Frankfurter Evolutionstheorie


Die Frankfurter Evolutionstheorie baut auf der in den 1970er und 1980er Jahren von Wolfgang Friedrich Gutmann entwickelten „Kritischen Evolutionstheorie“ auf. Im Vordergrund der Forschung stehen konstruktionsmorphologische Untersuchungen der Bau- und Funktionsweise von Lebewesen. Lebewesen werden untersucht, als ob sie energiewandelnde Maschinen wären. Die wesentlichen Komponenten der Frankfurter Evolutionstheorie sind:

  • Ein Organismusbegriff, der zur Bestimmung des Arbeitsgegenstandes dient (→ Lebewesen als energiewandelnde Konstruktionen)
  • Eine Rekonstruktionstheorie, die zur Rekonstruktion evolutionsgeschichtlicher Abläufe dient (→ konstruktionsmorphologische Ableitungen)
  • Ein dynamisches Verständnis des Evolutionsprozesses, der als schrittweiser, irreversibler Wandel niemals unterbrochen sein darf.

Aus dieser Betrachtungsweise heraus ergibt sich ein grundsätzlich anderes Verständnis von Anpassung und Umwelt, als dies in der klassischen Evolutionstheorie üblich ist. Lebewesen sind nicht etwa an ihre Umwelten angepasst, sondern Lebewesen dringen nach Maßgabe der Leistungsfähigkeit ihrer Körperkonstruktion in erreichbare Lebensräume ein, und gestalten diese maßgeblich mit.

Die als methodische Grundlage der Frankfurter Evolutionstheorie entwickelte Konstruktions-Morphologie betrachtet die Lebewesen auf einer ingenieursmäßigen, bauplantechnischen Ebene. Eine wichtige Rolle spielen bei dieser Betrachtung hydraulische Systeme, das heißt flüssigkeitsgefüllte Körperhohlräume wie das Coelom, die sekundäre Leibeshöhle. In der Evolution können solche hydraulischen Einheiten nicht beliebig entstehen und verschwinden, sondern nur schrittweise (d.h. im Rahmen hydraulischer Prinzipien) gewandelt werden.

Auf dieser biomechanisch/physikalisch fundierten Grundlage ist es möglich, bei einer konstruktionsmorphologischen Betrachtung von Lebewesen die Körperkonstruktion, das heißt ihren funktionalen Aufbau, zu erfassen und mögliche (= funktionstüchtige) evolutionäre Wandlungen von unmöglichen (= dysfunktionalen) evolutionären Wandlungen zu unterscheiden. Somit ist eine schrittweise Rekonstruktion der Evolutionsgeschichte der Lebewesen möglich, in der es primär um die Veränderung von Organismen (Anagenese), und nicht um die Verzweigungsfolge von Evolutionslinien (Kladogenese) geht. Anagenese und Kladogenese sind also zwei sich gegenseitig ergänzende Themen der phylogenetischen Forschung oder Evolutionsgeschichtsforschung, und es hängt vom Rekonstruktionsziel ab, welche Forschungsmethode bevorzugt wird.

Bei konstruktionsmorphologisch begründeten Rekonstruktionen kann insbesondere die Bauplan- oder Makroevolution detailliert diskutiert werden, da es beim Übergang von einem Bauplan zum nächsten meist zu tiefgreifenden Veränderungen kommt, deren Einzelschritte aus biomechanischen Gründen in einer geordneten Weise abgelaufen sein müssen (ginge es nur um beliebigen Austausch von Merkmalen, würde Biomechanik keine Rolle spielen). In Ausnahmefällen sind auch Rekonstruktionen bis auf die Ebene von Familien, Gattungen oder Arten, also der Mikroevolution, möglich.

Begründer der Frankfurter Evolutionstheorie

Begründet wurde die Frankfurter Evolutionstheorie durch eine am Forschungsinstitut und Naturmuseum Senckenberg tätige Arbeitsgruppe. Hierzu zählten Wolfgang Friedrich Gutmann (1935–1997), Klaus Bonik, Jens Lorenz Franzen, Manfred Grasshoff, Dieter Mollenhauer und Stefan Peters.

Die ersten aus diesem Ansatz hervorgegangenen Ergebnisse sind auch als Hydroskelett-Theorie oder Wurmtheorie in die zoologische Literatur eingegangen. Von Bedeutung ist an dieser Stelle der auf dem 15. Phylogenetischen Symposium in Erlangen (1970) ausgetragenen Archicoelomaten-Streit, in der der erste auf dem Hydraulik-Prinzip beruhende Stammbaum den merkmalsmorphologisch begründeten Stammbäumen der klassischen Zoologie gegenübergestellt wurde. Seitdem gilt die Hydroskelett-Theorie als Außenseiterposition, sie kann aber seit den 1990er Jahren starke Unterstützung durch molekularbiologische Daten für sich beanspruchen (während man die in den 1970er Jahren dominierende Archicoelomaten-Theorie auf dieser Basis als widerlegt betrachten muss).

