Hämolytisch-urämisches Syndrom


Klassifikation nach ICD-10
D59.3 Hämolytisch-urämisches Syndrom
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Das hämolytisch-urämische Syndrom (Abkürzung HUS), auch Gasser-Syndrom, ist eine Erkrankung der kleinen Blutgefäße und damit eine von zwei Formen der Thrombotischen Mikroangiopathie. Dabei werden durch verschiedene Ursachen, meist Bakteriengifte, Blutzellen zerstört und die Nierenfunktion geschädigt. Dieses seltene Syndrom betrifft hauptsächlich Kleinkinder und Säuglinge, bei denen es die häufigste Ursache eines akuten Nierenversagens ist. Es kann jedoch auch bei Erwachsenen auftreten.[1]

Erstbeschreibung

HUS wurde erstmals von dem Pädiater Conrad Gasser und Kollegen 1955 in der Schweizerischen medizinischen Wochenschrift beschrieben.[2][3]

Charakteristika und Formen

Das HUS ist gekennzeichnet durch

  • mikroangiopathische Hämolytische Anämie (Verlust roter Blutkörperchen durch Schädigung kleiner Blutgefäße)
  • Thrombozytopenie (verminderter Anzahl an Blutplättchen)
  • Akutes Nierenversagen.

Sind alle drei Krankheitszeichen vorhanden, spricht man vom kompletten enteropathischen HUS, bei nur zwei, von einem inkompletten enteropathischen HUS.

HUS wird unterschieden in eine, meist durch Infektion ausgelöste, typische Form mit begleitendem Durchfall und eine atypische Form ohne begleitenden Durchfall. Beide Formen treten sowohl bei Kindern, als auch bei Erwachsenen auf. Während das typische HUS (auch $ D{\mathord {+}} $ HUS) bei Kindern häufiger ist, tritt bei Erwachsenen häufiger die Form des atypischen HUS (auch aHUS oder $ D{\mathord {-}} $ HUS) auf.[4]

Ursachen

Das typische HUS wird hauptsächlich durch Shiga-Toxin produzierende Darmbakterien verursacht: Escherichia coli O157:H7 (STEC/EHEC – Shiga Toxin–producing E. coli)[1] oder andere Vero-Toxin-produzierende E. coli[4] sowie durch Shigella dysenteriae. Da bei dieser Erkrankung die Bakterien selbst auf den Darmtrakt beschränkt bleiben und weder die Basalmembran des Darmepithels überschreiten noch in die Blutbahn gelangen, spricht man strenggenommen nicht von einer Infektion, sondern von einer bakteriellen Intoxikation.

HUS trat auch in Zusammenhang mit Virusinfektionen, insbesondere mit Grippe, auf.[5] Das atypische HUS hat seine Ursache in Knochenmarkstransplantationen oder immunsuppressiver Medikation nach Transplantationen, bei Schwangerschaft, Krebs, Chemotherapie und HIV. Auch genetische Faktoren spielen eine Rolle.[4]

Pathophysiologie

Beim typischen HUS binden sich Toxine an spezifische Rezeptoren des glomerulären Endothels, was zum Tod dieser Zellen führt. Durch die darauf folgenden Gerinnungsprozesse werden Blutgerinnsel eingeschwemmt, die zum Verschluss der glomerulären Mikrokapillare führen.[6]

Bei den durch EHEC verursachten Verlaufsformen binden die Bakterien an Oberflächenmoleküle von Darmepithelien. Diese Bindung wird durch ein im Bakteriengenom kodiertes Protein vermittelt. Dieses zu den Adhäsinen gehörende Protein wird auf dem chromosomalen Gen eae lokalisiert. Da bei Kindern und Säuglingen die Anzahl dieser Rezeptoren auf den Zellen höher als bei Erwachsenen ist, sind diese auch anfälliger für diese klassische Verlaufsform des HUS. Nach der Anheftung produzieren die EHEC-Bakterien ein zellzerstörendes Toxin (Verotoxin oder auch Shiga-like Toxin STX2 genannt), das zunächst lokal die Darmepithelzellen zerstört und dadurch eine Durchfallerkrankung auslöst. Das STX2 geht dann in die Blutbahn über, wodurch es eine systemische Wirkung an Nierenepithelzellen sowie an Zellen des zentralen Nervensystems entfaltet. Dieses Toxin wird nicht von Genabschnitten des bakteriellen Chromosoms kodiert, sondern die genetische Information für das STX2 wird durch eine vorherige Infektion des Bakterienstammes mit spezifischen Bakteriophagen als Phagen-DNA übertragen. Zusätzlich kodiert EHEC auf einem außerhalb des Chromosoms gelegenen Plasmid ein Hämolysin, das als bakterielles Produkt Erythrozyten zerstört.

