Selbsthaftende Gespenster
Bio-News vom 21.06.2018
Kieler Forscher veröffentlichen umfassende evolutionsbiologische Studie über die Haftstrukturen von Stab- und Gespenstschrecken
Sie leben zwischen Blättern auf beinahe der ganzen Welt, sie werden zwischen einem und 60 Zentimetern groß und sie gelten als Meister der Tarnung: die Rede ist von Stab- und Gespenstschrecken (Phasmatodea). Das Besondere an ihnen sind aber nicht nur ihre Tarnkünste, sondern Haftpolster unter ihren Füßen, mit deren speziellen Mikrostrukturierungen sie an unterschiedlichsten Oberflächen haften bleiben. Ein Forscherduo der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) hat mit internationaler Unterstützung aus Russland und der Schweiz herausgefunden, dass die Mikrohaftstrukturen so vielfältig sind, wie die Krabbler selbst. Die Ergebnisse ihrer evolutionsbiologischen Studie veröffentlichten die Wissenschaftler im Journal of the Royal Society in London.
Erste kreidezeitliche Funde von Stab- und Gespenstschrecken lassen sich auf ein Alter von etwa 126 Millionen Jahren zurückdatieren. Bis heute wurden rund 3.000 Arten beschrieben, die – mit Ausnahme von wenigen kalten oder gemäßigten Klimazonen – beinahe auf allen Kontinenten vorkommen. Neben ihren Tarnkünsten verfügen die Pflanzenfresser über eine gute Haftungsfähigkeit auf Blättern, Rinde, Sand, Erde, Steinen und sogar auf Glas. Möglich macht das die Beschaffenheit ihrer Füße (Tarsen): Auf den ersten vier Segmenten, die Thies H. Büscher vom Zoologischen Institut der CAU näher untersucht hat, befindet sich jeweils ein Fersenhaftpolster. Das fünfte Glied trägt ein Zehenhaftpolster und zwei Krallen.
Publikation:
Thies H. Büscher, Mikhail Kryuchkov, Vladimir L. Katanaev, Stanislav N. Gorb
Versatility of Turing patterns potentiates rapid evolution in tarsal attachment microstructures of stick and leaf insects (Phasmatodea)
J.R. Soc. Interface
Forschungsergebnisse der frühen 2000er Jahre fanden bisher lediglich glatte, plateauförmige oder großnoppige Strukturen auf den Haftpolstern dieser Insektenordnung. Dieses Repertoire kann Büscher durch seine umfassende Studie auf acht erweitern: „Zu den drei bekannten Strukturen kommen noch flache, wellenförmige, kleinnoppige, labyrinth- und rippenartige. Diese Vielfalt innerhalb einer Insektenordnung ist ungewöhnlich, bei Fliegen zum Beispiel sind die Strukturen recht gleichartig, obwohl diese Ordnung viel mehr Arten beinhaltet.“ Thies Büscher ist Doktorand in der Arbeitsgruppe „Funktionelle Morphologie und Biomechanik“ von Professor Stanislav N. Gorb. Insekten – und ganz besonders Phasmiden – faszinierten Büscher schon immer. Durch Gorbs Expertise über Haftmechanismen der Natur und Büschers Faszination an Phasmiden kam den Biologen die Idee, die Haftungsfähigkeit dieser Sechsbeiner im Rahmen einer Doktorarbeit näher zu erforschen.
Büscher untersuchte Proben von über 130 Arten, die aus Museen und Züchtungen stammen. Hierfür standen lebende, in Alkohol konservierte sowie getrocknete Stab- und Gespenstschrecken zur Verfügung. Um die Mikrohaftstrukturen auf den Tarsen sichtbar zu machen, fertigte Büscher rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen im getrockneten Zustand von jeder Probe an. Anschließend modellierte Mikhail Kryuchkov (Institut für Pharmakologie und Toxikologie an der Universität Lausanne, Schweiz), betreut durch Vladimir L. Katanaev (Institut für Pharmakologie und Toxikologie an der Universität Lausanne, Schweiz sowie Institut für Biomedizin an der Fernöstlichen Staatlichen Universität in Wladiwostok, Russland), und mithilfe von Alan Turings Reaktions-Diffusions-Modell die mathematische Simulation aller Muster. Das Modell dient dazu, die Entstehung von allen Mikrohaftstrukturmustern der Phasmiden theoretisch zu erklären. Auf diese Weise konnten sie zeigen, dass die unterschiedlichen Strukturen durch Selbstorganisation geformt und sehr einfach umgewandelt werden können.
Evolutionsbiologische Entwicklung der Strukturen
„Die Ergebnisse haben uns alle sehr überrascht. Wir sind davon ausgegangen, dass es bei der globalen Verbreitung von Stab- und Gespenstschrecken einen stammesgeschichtlichen Zusammenhang in der Entwicklung ihrer Haftpolster geben muss, nah verwandte Arten also ähnliche Mikrostrukturen besitzen müssten“, sagt Büscher. „Wir konnten aber nachweisen, dass sich dieselben Strukturen in unterschiedlichen Arten unabhängig voneinander entwickelt haben müssen. Dabei konnten wir ein wiederkehrendes Muster identifizieren: Bestimmte Haftstrukturen kommen bei bestimmten Phasmiden vor, die in bestimmten Habitaten vorkommen. Phasmiden, die auf dem Boden leben, haben häufig noppige Haftstrukturen. Diese sind auf ein breites Spektrum an rauen Oberflächen angepasst.“ Bei glatten Haftstrukturen verhält es sich anders: „Glatte Haftstrukturen haften am besten auf glatten Oberflächen, wie denen von Blättern. Eine Möglichkeit, andere Strukturen durch relativ einfache Mechanismen, nämlich der Änderung der Konzentration eines chemischen Bestandteiles bei der Entwicklung des Haftpolsters zu bilden, könnte dabei ein großer Vorteil sein. Auf diese Weise konnten sich die Haftstrukturen schnell an den jeweiligen Lebensraum anpassen. Das lässt auf eine evolutionsbiologische Entwicklung schließen“, resümiert Büscher.
Über die genauen Eigenschaften und Funktionen einiger Strukturen kann das Team nur spekulieren. Weitere Forschung soll Klarheit bringen, welche Mikrohaftstrukturen sich für welchen Untergrund am besten eignen und welche weiteren Eigenschaften, wie beispielsweise selbstreinigende, sie haben.
Doktorvater Gorb sieht in der Erforschung der Stab- und Gespenstschrecken ein großes Potenzial: „Mithilfe der Evolutionsforschung und der Biomechanik können wir funktionelle Prinzipien in der Natur besser verstehen, um daraus in der Zukunft einen Nutzen für die Gesellschaft zu ziehen.“ Büscher betont den wertvollen Nutzen für Wirtschaft und Industrie: „Indem wir die Haftprinzipien der Phasmiden entschlüsseln und besser verstehen, wie sie genau funktionieren, schaffen wir neue Anreize für die Entwicklung von Oberflächen mit einer Haft- oder Antirutschfunktion. Solche Oberflächen finden ihren Einsatz zum Beispiel in der Robotik, wenn es darum geht, die Arme eines Roboters so zu gestalten, dass er Bauteile mittels physikalischer Haftung greifen, und auch wieder loslassen, kann, ohne dass dabei das Bauteil selbst eine entsprechende Beschichtung braucht – ganz wie bei den Stab- und Gespenstschrecken und ihrer Umgebung.“
Diese Newsmeldung wurde via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.