Fortführung der Frankfurter Evolutionstheorie

Die Frankfurter Evolutionstheorie wurde nach dem Tod von Wolfgang F. Gutmann im Jahre 1997 durch eine neue Arbeitsgruppe am Forschungsinstitut Senckenberg weiterentwickelt und in vielerlei Hinsicht präzisiert. An diesen Arbeiten sind insbesondere Manfred Grasshoff, Michael Gudo, Mathias Gutmann, Tareq Syed und Michael Weingarten beteiligt.

Derzeit werden die Forschungen in diesem Bereich in der ersten Ausgründung (Spin-off) des Forschungsinstitutes Senckenberg, der Morphisto - Evolutionsforschung und Anwendung GmbH fortgeführt. Diese GmbH betreibt ein Institut für Evolutionswissenschaften und tätigt weitere Forschungen auf dem Gebiet der Frankfurter Evolutionstheorie und Konstruktionsmorphologie.

Zentrale Thesen der Frankfurter Evolutionstheorie

Die zentralen Thesen der Frankfurter Evolutionstheorie lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  1. Organismen sind hydraulische, mechanisch kohärente, energiewandelnde Konstruktionen, die sich nicht an ihre Umwelten anpassen, sondern Lebensräume nach Maßgabe der Leistungsfähigkeit ihrer Körperkonstruktion selbst erschließen.
  2. Organismen sind autonome Subjekte der Evolution, d.h. die jeweils bestehende Körperkonstruktion bestimmt das Ergebnis und die Richtung der Evolution maßgeblich mit.
  3. Über Fortbestehen oder Untergang eines Lebewesen entscheidet in erste Linie die Funktionstüchtigkeit der Körperkonstruktion und eine ökonomische Energiebilanz hinsichtlich Formerhaltung, (Fort-)Bewegung und Fortpflanzung Der Einfluss der Umwelt ist sekundär und greift erst dann, wenn sich Lebewesen in ihren Lebensräumen behaupten müssen.
  4. Evolution ist irreversibel, d.h. einmal veränderte (differenzierte, abgebaute oder umgebaute) Strukturen, können nicht mehr "zurückentwickelt" werden, weil strukturelle Veränderungen einem energetischen Gefälle geschuldet sind.

Es ergibt sich aus dieser Anschauung ein grundsätzlich abweichendes Verständnis von Evolution. Während in der Synthetischen Evolutionstheorie jede noch so kleine Veränderung bereits als "Evolutionsschritt" (oder gar als Beweis für Evolution) angesehen wird, sind nach der Anschauungsweise der Frankfurter Evolutionstheorie, nur solche Veränderungen als "evolutive Veränderungen" anzusehen, die unumkehrbar (irreversibel) sind. Somit ist die Evolution vom Fisch zum Vierfüsser ein irreversibler konstruktioneller Umbau, während die Verschiebung einer Merkmalsausprägung in einer Population nur eine Varianzerzeugung ist. Die Frankfurter Evolutionstheorie bezweifelt, dass die Mechanismen und die Kriterien, nach denen Varianz und Evolution ablaufen, bzw. erforscht werden können, zwangsläufig identisch sind. Vielmehr müssen zur Rekonstruktion der Evolutionsgeschichte, also zur Beantwortung der Frage, wie die eine Körperkonstruktion in eine andere verändert werden konnte, ganz andere Methoden und Überprüfungskriterien herangezogen werden, als zur Erklärung und Erforschung von Populationsdynamik und Änderung von Merkmalsausprägungen.

Die Frankfurter Evolutionstheorie betrachtet Lebewesen eben nicht als reine Merkmalsträger, sondern als mechanisch kohärente, hydraulische Energiewandelnde Konstruktionen, und ebenso wie an einem in Betrieb befindlichen Motor keine x-beliebigen Veränderungen vorgenommen werden können, ohne dass dieser kaputt geht, sind die Möglichkeiten struktureller Veränderungen von Organismen in ebensolcher Weise beschränkt.

Ein zentrales Missverständnis der Gegner der Frankfurter Evolutionstheorie war und ist bis heute, der Geltungsbereich der Beschreibungen und Darstellungen. Während die Synthetische Evolutionstheorie als Arbeitsgegenstand Arten, Populationen, Fortpflanzungsgemeinschaften oder gar Individuen verwendet, beziehen sich die Aussagen der Frankfurter Evolutionstheorie auf die den jeweiligen Lebewesen zugrundeliegenden Körperkonstruktionen. Eine Konstruktion ist nicht gleichzusetzen mit einer Art, einer Gattung oder einem anderen taxonomischen Begriff. Organismische Konstruktionen sind vielmehr Beschreibungsweisen von Lebewesen hinsichtlich ihren Aufbaus und Funktionierens.

