Vogelsterben in Deutschland geht weiter
Bio-News vom 23.06.2021
Das Artensterben zählt neben dem Klimawandel zu den größten Bedrohungen des Lebens auf der Erde. Wissenschaftler und Vogelschützer fordern wegen des dramatischen Rückgangs an Brutvögeln einen nationalen Rettungsplan.
Seit rund 50 Jahren dokumentieren Forschende deshalb die Bestandsentwicklung unterschiedlicher Tier- und Pflanzengruppen in sogenannten Roten Listen. Die neue Roten Liste der Brutvögel in Deutschland zeigt, dass der Rückgang der Vögel in Deutschland ungebremst voranschreitet. Über die Hälfte der 259 dauerhaft hier brütenden Vogelarten ist gefährdet. 14 Arten sind in Deutschland bislang ausgestorben, 6 weitere werden voraussichtlich in der nächsten Roten Liste als nicht mehr vorkommend aufgelistet werden müssen. Es droht damit ein Aussterben von Brutvogelarten in bislang unbekanntem Ausmaß. Am stärksten sind Vögel der Agrarlandschaft sowie Insektenfresser und Zugvögel bedroht. Wald- und Siedlungsvögel nehmen dagegen mehrheitlich zu. Erfolgsgeschichten beim Schutz von Weißstorch, Seeadler und Kranich zeigen: Schutzmaßnahmen können den Rückgang der Vögel aufhalten. Die Autoren und Autorinnen der Roten Liste fordern deshalb ein nationales Vogelrettungsprogramm, in dem wirksame Maßnahmen zum Vogelschutz erarbeitet und umgesetzt werden. Außerdem sollte die Ursachen der Rückgänge der verschiedenen Arten noch besser erforscht werden.
Publikation:
T. Ryslavy, H.-G. Bauer, B. Gerlach, O. Hüppop, J. Stahmer, P. Südbeck & C. Sudfeldt
Die Rote Liste der Brutvögel Deutschlands, 6. Fassung
Berichte zum Vogelschutz 57 (2020): 13 – 112
Veröffentlichung von Roten Listen
Künftig sollen die alle sechs Jahre veröffentlicht werden. Die Bestandserhebung der Brutvögel Deutschlands ist ein Gemeinschaftswerk der wissenschaftlichen Ornithologen sowie der im Vogelmonitoring und im Vogelschutz aktiven wissenschaftlichen Institutionen Deutschlands. Die veröffentlichte Rote Liste der Brutvögel umfasst den Zeitraum von 2011 bis 2016.
Ohrentaucher, Goldregenpfeifer, Bruchwasserläufer, Raubseeschwalbe, Rotkopfwürger und Seggenrohrsänger – wer diese Vögel in Deutschland bewundern möchte, kommt wohl zu spät. Die letzten Brutpaare sind hierzulande zwischen 2009 und 2014 gesichtet worden. Auf der nächsten Roten Liste der Brutvögel werden diese Arten zusätzlich zu den 14 bereits ausgestorbenen bzw. verschollenen Arten voraussichtlich als in Deutschland ausgestorben geführt werden. „Dies wird der höchste Zuwachs ausgestorbener Brutvogelarten sein, der jemals in Deutschland verzeichnet wurde“, sagt Hans-Günther Bauer vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell, einer der Autoren der aktuellen Roten Liste der Brutvögel.
Die neue Rote Liste zeigt, dass das Artensterben in Deutschland ungebremst weitergeht. Es hat sich in den letzten Jahren sogar noch beschleunigt.
Dr. Hans-Günther Bauer, Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie
Fast die Hälfte der Arten sind gefährdet
Im Berichtszeitraum der neuen Roten Liste sind 33 Vogelarten in Deutschland vom Aussterben bedroht, und bei fast allen gehen die Bestände weiter zurück. Mit 43 Prozent sind fast die Hälfte der in Deutschland regelmäßig brütenden Arten gefährdet. Weitere acht Prozent stehen auf der Vorwarnliste, sie sind zwar noch vergleichsweise häufig, ihre Zahlen nehmen aber ebenfalls stark ab.
Hinzu kommt, dass die Bedrohungskategorien der Roten Liste den Rückgang der bislang ungefährdeten und häufigen Arten nicht widergeben. Selbst riesige Verluste an Individuen können bei Arten wie Staren oder Haussperlingen in der Roten Liste lange unbemerkt bleiben, wenn die Arten als solche noch ungefährdet sind. So hat eine Studie aus der Bodenseeregion ergeben, dass das Gebiet in den letzten 30 Jahren 120.000 Brutpaare verloren hat. Deutschlandweit beträgt der Verlust wahrscheinlich mehrere Millionen Tiere.
Starke Rückgänge in der Agrarlandschaft
Besonders bedroht sind der aktuellen Roten Liste zufolge Arten der Agrarlandschaft: 83 Prozent dieser „Offenland“-Arten weisen so hohe Bestandseinbrüche auf, dass sie als gefährdet oder auf der Vorwarnstufe geführt werden. 40 bis 50 Prozent der insektenfressenden Arten sind überproportional von den Rückgängen betroffen. Die mit Abstand am stärksten betroffene Gruppe sind die Zugvögel: Über 50 Prozent der Arten gelten als gefährdet oder gehen stark zurück. Im Gegensatz dazu haben viele Wald- und Siedlungsarten in den letzten Jahren zugenommen – ob dauerhaft, bleibt abzuwarten.
Es liegt nahe, die Ursachen für den starken Rückgang der Offenlandarten, Insektenfresser und Zugvögel in einer zu intensiven Landnutzung – insbesondere in der Landwirtschaft –, dem übermäßigen Einsatz von Pestiziden und Gefahren und Lebensraumverlust auf den Zugrouten zu sehen. Bei vielen Arten sind die Gründe jedoch komplex und manchmal kaum bekannt. „Da gibt es noch viel Forschungsbedarf. Ein Teil dieser Wissenslücken wollen wir mit unserem neuen Tierbeobachtungssystem Icarus schließen. Damit können wir Vögel in ihrer natürlichen Umgebung buchstäblich über die Schulter schauen und so herausfinden, wodurch ihnen Gefahr droht“, erklärt Martin Wikelski, Direktor am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie. Der Verhaltensbiologe untersucht mit seinem Team unter anderem das Zugverhalten von Amseln, Kuckucken und Störchen.
Neben den starken Rückgängen der meisten Vogelarten gibt es auch einzelne Lichtblicke: Dort wo Arten und ihr Lebensraum gezielt geschützt wurden, haben sich Bestände wieder erholt. Charismatische Vögel wie See- und Fischadler, Kranich und Weißstorch, deren Rückgang eindeutige und verhältnismäßig leicht zu behebende Ursachen hatte, konnten so vor dem Verschwinden bewahrt werden.
Die Beispiele zeigen, dass Maßnahmen zum Schutz von Arten und ihrer Lebensräume erfolgreich sein können. Was wir jetzt brauchen, ist ein nationales Vogelrettungsprogramm, dessen Maßnahmen auch tatsächlich umgesetzt werden. Ansonsten werden wir uns in Deutschland auch von vielen anderen Vogelarten verabschieden müssen.
Dr. Hans-Günther Bauer, Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie
Diese Newsmeldung wurde mit Material der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V. via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.