Zeitreise mit Sedimentarchiven: Auftreten und Häufigkeit von Blaualgen in der Ostsee seit 1860
Bio-News vom 11.08.2020
Forschenden aus Warnemünde und dem kalifornischen La Jolla gelang es erstmals, mithilfe von Biomarkern und einem gut datierten Sedimentkern die Geschichte der Blaualgenblüten in der zentralen Ostsee über die letzten 160 Jahre zu rekonstruieren. So verlängerten sie den Zeitraum, für den bislang Informationen zur Häufigkeit der Blüten vorlagen, deutlich in die Vergangenheit hinein. In einem in der internationalen Fachzeitschrift Biogeosciences erschienenen Artikel diskutieren sie mögliche Ursachen für die erfassten Schwankungen. Für eine kausale Verbindung zur Überdüngung der Ostsee finden sie keine klaren Anzeichen, wohl aber zur Entwicklung der Sommertemperaturen des Oberflächenwassers.
Der Hochsommer ist ihre Zeit: Cyanobakterien - umgangssprachlich Blaualgen genannt - geht es im Zeitraum Juli/August, wenn nach der Hauptwachstumsphase nur noch wenig Nährstoffe im Oberflächenwasser sind, besonders gut. Dann kann ihr massenhaftes Auftreten nicht nur den Badespaß vermiesen, weil es das Wasser in eine gelbbraune Brühe verwandelt, diese Organismen schaden auch dem Ökosystem. Denn sterben die Algenmassen ab, so sinken sie auf den Meeresboden, wo bei ihrer Zersetzung Sauerstoff verbraucht wird. Die „toten Zonen“ am Boden der Ostseebecken breiten sich weiter aus. Den Ursachen der häufigen Blaualgenblüten versuchen die Forschenden am Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde seit Jahren auf den Grund zu kommen. Nun erhielten sie Unterstützung durch ihre Kolleginnen und Kollegen aus der Sektion Marine Geologie.
Publikation:
Kaiser, J., N. Wasmund, M. Kahru, A. K. Wittenborn, R. Hansen, K. Häusler, M. Moros, D. Schulz-Bull and H. W. Arz
Reconstructing N2-fixing cyanobacterial blooms in the Baltic Sea beyond observations using 6- and 7-methylheptadecane in sediments as specific biomarkers
Biogeosciences 17: 2579-2591
Zum Einsatz kamen zwei Biomarker, die fast ausschließlich durch die in der Ostsee häufig vorkommenden Cyanobakterien Aphanizomenon sp. und Nodularia spumigena produziert werden. Sie heißen 6- und 7-Methylheptadecan (abgekürzt: 6+7Me-C17:0). Dabei handelt es sich um Kohlenwasserstoffe, die die Cyanobakterien aus Fettsäuren herstellen. Sie haben die vorteilhaften Eigenschaften, sich auch innerhalb von Jahrtausenden nicht zu zersetzen und sich mit einem vertretbaren methodischen Aufwand in Sedimentproben detektieren zu lassen. So gelang es einem Team um den Warnemünder Meeresgeologen Jérôme Kaiser, innerhalb eines auf 160 Jahre datierten Sedimentkernes durchgehend Cyanobakterien nachzuweisen, bis 1920 aber in nur relativ geringer Häufigkeit. Danach wechselten sich Perioden mit hoher und niedriger Häufigkeit ab. Einen signifikanten Anstieg in den 1950er Jahren, als die Überdüngung der Ostsee erheblich zunahm, fanden sie nicht. Dafür zeigte sich aber eine Parallelität zur Entwicklung der sommerlichen Temperatur des Oberflächenwassers in der zentralen Ostsee. Gleichfalls scheinen zyklische Zirkulationsschwankung der Ozeanströmungen im Nordatlantik (60-90 Jahre) indirekt Einfluss zu nehmen.
Um die Aussagekraft der Biomarker zu beleuchten, werteten die Warnemünder frisch sedimentiertes Material einer Cyanobakterienblüte aus Sinkstofffallen der zentralen Ostsee im Hinblick auf ihren Gehalt an den Biomarkern im Verhältnis zu Menge und Masse der beprobten Cyanobakterien aus. Sinkstofffallen sind große trichterartige Gefäße, die am Meeresboden verankert und mit Auftriebskörpern aufrecht im Wasser gehalten werden. Sie sammeln alles, was in sie hineinfällt, getrennt nach einzelnen Wochen, in Auffangbehälter.
Die Biomarker-Daten, sowohl aus diesem Sinkstofffallenmaterial als auch aus dem Sedimentkern, verglich das Team mit den Angaben zum Aufkommen von Cyanobakterien aus Monitoring-Programmen und Satellitenbildern der letzten 35 Jahre. Sie wiesen nach, dass die Biomarker 6+7Me-C17:0 nicht nur generell die Anwesenheit von Cyanobakterien anzeigen, sondern darüber hinaus auch grobe Aussagen über die Mengen an Organismen zulassen, die die Biomarker produziert haben. Das gilt vor allem für die Spezies Nodularia spumigena, die in der zentralen Ostsee häufigste Cyanobakterien-Art.
Mit diesen Erkenntnissen wagten sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch an einen 7.000 Jahre umfassenden Sedimentkern aus der Bottensee, einem Becken im Norden der Ostsee. Dieser Zeitabschnitt umfasst das mittlere und späte Holozän, eine warmzeitliche Epoche, die mit dem Ende der letzten Eiszeit begann. Für die heutige Klimaforschung ist sie besonders interessant, weil im Klimaoptimum des mittleren Holozäns die durchschnittlichen Temperaturen auf der Nordhemisphäre um 1-1.5 °C höher als heute waren. In einem entsprechenden Abschnitt des Bottensee-Sedimentkernes, war der Gehalt an 6+7Me-C17:0 bis zu 100mal höher als in der heutigen zentralen Ostsee. Das legt häufige und starke Cyanobakterienblüten nahe – dort, wo heute die Biomasse der Cyanobakterienblüten 4- bis 5-mal geringer ist als in der zentralen Ostsee – eine enorme Veränderung. „Die beiden Methylheptadekan-Biomarker sind für das gesamte Holozän einsetzbar,“ fasst Jérôme Kaiser die Ergebnisse zusammen. „Sie haben uns gezeigt, dass Cyanobakterien drastisch auf Klimaanomalien reagieren können. In Anbetracht der anhaltenden Erderwärmung sollten wir das im Blick behalten.“
Diese Newsmeldung wurde mit Material des Leibniz-Instituts für Ostseeforschung Warnemünde via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.