Wichtige Forschungsergebnisse

Zu den wichtigsten Forschungsergebnissen der Frankfurter Evolutionstheorie ist eine grundsätzlich revidierte Betrachtung der Bauplanevolution zu zählen, derzufolge von einer allmählichen Komplexitätssteigerung oder Höherentwicklung im Tierreich nicht mehr gesprochen werden kann. In der Folge ist z.B. die Konfiguration von Nervensystemen kein Kriterium mehr, um auf eine urtümliche oder abgeleitete evolutionäre Stellung eines Tieres zu schließen. Im Jahre 1992 wurde eine Gesamtschau der Evolution des Tierreiches in Form eines Posters publiziert ("Die Evolution der Tiere"), das viele Ergebnisse heutiger molekularbiologischer Stammbäume (New Animal Phylogeny) vorweggenommen hat. Das Poster ist schließlich in weiteren Auflagen im Jahr 1995, 2001 und 2008 erschienen, und hat jeweils weitere Ergebnisse in die Gesamtdarstellung der Evolution des Tierreiches integriert. Sowohl im konstruktionsmorpholgischen Modell als auch in der New Animal Phylogeny gibt es keine Verzweigungsfolge, die mit dem Prinzip „von einfach zu komplex“ begründbar wäre, eher kam es in vielen Linien zu sekundären Vereinfachungen, die im Rahmen der Frankfurter Evolutionstheorie mit Ökonomisierungen der Körperkonstruktion zu erklären sind.

Im Zentrum der Evolutionsgeschichte der Tiere steht demnach ein gallertig aufgebautes vielzelliges Tier, der sogenannte Gallertoide, von dem aus sich die Hauptevolutionslinien des Tierreiches herleiten lassen. Entscheidend ist hierbei, dass dieser erste vielzellige Organismus nicht einfach nur ein „Vielzeller“ ist, sondern eine relativ komplexe Tierkonstruktion, deren Körper aus Bindegewebe und mehr oder minder differenzierten Zellen, in einem Folgestadium auch aus Flüssigkeitsfüllungen (in Form von Kanälchen) besteht. Eine spezifische Schlussfolgerung dieses Modells besteht zum Beispiel darin, dass der Körperbau der Tiere nicht über die klassische Keimblattlehre (Ekto-, Endo- Mesoderm) verstanden oder gar evolutionsgeschichtlich rekonstruiert werden kann, sondern nur über ein histologisches Gesamtverständnis des Organismus. Keimblätter sind Strukturen der Embryogenese, nicht aber der Evolution. Damit ist auch die klassische Großeinteilung der Tiere in Diplo- und Triploblasten irreleitend. Entwicklungsgenetische Daten über hochkonservierte mesodermale Transkriptionsfaktoren unterstützen neuerdings diese schon in den 1970er Jahren vorgelegte, konstruktionsmorphologisch begründete Rekonstruktion.

Weitere Innovationen seitens der Frankfurter Evolutionstheorie bzw. der im Rahmen dieser Theorie durchgeführten Forschungen sind in der Ableitung der Chordaten von metameren statt von oligomeren Vorläufern, der Neusortierung der Deuterostomier (insbesondere der Ausschluss der Kranzfühler aus den Deuterostomia) und in der Herleitung fast aller Bilateria von einem metameren Vorläufer zu sehen (die einzige Ausnahme wären bestimmte Plattwurmgruppen).

Die Ergebnisse der konstruktionsmorphologischen Ableitungen werden bis heute von vielen Zoologen kritisch betrachtet, wenngleich diese biomechanisch fundierten Ergebnisse weitaus besser zu den neueren molekularbiologischen Ergebnissen passen, als die traditionellen Stammbaumvorschläge zur Bauplanevolution.

Literatur

  • Gutmann, W. F. 1972. Die Hydroskelett-Theorie. - Aufsätze und Reden der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft 21: 1-91.
  • Gutmann, W. F. 1989. Die Evolution hydraulischer Konstruktion – organismische Wandlung statt altdarwinistischer Anpassung. - 201 p., Frankfurt am Main (Kramer).
  • Petr, V. 1991. W. F. Gutmann: Die Evolution hydraulischer Konstruktionen: organismische Wandlung statt altdarwinistischer Anpassung. – 201 str. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt a. M., 1989. - Casopis pro mineralogii a geologii 36: 75.
  • Gudo, M. 1997. Ist die Konstruktionsmorphologie ein Aktualistisches Prinzip der Paläontologie? - Courier Forschungsinstitut Senckenberg 201: 145-160.
  • Gutmann, W. F. & Bonik, K. 1981. Kritische Evolutionstheorie – Ein Beitrag zur Überwindung altdarwinistischer Dogmen. - 227 p., Hildesheim (Gerster).
  • Gudo, M. & Grasshoff, M. 2002. The Origin and Early Evolution of Chordates: The 'Hydroskelett-Theorie’ and New Insights Towards a Metameric Ancestor. - Senckenbergiana lethaea 82: 325-346.
  • Syed, T. 2003. Wie neu ist die „New Animal Phylogeny“? – Eine mögliche Synthese morphologischer und molekularer Befunde zur Bauplan-Evolution. - Jahrbuch für Geschichte und Theorie der Biologie IX: 33-76.
  • Umfangreiche Liste von Publikationen zur Konstruktions-Morphologie.

Weblinks