Wie tickt die rote Königin?
Bio-News vom 22.01.2019
Kiel Evolution Center liefert neue Erkenntnisse über die genetischen Grundlagen der Evolutionsdynamik. „Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst“: Dieser Rat der roten Königin aus dem Buch „Alice hinter den Spiegeln“ des britischen Schriftstellers Lewis Carroll steht auch für einen grundlegenden Erklärungsansatz in der Evolutionsbiologie.
Die nach Carrolls Figur benannte „Rote Königin“-Hypothese besagt, dass alle Arten von Lebewesen sich in Anpassung an eine variable Umwelt permanent verändern müssen, um dauerhaft existieren zu können. Dieser Zwang zur Veränderung charakterisiert die sogenannte Evolutionsdynamik, also die ständigen wechselseitigen Anpassungen verschiedener Organismen aneinander und an geänderte Umweltbedingungen.
Die „Rote Königin“-Hypothese ist dank zahlreicher Untersuchungen theoretisch gut erforscht, allerdings fehlte bisher ein fundiertes Verständnis der zugrundeliegenden Selektionsmechanismen und der daran beteiligten Gene. Ein Forschungsteam vom Kiel Evolution Center (KEC) an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und dem Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön (MPI) hat nun gemeinsam mit internationalen Kolleginnen und Kollegen eine experimentelle Untersuchung dieser dynamischen gegenseitigen Anpassungen und der sie steuernden Erbinformationen vorgelegt. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Forschenden in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS).
Publikation:
Andrei Papkou, Thiago Guzella, Wentao Yang, Svenja Koepper, Barbara Pees, Rebecca Schalkowski, Mike-Christoph Barg, Philip C. Rosenstiel, Henrique Teotónio and Hinrich Schulenburg
The genomic basis of Red Queen dynamics during rapid reciprocal host pathogen coevolution
PNAS
Um die Grundlagen der Evolutionsdynamik experimentell zu untersuchen, konzentrierten sich die Kieler Forschenden auf die Koevolution des Fadenwurms Caenorhabditis elegans und seines bakteriellen Schädlings Bacillus thuringiensis. Sie stellten fest, dass die Selektionsprozesse bei der schnellen gegenseitigen Evolution seitens des Wirts und des Schädlings von unterschiedlichen Faktoren abhängen: Beim Wirt wird die evolutionäre Antwort insbesondere durch das zeitliche Muster im Wechsel der beteiligten Genregionen gesteuert. Bei den Schädlingen prägt dagegen die Häufigkeit bestimmter mobiler genetischer Elemente, in diesem Fall bestimmte sogenannte Plasmide, den Anpassungsprozess entscheidend mit. „Die genetischen Abläufe der gegenseitigen schnellen Anpassungen von Lebewesen und Schädlingen sind komplizierter als bisher angenommen und unterscheiden sich bei Wirt und Schädling deutlich“, betont Professor Hinrich Schulenburg, Leiter der Arbeitsgruppe Evolutionsökologie und Genetik an der CAU, KEC-Sprecher und Fellow am MPI. „Die rote Königin funktioniert also anders als gedacht und insbesondere die Rolle der Plasmide und die Häufigkeit ihres Auftretens wurden dabei bisher nicht ausreichend berücksichtigt“, so Schulenburg weiter.
Diese beiden Prozesse der schnellen evolutionären Anpassung lassen sich mit dem Bild eines Fußballspiels veranschaulichen: Die jeweilige genetische Ausstattung von Wirtsorganismus und Schädling stellt zwei Teams dar, die sich im gegenseitigen Wettkampf aufeinander einstellen müssen. Ist eines dieser Teams offensiv besonders stark, kann die andere Mannschaft zum Beispiel reagieren, indem sie die eigene Verteidigung stärkt und einfach mehr Abwehrspieler aufstellt. Dies tut im übertragenen Sinne hier der Krankheitskeim, indem er die Anzahl der mobilen Elemente erhöht und so seine Anpassungsfähigkeit verbessert. Der Fadenwurm dagegen tauscht bildlich gesprochen gleich die ganze Mannschaft aus. Konkret bedeutet das, dass er sich an den Keim anpasst, indem sich jeweils größere Genregionen im Genom gleichzeitig verändern.
Um die gegenseitigen Anpassungen von Wurm und Bakterium in Evolutionsexperimenten zu beobachten, infizierten die Forschenden wiederholt Populationen der Fadenwürmer mit einem spezifischen Stamm des Keims. Die auf diesem Weg in Gang gesetzte Koevolution der beiden Organismen untersuchte das Forschungsteam einerseits hinsichtlich der körperlichen und andererseits der genetischen Anpassungen. Eine in diesem Zusammenhang besonders wertvolle Eigenschaft des Fadenwurms Caenorhabiditis elegans besteht darin, dass sich die unterschiedlich lange koevolvierten Generationen der Tiere direkt vergleichen lassen.
Das wird möglich, weil sich die Würmer, ohne Schaden zu nehmen, einfrieren lassen und man so die nach dem Auftauen lebendigen Organismen mit ihren länger gemeinsam mit dem Schädling evolvierten Nachkommen vergleichen kann. Urenkel und Urgroßeltern können so im direkten Vergleich gleichzeitig untersucht werden. Dies machten sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zunutze und verglichen Würmer in unterschiedlichen zeitlichen Anpassungsstadien an den Schädling. Hierüber fanden sie heraus, dass sich die gegenseitigen Anpassungen bereits sehr schnell innerhalb weniger Generationen herausbilden. Ebenso wurde deutlich, dass der Selektionsdruck bei den Schädlingen zur Bildung einer größeren Anzahl von Plasmiden führt; diese sind für die Produktion von für den Wirt schädlichen Toxinen verantwortlich.
In den Ergebnissen ihrer Experimente, so hoffen die Kieler Forschenden, lässt sich möglicherweise ein universelles Prinzip erkennen. Die Häufigkeit mobiler genetischer Elemente ist über das Beispiel des untersuchten Bacillus thuringiensis hinaus offenbar besonders wichtig für die schnelle evolutionäre Anpassung eines Lebewesens. Besonders deutlich wird dies, wenn man Schadorganismen insgesamt betrachtet. In den Plasmiden verschiedenster Krankheitskeime finden sich häufig sogenannte Virulenzfaktoren, also solche genetischen Informationen, die die Schädlichkeit für den Wirtsorganismus bestimmen.
„Es ist möglich, dass sich Krankheitskeime besonders schnell an ihre Wirte anpassen, indem sie einfach die Häufigkeit der Plasmide oder auch anderer mobiler Elemente variieren. Neue Mutationen wären erst einmal nicht notwendig“, verdeutlicht Schulenburg. „Dieser Aspekt ist derzeit jedoch nur unzureichend untersucht, obwohl solche Häufigkeitsunterschiede für die Einschätzung von Virulenz und somit potenziell auch für die medizinische Diagnostik einer Infektionserkrankung wichtig sein könnten“, fasst Schulenburg die Bedeutung der Forschungsarbeit zusammen.
Diese Newsmeldung wurde via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.