Cumarine (Medizin)


Strukturformel von Phenprocoumon, dem therapeutisch in Deutschland am häufigsten genutzten Cumarin

Cumarine (oder Cumarinderivate, Vitamin-K-Antagonisten) werden in der Medizin vom 4-Hydroxycumarin abgeleitete Substanzen mit blutgerinnungshemmender Wirkung genannt.[1] Ihre Wirkung beruht auf einer Hemmung des für die Bildung von Blutgerinnungsfaktoren wichtigen Vitamin-K-Stoffwechsels. In der Medizin werden Cumarine als blutgerinnungshemmende Arzneistoffe eingesetzt (Antikoagulantien). Darüber hinaus werden Cumarine auch als Rodentizide insbesondere zur Rattenbekämpfung genutzt.

Geschichte

Weißer Steinklee

Die wissenschaftliche Entwicklung der Cumarine begann mit der Entdeckung des Dicoumarol in Steinklee-haltigem Heu durch Karl Paul Link und Mitarbeiter im Jahr 1940.[2] Die Bildung von Dicoumarol in Heu und Silage aus den enthaltenen cumarinhaltigen Weidepflanzen kann bei einer fehlerhaften Herstellung oder Lagerung unter Pilzbefall erfolgen.[3] Die Verfütterung dicoumarolhaltiger Futtermittel kann bei Weidevieh infolge der Blutgerinnungshemmung zu inneren Verblutungen führen (Sweet Clover Disease). Basierend auf dieser Erkenntnis wurde diese neue Substanz 1941 erstmals klinisch als Antikoagulanz erprobt.

In den 1940er Jahren wurden Derivate des Dicoumarols insbesondere von der Arbeitsgruppe von Karl P. Link entwickelt. Während Link diese Substanzen für zu toxisch und daher nicht für vermarktbar hielt, glaubte sein Mitarbeiter Mark A. Stahmann an eine Nutzung und meldete mit Hilfe der Wisconsin Alumni Research Foundation (WARF) die nach ihr benannte Substanz Warfarin zum Patent an.[4] 1948 erfolgte die Markteinführung von Warfarin zunächst als Rodentizid. Nachdem sich 1951 ein Mitglied der US Navy erfolglos versuchte mit Warfarin das Leben zu nehmen und dank der Gabe von Vitamin K als Antidot gerettet werden konnte, wurde auch das therapeutische Potenzial des jetzt als sicher erachteten Warfarins untersucht.[5] 1954 wurde Warfarin zur medizinischen Verwendung zugelassen. Kurz zuvor wurden bereits die Cumarine Tromexan und Phenprocoumon als Antikoagulantien eingeführt. Bekanntheit erlangten die Antikoagulantien vom Dicoumarol-Typ im Jahr 1955, als der damalige Präsident der Vereinigten Staaten Dwight D. Eisenhower nach einem Herzinfarkt mit ihnen behandelt wurde.[4]

Chemie

Die in der Medizin und in der Schädlingsbekämpfung verwendeten Cumarine leiten sich strukturell vom 4-Position-hydroxylierten Cumarin ab.

Cumarin.svg 4-Hydroxycoumarin.PNG Dicumarol.svg Phenprocoumon.svg Warfarin.svg
Cumarin 4-Hydroxycumarin Dicoumarol Phenprocoumon
(Antikoagulanz)
Warfarin
(Antikoagulanz)
Acenocoumarol.svg Coumatetralyl.svg Brodifacoum.png
Acenocoumarol
(Antikoagulanz)
Coumatetralyl
(Rodentizid)
Brodifacoum
(Rodentizid)

Wirkung

Bei der Anwendung als Medikament und als Rodentizid wird folgende Wirkung der Cumarine ausgenutzt:

Die Faktoren der plasmatischen Blutgerinnung müssen in der Leber modifiziert werden: Dabei wird die Aminosäure Glutamat am γ-C-Atom Vitamin-K abhängig carboxyliert (γ-Carboxylierung), damit die Faktoren mittels Calciumionen an die Thrombozytenoberfläche binden und somit ihre maximale Wirkung entfalten können. Cumarine besitzen eine Strukturähnlichkeit zu Vitamin K.

