Hereditäres Angioödem


Klassifikation nach ICD-10
D84.1 Defekte im Komplementsystem, inkl. C1-Esterase-Inhibitor[C1-INH]-Mangel
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Das hereditäre Angioödem (engl. hereditary angioedema, HAE; veraltet „hereditäres angioneurotisches Ödem“, HANE) ist eine seltene Erbkrankheit, bei welcher aber etwa 25 % Spontanmutationen anzunehmen sind und bei der es zu immer wiederkehrenden Schwellungen (Ödemen) der Haut, Schleimhäute und an inneren Organen kommt, die unter Umständen lebensbedrohlich sein können. Man schätzt, dass etwa einer unter 10.000 bis 50.000 Menschen betroffen ist, jedoch liegt die Dunkelziffer wahrscheinlich deutlich höher. Meist zeigen sich die Symptome schon in den ersten beiden Lebensjahrzehnten, wobei Männer und Frauen etwa gleich häufig erkranken. Zu unterscheiden ist dieses bradykininvermittelte Krankheitsbild vom histaminvermittelten Angioödem.[1]

Krankheitsbild

Die Hautödeme sind häufig gerötet und schmerzen, jucken aber nicht. Sie treten meistens an der Haut oder den Schleimhäuten des Gesichts, insbesondere im Lippenbereich, den Extremitäten oder den Genitalien auf und können entstellend sein. Schwellungen am Magen-Darm-Trakt können zu schweren Krämpfen und Schmerzen führen. Da das HAE eine seltene Erkrankung ist, werden diese Symptome häufig auch von ärztlicher Seite mit denen einer Kolik oder Blinddarmentzündung verwechselt. Besonders gefährlich sind Schwellungen im Bereich der oberen Atemwege (Kehlkopf, Nase, Zunge), die unbehandelt lebensbedrohlich werden können. Jeder dritte Betroffene erleidet mindestens eine solche Attacke in seinem Leben.

Eine Vorhersage, wo und wann das nächste Ödem auftreten wird, ist nicht möglich. Die meisten Patienten erleiden gelegentlich eine Attacke, aber es gibt auch Fälle in denen das wöchentlich bzw. nur ein- oder zweimal im Jahr geschieht. Die Auslöser können verschiedener Art sein, wie etwa Infektionen, kleine Verletzungen, mechanische Reizungen, Operationen oder Stress. Ein Ödem entwickelt sich meist schnell und klingt dann im Verlauf von einigen Tagen wieder ab.

Ursachen

Ursache des hereditären Angioödems ist ein genetischer Defekt, der zu einem Mangel an C1-Esterasehemmer (C1-INH) führt. Dabei stellt der Körper entweder zu wenig von diesem Protein her (Typ-1-HAE) oder es ist nicht funktionsfähig (Typ-2-HAE). C1-INH besitzt eine regulierende Funktion in zwei lebenswichtigen Systemen des Körpers: im Kontaktsystem der Blutgerinnung und im Komplementsystem der Immunabwehr. Im Falle des HAE kann ein C1-INH-Mangel in beiden Systemen zur Ödembildung beitragen, die zentrale Rolle scheint jedoch das Peptid Bradykinin im Kontaktsystem zu spielen. Die Ausschüttung von Bradykinin steht am Ende einer Reaktionskette, die als Antwort des Körpers auf eine Verletzung ausgelöst wird. Das Peptid bewirkt, dass vermehrt Flüssigkeit aus den Gefäßen ins Gewebe übertreten kann, was zu Ödemen führt. Gleichzeitig erweitert es die Gefäße und löst Kontraktionen der glatten Muskulatur aus, die Krämpfe und Schmerzen verursachen. Normalerweise wird die Freisetzung von Bradykinin durch die Wirkung von C1-INH begrenzt, bei einem C1-INH-Mangel wird demzufolge deutlich mehr Bradykinin ausgeschüttet als erforderlich.

Autoimmunerkrankungen können ebenfalls zu einem C1-INH–Mangel führen. Im Gegensatz zum erblichen, spricht man dann von einem erworbenen Angioödem (acquired angioedema, AAE). Auch ACE-Hemmer zur Blutdrucksenkung können schwere Ödemattacken auslösen, da sie den Bradykinin-Stoffwechsel beeinflussen. In manchen Fällen beruhen die Angioödeme auf unbekannten Ursachen (sog. idiopathisches Angioödem).