Therapie

Die Therapie des enteropathischen HUS (typisches, durch EHEC ausgelöstes HUS) erfolgt in der Phase der Diarrhoe in erster Linie symptomatisch, das heißt, der Verlust an Wasser und Elektrolyten wird gegebenenfalls durch Infusionen ausgeglichen. Eine Unterdrückung der Diarrhoe durch die Darmbewegung lähmende Arzneistoffe wie Loperamid ist nicht angezeigt,[7] da dadurch die erwünschte Ausschwemmung der toxinproduzierenden Bakterien beim klassischen HUS unterdrückt wird. Bei einer EHEC-Infektion ist die Gabe von Antibiotika absolut kontraindiziert,[7] da diese nicht gegen das Bakteriengift wirken, es andererseits aber Hinweise gibt, dass unter Behandlung mit Antibiotika die Entwicklung eines HUS, wahrscheinlich aufgrund verstärkter Toxinfreisetzung, gefördert wird.[8][9]

Zur Kontrolle des durch die systemischen Wirkungen der Toxine häufig hohen Blutdrucks können ACE-Hemmer angezeigt sein. Bei Bedarf erfolgt zur Entfernung der Toxine aus der Blutbahn eine Dialyse oder Hämofiltration.[7]

Seit 2009 gibt es einige wenige Fallberichte über den Einsatz des monoklonalen Antikörpers Eculizumab bei Kindern mit HUS, die nicht auf Plasmapherese reagierten, sowie bei einem atypischen HUS nach Nierentransplantation.[10][11] Aufgrund dieser Berichte wird seit dem 28. Mai 2011 in einigen Kliniken in Deutschland Eculizumab bei schweren Verläufen, die unter Plasmapherese keine Tendenz zur Besserung zeigen, versuchsweise eingesetzt. Ob und wie weit diese Maßnahme zum Erfolg führt, lässt sich nach Aussage von Rolf Stahl, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, erst zu einem späteren Zeitpunkt, in etwa 3–4 Wochen nach Therapiebeginn, zeigen[12]. Dennoch kann einer Information der DGfN zufolge beim EHEC-HUS-Ausbruch in Deutschland 2011 in bestimmten Fällen eine Therapie mit Eculizumab erfolgen.[13]

Zur Therapie des atypischen HUS ist die Datenlage unklar. Die Prognose ist schlecht. Historisch wurde mit Plasmaaustausch therapiert.[7]

Gehäuftes Auftreten

Im Mai 2011 kam es in Deutschland zu gehäuftem Auftreten von HUS. Bis Mitte Juni wurden dem Robert Koch-Institut über 800 HUS-Fälle, darunter mehr als 20 Todesfälle, gemeldet, seitdem sind die Meldungen von Neuerkrankungen rückläufig. Bei den Erkrankten konnte ein E. coli-Stamm des bisher selten nachgewiesenen Serotyps O104:H4 isoliert werden, der unter anderem Eigenschaften eines EHEC und eines EAEC aufweist. Auffällig im Gegensatz zu früheren Ausbrüchen von EHEC war, dass hauptsächlich Erwachsene (87 % über 18 Jahre), vor allem Frauen (68 %), betroffen waren. Auch die große Zahl der schweren Krankheitsverläufe einschließlich zentralnervöser Symptome war ungewöhnlich.[14]

Meldepflicht

In Deutschland ist der klinische Verdacht, die Erkrankung und der Tod an einem durch bakterielle Infektionen verursachten HUS gemäß § 6 Infektionsschutzgesetz namentlich meldepflichtig.