Die Cumarine binden statt Vitamin K an das Enzym Vitamin K-Epoxid-Reduktase, blockieren es und stoppen so die Bildung der betreffenden Faktoren (kompetitive Hemmung). Die Wirkung tritt daher erst ein, nachdem die zum Zeitpunkt der Gabe des Cumarinderivats im Blut zirkulierenden Gerinnungsfaktoren teilweise verbraucht sind. Dies ist erst nach etwa sechs Stunden der Fall. Das Wirkmaximum wird nach 36-48 Stunden erreicht.

Therapieüberwachung

Die Wirkung wird bisher noch häufig anhand des Quick-Wertes kontrolliert. Da die Quick-Werte verschiedener Laboratorien/Reagentien voneinander abweichen, wird zur besseren Vergleichbarkeit vermehrt die INR (international normalized ratio) angegeben. Zur Vermeidung von schwerwiegenden Nebenwirkungen ist neben der zuverlässigen Einnahme der Medikamente die regelmäßige Kontrolle dieses Wertes erforderlich. Dies kann bei chronisch Kranken mit Hilfe von tragbaren Testgeräten auch zu Hause geschehen, was eine erhöhte Lebensqualität der Betroffenen (dichtere Kontrollen, größere Mobilität) bei gleichzeitiger Kostenreduzierung ermöglicht

Patienten, denen Phenprocoumon verabreicht wird, erhalten einen „Pass“ zum Mitführen, damit im Notfall die eingeschränkte Gerinnungssituation erkennbar ist, selbst wenn der Patient nicht ansprechbar sein sollte. In einem solchen Pass muss nach jeder Blutkontrolle der aktuelle Quickwert oder INR-Wert eingetragen werden; auch die aktuelle verordnete Dosierung sollte stets auf dem aktuellen Stand sein. Ebenso ist in diesem Pass ein Ziel-Quick oder Ziel-INR vermerkt, auf den der Patient eingestellt ist.

Indikation

Die Therapie mit Cumarinen ist bei Patienten notwendig, bei denen ein hohes Risiko für das Eintreten einer Thrombose besteht. Dies kann beispielsweise der Fall sein:

  • nach Implantation künstlicher Herzklappen,
  • nach einer bereits aufgetretenen Thrombose zur Rezidivprophylaxe,
  • bei Vorhofflimmern,
  • bei Herzerkrankungen mit erweiterter Herzkammer und schlechter Pumpfunktion,
  • nach Implantation künstlicher Gefäßprothesen,
  • nach einem Herzinfarkt,
  • ggf. bei Fontanzirkulation.

Nebenwirkungen und Anwendungsbeschränkungen

Die Nebenwirkungen der Cumarine ergeben sich aus ihrer Hauptwirkung. Da unter Cumarin-Therapie die Blutgerinnung vermindert wird, treten vermehrt Blutungen auf. Dies kann sich beispielsweise äußern in:

  • vermehrter Neigung zu blauen Flecken,
  • vermehrtem Zahnfleischbluten,
  • Blutungen im Magen-Darm-Trakt,
  • Blutungen durch die Haut,
  • Blut im Urin,
  • Schlaganfällen durch Hirnblutung.

Bei Bestehen einer Schwangerschaft ist die Anwendung von Cumarinen wegen der fruchtschädigenden Wirkung kontraindiziert.