Diagnose

Die Erkrankung wird oft lange Zeit nicht erkannt, da die Symptome denen häufigerer Erkrankungen wie einer Allergie oder einer Darmkolik gleichen. Einen wichtigen Hinweis gibt das Nichtansprechen eines Ödems auf Antihistaminika oder Kortisonpräparate, was eine Abgrenzung gegenüber allergischen Reaktionen ermöglicht. Schwierig ist die Diagnose vor allem bei Patienten, deren Attacken ausschließlich auf den Magen-Darm-Trakt beschränkt sind. Neben dem Nachweis der Erkrankung in der Familiengeschichte, kann hier letztlich nur eine Laboranalyse genauen Aufschluss bringen. Hierbei wird in der Regel nicht der C1-INH-Mangel selbst nachgewiesen, sondern ein erniedrigter Wert für den Komplementfaktor C4. Dieser wird beim Ablauf der Reaktionskette des Komplementsystems der Immunabwehr verbraucht, das aufgrund der fehlenden Regulation durch C1-INH ständig überaktiv ist.

Therapieformen

Akuttherapie

Ziel der Akuttherapie ist es, die Ödementwicklung so rasch wie möglich zu stoppen, was insbesondere bei den Attacken im Kehlkopfbereich lebensrettend sein kann. Mittel der ersten Wahl ist in Deutschland meist ein C1-INH-Konzentrat (Handelsnamen: Berinert P, Cinryze) aus Spenderblut, das intravenös gegeben werden muss. Die Dosierung erfolgt gewichtsadaptiert. Im Notfall kann auch frisch eingefrorenes Blutplasma verwendet werden, das ebenfalls C-1-INH enthält. Seit 2010 ist auch ein rekombinantes C1-INH-Präparat in Deutschland verfügbar, für das kein Spenderplasma benötigt wird (Conestat alfa, Handelsname: Ruconest®; Hersteller Pharming Group NV, Vertrieb: Swedish Orphan Biovitrum AB) (Sobi).[2][3] In einigen Ländern steht den Patienten C1-INH-Konzentrat nur im Rahmen spezieller Patientenprogramme zur Verfügung.

Alternativ steht mit Icatibant ein subkutan applizierbarer Bradykinin-Antagonist zur Verfügung.

Langzeitprophylaxe

Patienten, bei denen die Attacken mindestens einmal pro Monat auftreten oder die ein hohes Risiko für Kehlkopf-Ödeme besitzen, benötigen eine Langzeitprophylaxe. C1-INH-Konzentrat ist hierfür zugelassen. Hierfür wurden häufig männliche Geschlechtshormone (Androgene) eingesetzt, die über einen bisher ungeklärten Mechanismus die Produktion von C1-INH in der Leber erhöhen. Bei Kindern ist der Einsatz von Androgenen kontraindiziert, ebenso in der Schwangerschaft bzw. bei Frauen mit Kinderwunsch. Das mehrfache Auftreten gutartiger Lebertumoren unter dem Androgen Danazol führte dazu, dass die Substanz Anfang 2005 in Deutschland vom Markt genommen wurde.

Kurzzeitprophylaxe

Die Kurzzeitprophylaxe wird normalerweise vor einer Operation oder einer Zahnbehandlung durchgeführt. In Deutschland wird hierfür C1-INH-Konzentrat 1-1½ Stunden vor dem Eingriff gegeben. In Ländern, in denen kein C1-Inhibitor Konzentrat zur Prophylaxe zur Verfügung steht, wird eine Hochdosis-Behandlung mit Androgenen über fünf bis sieben Tage durchgeführt.

Neue therapeutische Entwicklungen

In der klinischen Entwicklung befinden sich zurzeit mehrere neue Wirkstoffe, die auf verschiedenen Wegen in den Krankheitsprozess eingreifen. Dazu gehören etwa ein rekombinant hergestellter Kallikrein-Inhibitor oder rekombinanter C1-INH. Direkt gegen die durch Bradykinin vermittelten Effekte wirkt der peptidische Bradykininrezeptor-Antagonist Icatibant, der seit 2008 in Deutschland zugelassen ist.

Einzelnachweise

  1. Longhurst H, Cicardi M, Lancet. 2012 Feb 4;379(9814):474-81.
  2. Europäischer öffentlicher Beurteilungsbericht (EPAR) (auf Englisch) Europäische Arzneimittelagentur (EMA)
  3. Zusammenfassung der Merkmale von Ruconest (auf Deutsch), Europäische Arzneimittelagentur (EMA)

Literatur

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