Globaler Atlas soll große Tierwanderungen bewahren
Bio-News vom 10.05.2021
Wildtiere soweit das Auge reicht: Millionen von Gnus ziehen gemeinsam mit Zebras, Gazellen und Antilopen durch das grüne Gras weiter Ebenen in Ostafrika. Die Wanderungen großer Säugetiere gehören zu den eindrucksvollsten Naturwundern. Es gibt sie nicht nur in Afrika, sondern weltweit, auch in Europa.
Es gibt sie nicht nur in Afrika, sondern weltweit, auch in Europa. „Doch diese Wanderungen verschwinden in alarmierendem Tempo“, berichtet Dr. Joseph Ogutu von der Universität Hohenheim in Stuttgart. „Um sie effektiv schützen zu können, müssen wir sie zunächst einmal erfassen und detailliert kartieren.“ Mit dem Ziel, einen weltweiten Atlas zu Tierwanderungen zu erstellen, hat er sich jetzt mit über 90 Forschenden aus aller Welt zusammengetan. Gemeinsam haben sie eine neue Initiative zum Schutz von Huftierwanderungen gestartet, die Global Initiative for Ungulate Migration (GIUM).
Publikation:
Matthew J. Kauffman et al.
Mapping out a future for ungulate migrations
Science 07 May 2021: Vol. 372, Issue 6542, pp. 566-569
Global Initiative for Ungulate Migration (GIUM)Die großen Wanderungen von Wildtieren gehören zu den beeindruckendsten Phänomenen in der Natur. Leider sind viele dieser erstaunlichen Schauspiele durch Eingriffe des Menschen bedroht. Der Verlust von Lebensraum durch Landwirtschaft sowie Wilderei und Barrieren wie Zäune, Straßen und Eisenbahnen haben die historischen Wanderrouten nach und nach unterbrochen und zu einem massiven Rückgang vieler einst spektakulärer Wanderherden geführt.
„So ist seit Mitte der 1970er Jahre die Gnu-Population in Kenia um über 70 Prozent zurückgegangen“, berichtet Dr. Ogutu, Biostatistiker am Fachgebiet von Prof. Dr. Hans-Peter Piepho an der Universität Hohenheim. Er setzt sich seit vielen Jahren für dieses Thema ein und hat ihm einen Großteil seiner Karriere gewidmet. „Kenia und Tansania haben bereits vier ihrer charakteristischen Massenwanderungen verloren. Ihr kompletter Verlust würde nicht nur zu einem starken Rückgang der Artenvielfalt führen, sondern auch den Tourismus und die lokalen Lebensgrundlagen gefährden.“
Erschwerend kommt das exponentielle Wachstum der Bevölkerung hinzu. So lebten in Kenia im Jahr 1948 rund 5,4 Millionen Menschen. In den folgenden 70 Jahren stieg die Bevölkerungszahl um 780 Prozent, im Jahr 2019 betrug sie 47,6 Millionen. Im Jahr 2050 wird sie voraussichtlich 95,5 Millionen erreicht haben. Um diese rasant wachsende Bevölkerung ernähren zu können, haben Viehzucht und Landwirtschaft des Landes in den letzten Jahren sprunghaft zugenommen.
Zäune als Todesfallen
Vor allem die ungeplante Ausbreitung von Zäunen hält Dr. Ogutu für problematisch: „Bei dem Versuch, dieses Labyrinth zu durchqueren oder darüber zu springen, verfangen sich viele Tiere in den Drähten oder werden sogar getötet.“ Straßen und Eisenbahnen, Öl- und Gaspipelines sowie Staudämme sind weitere Barrieren, die die traditionellen Wanderwege unterbrechen.
Eine zusätzliche Bedrohung ist der Klimawandel. Viele Huftiere richten ihre Wanderungen nach dem Pflanzenwachstum und wichtigen Wetterereignissen aus. Doch aufgrund der immer häufiger auftretenden Dürreperioden wird es für sie zunehmend schwieriger, ihre Wanderungen darauf abzustimmen und ausreichend Futter zu finden.
Wanderungen weltweit in Gefahr
Auch in anderen Teilen der Welt wird die freie Bewegung von wandernden Herden durch Barrieren zunehmend eingeschränkt. So lebt in Europa der Rothirsch heute in einer Landschaft, die durch menschliche Besiedelung geprägt ist und so seinen Lebensraum zerstückelt. Nur in abgelegenen Regionen in den Alpen kann er noch weitgehend ungehindert über die Gebirgsketten wandern und den saisonalen Zyklen des Pflanzenangebots folgen.
Um einige dieser negativen Auswirkungen auszugleichen, haben viele Regierungen Schutzgebiete eingerichtet. Für Dr. Ogutu besteht das grundlegende Problem jedoch darin, dass diese Wildreservate und Nationalparks in der Regel nicht groß genug sind, um das gesamte Verbreitungsgebiet der wandernden Tiere schützen zu können.
Aus Sicht der Forschenden müssen daher dringend die Wanderrouten gesichert werden, um weitere Verluste zu verhindern. Dafür müssen zunächst die genauen Wege kartiert und die kritischsten Hindernisse identifiziert werden. Diese können anschließend beseitigt und so die traditionellen Wanderrouten wiederhergestellt werden.
Neue Technologien, neue Entdeckungen
Dabei ermöglichen neue leistungsstarke Technologien über die Tracking-Daten der Tiere eine präzise Kartierung von Langstreckenwanderungen. Die Ergebnisse überraschen Wissenschaft und Öffentlichkeit gleichermaßen. Denn sie zeigen, dass die Bewegungen von Huftieren auf der ganzen Welt vielfältiger und komplexer sind als bisher angenommen.
Wichtig ist es auch, dass die Forscher nicht nur jede Wanderung kartieren, sondern auch verstehen, was die Tiere dazu bringt, sich entlang der jeweiligen Route zu bewegen. Eine wichtige Erkenntnis ist beispielsweise, dass das Wanderverhalten bei einigen Arten nicht angeboren ist, sondern eine Art Kultur darstellt, die erlernt und über Generationen weitergegeben werden muss.
Bessere Politik durch weltweiten Atlas für Tierwanderungen
Um die unterschiedlichen Bemühungen zum Erhalt der Wanderrouten zu koordinieren, haben mehr als 90 Forschende die „Global Initiative for Ungulate Migration“ (GIUM) ins Leben gerufen: Wissenschaftler, Naturschützer und Wildtiermanager aus aller Welt wollen eine gemeinsame Wissensbasis schaffen, einen weltweiten Atlas für Tierwanderungen entwickeln sowie die Einführung neuer Schutzmaßnahmen und -richtlinien fördern.
Schon heute setzen sich viele Regierungen der Welt für den Erhalt der Artenvielfalt und der Wildtierbestände ein. Dafür benötigen sie verlässliche Informationen. So könnten beim Neubau von Straßen, Zäunen und anderen Infrastrukturen bereits bei der Planung die Lebensräume festgelegt werden, die unbebaut bleiben sollten oder wo Straßenquerungen beziehungsweise Pipelines für Wildtiere überbrückt oder untertunnelt werden sollen.
Ein anderer Ansatzpunkt sind für Dr. Ogutu Landpacht-Programme, die private und kommunale Naturschutzgebiete mit erheblichen Zahlungen unterstützen: „So können ihre Kosten ausgeglichen und die Menschen abgehalten werden, ihr Land aufzuteilen, Zäune zu errichten oder wilde Tiere illegal zu töten.“
Diese Newsmeldung wurde mit Material der Universität Hohenheim via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.