Literatur

  • Friedrich Carl Sitzmann: Pädiatrie. 300 Tabellen. 3. überarbeitete und erweiterte Auflage. Thieme, Stuttgart 2007, ISBN 3-13-125333-9, (Duale Reihe), (Das duale Lehrbuch).
  • Gerd Herold und Mitarbeiter: Innere Medizin. Eine vorlesungsorientierte Darstellung unter Berücksichtigung des Gegenstandskataloges für die ärztliche Prüfung. Mit ICD 10-Schlüssel im Text und Stichwortverzeichnis . Selbstverlag, Köln 2007.
  • W. Böcker, H. Denk, Ph. U. Heitz (Hrsg.): Pathologie. 3. völlig überarbeitete Auflage. Urban & Fischer, München u. a. 2004, ISBN 3-437-42381-9.
  • S. Razzaq: Hemolytic uremic syndrome. An emerging health risk. Am Fam Physician. 2006 Sep 15;74(6):991-6. Review. PMID 17002034
  • M. Noris, G. Remuzzi: Hemolytic uremic syndrome. J Am Soc Nephrol. 2005 Apr;16(4):1035-50. Review. PMID 15728781
  • Lothar Bernd Zimmerhackl, Hege Verweyen, Angela Gerber u. a.: Das hämolytisch-urämische Syndrom. In: Deutsches Ärzteblatt. Band 99, Nr. 4, 2002, S. 196–203 (online [PDF]).
  • A. J. Waddell, L. R. Matz: Haemolytic-uraemic syndrome: a report of two cases in adults. In: The Medical journal of Australia Band 2, Nummer 19, November 1966, S. 893–897, PMC 238474 (freier Volltext), ISSN 0025-729X. PMID 5929390.

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 S. Razzaq: Hemolytic uremic syndrome. An emerging health risk. Am Fam Physician. 2006 Sep 15;74(6):991-6. Review. PMID 17002034
  2. C. Gasser, E. Gautier, A. Steck, R. E. Siebmann, R. Oechslin: Hämolytisch-urämische Syndrome: Bilaterale Nierenrindennekrosen bei akuten erworbenen hämolytischen Anämien. In:Schweiz. Med. Wochenschr. Band 85, 1955, S. 905–909. PMID 13274004
  3. Vgl. PMID 13274004
  4. 4,0 4,1 4,2 Jingxuan Liu, Michael Hutzler, Cuizhen Li, Liberto Pechet: Thrombotic Thrombocytopenic Purpura (TTP) and Hemolytic Uremic Syndrome (HUS): The New Thinking. In: Journal of Thrombosis and Thrombolysis. Band 11, Nr. 3, 2001, S. 261–272, doi:10.1023/A:1011921122595.
  5. Ana Farinha, Patrícia Carrilho, Joana Felgueiras u.&nbsp:a.: Haemolytic uraemic syndrome associated with H1N1 influenza. In: NDT Plus. Band 3, Nr. 5, 2010, S. 447–448, doi:10.1093/ndtplus/sfq126.
  6. Upton Allen, Christoph Licht: Pandemic H1N1 influenza A infection and (atypical) HUS—more than just another trigger? In: Pediatric Nephrology. Band 26, Nr. 1, 2010, S. 3–5, doi:10.1007/s00467-010-1690-z.
  7. 7,0 7,1 7,2 7,3 Berthold Block: Innere Medizin – Leitlinien 2007/2008: Zusammenstellung evidenzbasierter Leitlinien und Empfehlungen. Georg Thieme, Stuttgart 2007, S. 42 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  8. Franz Daschner, Uwe Frank: Antibiotika am Krankenbett, S.140. Springer, Berlin, Heidelberg 2004, ISBN 978-3-540-40846-8. Online: eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
  9. Dieter Adam: Die Infektiologie, S. 1032 f. Springer, Berlin, Heidelberg 2003, ISBN 978-3-540-00075-4. Online: eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
  10. A. L. Lapeyraque, M. Malina u. a.: Eculizumab in severe Shiga-toxin-associated HUS. In: The New England journal of medicine. Band 364, Nummer 26, Juni 2011, S. 2561–2563, ISSN 1533-4406. doi:10.1056/NEJMc1100859. PMID 21612462.
  11. R. A. Gruppo, R. P. Rother: Eculizumab for congenital atypical hemolytic-uremic syndrome. In: The New England journal of medicine. Band 360, Nummer 5, Januar 2009, S. 544–546, ISSN 1533-4406. doi:10.1056/NEJMc0809959. PMID 19179329.
  12. Pressemitteilung vom 28. Mai 2011: UKE versorgt derzeit 64 Patienten, die das HU-Syndrom entwickelt haben
  13. Hinweise zur Anwendung von Eculizumab [bei] Patienten mit schwerer Verlaufsform von EHEC assoziiertem HUS. Abgerufen am 4. Juni 2011
  14. C. Frank, M. S. Faber, M. Askar u. a.: Large and ongoing outbreak of haemolytic uraemic syndrome, Germany, May 2011. Eurosurveillance, Volume 16, Issue 21, 26 May 2011