offset from the center of cone topography
Current Biology (2021)
DOI: 10.1016/j.cub.2021.07.005
In der menschlichen Netzhaut hingegen gibt es zwei Arten von Pixeln – die Stäbchen- und die Zapfen-Photorezeptoren. Während die Stäbchen uns das Sehen in der Dämmerung erleichtern, sind die Zapfen fürs Farbensehen und feine Details zuständig. Im Gegensatz zu ihren technischen Pendants sind sie sehr unterschiedlich groß und dicht. In der Sehgrube (lateinisch Fovea), der Stelle des schärfsten Sehens, kommen bis zu 200.000 Zapfen auf einen Quadratmillimeter; am Netzhaut-Rand dagegen nur etwa 5.000. Das ist, als hätte der Sensor einer Digitalkamera an verschiedenen Stellen eine unterschiedliche Auflösung.
Auch in der Fovea selbst variiert die Packungsdichte der Zapfen. Am größten ist sie im zentralen Teil der Sehgrube. Wenn wir ein Objekt fixieren, richten wir unsere Augen so aus, dass das Bild exakt an diese Stelle fällt – zumindest dachte man das bislang.
Dr. Wolf Harmening, Arbeitsgruppe für adaptive Optiken und visuelle Psychophysik, Universitäts-Augenklinik Bonn
Wir lassen die schärfste Stelle unserer Netzhaut „links liegen“
Denn ganz so ist es augenscheinlich nicht, wie Harmenings Mitarbeiterin Jenny Lorén Reiniger in aufwändigen Analysen im Rahmen ihrer Doktorarbeit festgestellt hat. Demnach ist das Bild gegenüber dem Ort mit der höchsten Zapfen-Dichte etwas in Richtung Nase und nach oben verschoben – und zwar systematisch. „Wir haben 20 Versuchspersonen untersucht und bei allen diese Abweichung gefunden“, sagt Reiniger. „Zwar fiel sie mal etwas größer aus und mal etwas kleiner; ihre Richtung war aber stets gleich. Sie blieb zudem konstant, wenn wir die Analyse ein Jahr später wiederholten.“
Das wirkt zunächst einmal paradox: Warum sehen wir nicht mit dem schärfsten Teil unserer Netzhaut, sondern lassen ihn sprichwörtlich „links liegen“? Vielleicht reservieren wir durch diesen Trick die Höchstleistung unserer Augen für Bereiche des Bildes, die sie wirklich benötigen. „Wenn wir auf horizontale Flächen wie zum Beispiel den Boden schauen, sind die Bereiche oberhalb der Stelle, die wir fixieren, weiter von uns entfernt“, erklärt Reiniger. „Objekte, die dort liegen, erscheinen daher etwas kleiner. Ihr Bild fällt dank dieser Abweichung genau auf die Stelle der Sehgrube mit der höchsten Auflösung – das heißt: Wir sehen die kleineren Dinge schärfer.“ Insgesamt könnte dieser Effekt einen Vorteil für unser beidäugiges Sehen mit sich bringen, spekulieren die Forschenden.
Der gefundene Versatz ist sehr klein. „Dass wir ihn überhaupt feststellen konnten, verdanken wir den technischen und methodischen Fortschritten der vergangenen zwei Jahrzehnte“, betont Harmening. Die Bonner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nutzen für ihre Arbeiten ein laserbasiertes Verfahren mit einer adaptiven Optik. Durch die extrem hohe Genauigkeit können sie feststellen, wie die einzelnen Zapfen in der Fovea ihrer Versuchspersonen verteilt sind. „Die Methode zeigt uns zudem exakt, welche Zellen benutzt wurden, um ein Objekt zu fixieren“, sagt Harmening, der auch Mitglied im Transdisziplinären Forschungsbereich „Leben und Gesundheit“ der Universität Bonn und im Medical Imaging Center Bonn ist.
Insgesamt gibt es in der menschlichen Netzhaut bis zu sieben Millionen dieser winzigen Farbrezeptoren. Wenn wir einen Punkt fixieren, nutzen wir davon aber nur einen Bruchteil – wahrscheinlich nur wenige Dutzend. Und zwar womöglich Zeit unseres Lebens immer dieselben.
Förderung
Die Studie wurde durch die Carl-Zeiss-Stiftung sowie das Emmy-Noether-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt.
Diese Newsmeldung wurde mit Material der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.