Rückenmarksnahe Regionalanästhesie-Verfahren (Spinalanästhesie bzw. Periduralanästhesie) sollten nach Absetzen der Cumaringabe erst wenn der INR als Maß für die Blutgerinnungszeit unter 1,4 abgesunken ist durchgeführt werden.[6][7]

Wechselwirkungen

Cumarine zeigen eine starke Plasmaproteinbindung. Werden nun Substanzen eingenommen, die ihrerseits eine höhere Plasmaproteinbindungskapazität als Cumarine haben, so kommt es zu einer plötzlichen Freisetzung der gebundenen Cumarine mit deutlichem Wirkungsanstieg. Dies konnte früher insbesondere bei gleichzeitiger Gabe von Sulfonylharnstoffen der ersten Generation (z. B. Tolbutamid) und Warfarin oder Phenprocoumon beobachtet werden. Neuere Sulfonylharnstoffe zeigen diese Interaktion nicht mehr.

Cumarine werden überwiegend in der Leber über die Cytochrom-Enzymsysteme CYP 3A4 und CYP 2C9 abgebaut. Hemmstoffe dieser Enzymsysteme führen zu einem verlangsamten Abbau von Cumarinen und zu einer Anreicherung nach wiederholter Einnahme.

Auch die Kombination mit Thrombozytenaggregationshemmern wie ASS verstärken die Blutungsgefahr.

Präparate

Bekannte Cumarine sind:

Antidot

Bei Vergiftungen mit Cumarinen muss unverzüglich Vitamin K als Antidot gegeben werden. Seine Wirkung beruht auf der Verdrängung der Cumarine von Enzymen, die Gerinnungsfaktoren bilden. Auch hier besteht eine Verzögerung in der Wirkung, da die fehlenden Gerinnungsfaktoren erst nach und nach durch die Leber ersetzt werden können. Insbesondere bei Vergiftungen durch Brodifacoum, Difenacoum, Bromadiolon, Difethialon oder Flocoumafen (Rodentizide) ist eine Langzeittherapie mit Vitamin K erforderlich. Im Notfall können die fehlenden Gerinnungsfaktoren direkt ersetzt werden.

Einzelnachweise

  1. Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch. Band 258. de Gruyter, 1998, ISBN 3-11-014824-2, S. 312.
  2. Stahmann MA, Hübner CF, Link KP: Studies on the hemorrhagic sweet clover disease; identification and synthesis of the hemorrhagic agent. In: J. Biol. Chem. 138. Jahrgang, Nr. 2, 1941, S. 513–527 (jbc.org [PDF]).
  3. A. Bye, H.K. King: The biosynthesis of 4-hydroxycoumarin and dicoumarol by Aspergillus fumigatus Fresenius. In: Biochemical Journal. 117. Jahrgang, 1970, S. 237–245.
  4. 4,0 4,1 Nicole Kresge, Robert D. Simoni, Robert L. Hill: Hemorrhagic Sweet Clover Disease, Dicumarol, and Warfarin: the Work of Karl Paul Link. In: J. Biol. Chem. 280. Jahrgang, 2005, S. e5 (jbc.org [PDF]).
  5. Link KP: The Discovery of Dicumarol and Its Sequels. In: Cirulation. 19. Jahrgang, 1959, S. 97–107, doi:10.1161/01.CIR.19.1.97.
  6. Gogarten, Wiebke; Van Aken, Hugo K.: Perioperative Thromboseprophylaxe - Thrombozytenaggregationshemmer - Bedeutung für die Anästhesie. AINS - Anästhesiologie · Intensivmedizin · Notfallmedizin · Schmerztherapie, Ausgabe 04, April 2012, S. 242-254 Print ISSN 0939-2661 · Online ISSN 1439-1074. DOI: 10.1055/s-002-23167
  7. S. A. Kozek-Langenecker, D. Fries, M. Gütl, N. Hofmann, P. Innerhofer, W. Kneifl, L. Neuner, P. Perger,T. Pernerstorfer, G. Pfanner, et al.: Lokoregionalanästhesien unter gerinnungshemmender Medikation. Empfehlungen der Arbeitsgruppe Perioperative Gerinnung (AGPG) der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (ÖGARI). DER ANAESTHESIST Volume 54, Number 5 (2005), 476-484, DOI: 10.1007/s00101-005-0827-0