Wisente waren keine Waldbewohner - Heutige Schutzkonzepte müssen überarbeitet werden



Bio-News vom 13.02.2015

Professor Hervé Bocherens vom Senckenberg Center for Human Evolution and Paleoenvironment (HEP) hat die ältesten bekannten Wisentknochen Europas untersucht.

Der Paläontologe Prof. Dr. Hervé Bocherens vom Senckenberg Center for Human Evolution and Paleoenvironment (HEP) und dem Fachbereich Geowissenschaften der Universität Tübingen hat gemeinsam mit deutschen und polnischen Kollegen die ältesten bekannten Wisentknochen Europas untersucht. Dabei stellten sie fest, dass Wisente „Gemischtesser“ waren und das Leben in offenen Landschaften einem Leben im Wald vorzogen. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf heutige Schutzkonzepte der vom Aussterben bedrohten Tiere. Die zugehörige Studie ist heute im renommierten Fachjournal PLOS ONE erschienen.


Vorm Aussterben bedroht: Das Wisent.

Publikation:


Bocherens, H., Hofman-Kamińska, E., Drucker, D.G., Schmölcke, U., Kowalczyk, R.
European bison as a refugee species? Evidence from isotopic data on Early Holocene bison and other large herbivores in northern Europe

PLOS ONE

DOI: 10.1371/journal.pone.0115090



Etwa 3000 freilebende Wisente gibt es derzeit in Europa. Seit 2013 lebt eine kleine Herde der dunkelbraunen Kolosse auch wieder in Deutschland.

„Für das Wisent wäre es beinah knapp geworden“, erzählt Prof. Dr. Hervé Bocherens vom Senckenberg Center for Human Evolution and Paleoenvironment (HEP) und dem Fachbereich Geowissenschaften der Universität Tübingen und ergänzt: „In Deutschland wurde 1775 der letzte freilebende Wisent geschossen. 1927 kam im Kaukasus der letzte wilde Wisent Europas durch eine Gewehrkugel ums Leben.“ Damit waren beide Unterarten in ihrem ursprünglichen Lebensraum ausgerottet: der Flachlandwisent und der Bergwisent.

Nur Wiederansiedlungsprogramme mit Tieren aus Zoos, Tier- und Nationalparks haben die europäischen Wisente vor dem Verschwinden gerettet. Die heute veröffentlichte Studie unter Federführung des Tübinger Wissenschaftlers zeigt aber, dass die Schutzkonzepte für Wisente überarbeitet werden müssen: „Wir haben die Ernährungs- und Lebensgewohnheiten dieses größten europäischen Säugetiers anhand von etwa 12.000 bis 10.000 Jahre alten Wisentknochen aus Norddeutschland, Dänemark und Südschweden untersucht“, erklärt Bocherens und fügt hinzu: „Die Kernfrage, die wir uns dabei gestellt haben: Sind Wälder der bevorzugte und geeignete Lebensraum für die europäischen Wisente?“.

Bisher ging man davon aus, dass europäische Wisente – anders als ihre steppenbewohnenden Verwandten in Nordamerika – sich überwiegend in Wäldern wohl fühlen. Anhand von Isotopenuntersuchungen an den uralten Knochen der Großsäuger konnten Bocherens und sein Kollege Prof. Dr. Rafal Kowalczyk vom „Mammal Research Institute“ im polnischen Białowieża belegen, dass Wisente „Gemischtesser“ waren. „Das Verhältnis der Kohlenstoff- und Stickstoffisotope in den Knochen zeigt uns, dass auf dem Speiseplan der Wisente im frühen Holozän sowohl Blätter als auch Gras und Flechten standen. Sie hielten sich demnach keineswegs nur in Wäldern auf“, erläutert Bocherens.

Dank dieser flexiblen Ernährung standen die Wisente mit den stärker spezialisierten Auerochsen und Elchen nicht in Konkurrenz und konnten auch harte Winter überstehen.

Als die offenen Landschaften – bedingt durch Klimawandel, wachsende Waldflächen und zunehmende landwirtschaftliche Aktivität des Menschen – schrumpften, wurde der Wisent in die Wälder zurückgedrängt. Bocherens ergänzt: „Dort nahm die Population der Wisente so stark ab, dass die Tiere fast vollständig ausstarben.“

Heute überleben die wilden Wisente in Europa im Winter nur durch menschliche Hilfe. Der Wald bietet den stattlichen Tieren in der kalten Jahreszeit nicht ausreichend Nahrung. „Bessere Chancen hätten die stark bedrohten Wisente, wenn sie – wie in der Vergangenheit – offene Landschaften bewohnen könnten und damit auch ein breiteres Nahrungsangebot hätten“, meint der Tübinger Biogeologe und resümiert: „Die Schutzkonzepte für Wisente müssen daher grundlegend überarbeitet werden.“


Diese Newsmeldung wurde via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.


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