Kollektive Intelligenz


Kollektive Intelligenz, auch Gruppen- oder Schwarmintelligenz genannt, ist ein emergentes Phänomen. Kommunikation und spezifische Handlungen von Individuen können intelligente Verhaltensweisen des betreffenden „Superorganismus”, d. h. der sozialen Gemeinschaft, hervorrufen. Zur Erklärung dieses Phänomens existieren systemtheoretische, soziologische und philosophische, aber auch pseudowissenschaftliche Ansätze.

Eine frühe Formulierung des Grundgedankens der Kollektiven Intelligenz findet sich in Aristoteles’ Summierungstheorie.

Systemtheorie

Francis Heylighen, Kybernetiker an der Vrije Universiteit Brussel, betrachtet das Internet und seine Nutzer als Superorganismus: „Eine Gesellschaft kann als vielzelliger Organismus angesehen werden, mit den Individuen in der Rolle der Zellen. Das Netzwerk der Kommunikationskanäle, die die Individuen verbinden, spielt die Rolle des Nervensystems für diesen Superorganismus”. Der Schwarm ersetzt das Netzwerk dabei also nicht, sondern bildet nur die Basis. Diese Sicht geht konform mit der Betrachtung des Internets als Informationsinfrastruktur. Die Bedeutung des Begriffes verschiebt sich dabei jedoch weg von künstlicher Intelligenz hin zu einer Art Aggregierung menschlicher Intelligenz.

Soziologische Beschreibung

Eine bestimmte soziologische Interpretation versteht unter kollektiver Intelligenz gemeinsame, konsensbasierte Entscheidungsfindung. Kollektive Intelligenz sei ein altes Phänomen, auf das Fortschritte in Informations- und Kommunikationstechnologien neu und verstärkt hinwiesen. Das Internet vereinfache wie nie zuvor, dezentral verstreutes Wissen der Menschen zu koordinieren und deren kollektive Intelligenz auszunutzen.

In diesem Sinne formuliert Howard Rheingold in seinem 2002 erschienen Buch „Smart Mobs: The Next Social Revolution“: „The ‚Killer-Apps’ of tomorrow's mobile infocom industry won't be hardware devices or software programs but social practices.” (Die Killerapplikationen der mobilen IT-Industrie von morgen werden nicht Hardware oder Software sein, sondern soziale Handlungen.)[1]

Dem Leitbild der Schwarmintelligenz wird das Potential unterstellt, Gesellschaft und Märkte zu transformieren. Als Beispiele hierfür dienen Smart Mobs wie die Critical Mass-Bewegung.

Naturwissenschaftliche Beschreibung

Klassisches Beispiel ist der Ameisenstaat. Eine einzelne Ameise hat ein sehr begrenztes, aber auch sehr funktionelles Verhaltens- und Reaktionsrepertoire. Im selbstorganisierenden Zusammenspiel ergeben sich jedoch Verhaltensmuster, Abläufe und Resultate, die aus menschlicher Sicht „intelligent“ genannt werden können. Bestimmte Aspekte der „Intelligenz“ (besser „Funktionalität“) einer solchen Ameisenkolonie – zum Beispiel Abläufe der Nahrungssuche – können in Regeln erfasst und mit Computerprogrammen simuliert werden.[2]

Die Individuen staatenbildender Insekten agieren mit eingeschränkter Unabhängigkeit, sind in der Erfüllung ihrer Aufgaben jedoch sehr zielgerichtet. Die Gesamtheit solcher Insektengesellschaften ist überaus leistungsfähig, was Forscher auf eine hochgradig entwickelte Form der Selbstorganisation zurückführen. Zur Kommunikation untereinander nutzen Ameisen beispielsweise Pheromone, Bienen den Schwänzeltanz. Ohne jede Form einer zentralisierten Oberaufsicht ist das Ganze also mehr als die Summe der Teile.

In gewisser Weise ist auch ein Gehirn das Zusammenspiel eines Superorganismus aus für sich „unintelligenten” Individuen, nämlich den Neuronen. Ein Neuron ist annähernd nichts weiter als ein Integrator mit Reaktionsschwelle, genauer, einer sigmoiden Reaktionskurve. Erst das komplexe und spezifischen Regeln unterliegende Zusammenwirken von Milliarden von Neuronen ergibt, was wir unter Intelligenz verstehen.

Beschreibung in der Informatik

Schwarmintelligenz (engl. swarm intelligence), das Forschungsfeld der Künstlichen Intelligenz (KI), das auf Agententechnologie basiert, heißt auch Verteilte Künstliche Intelligenz (VKI). Das Arbeitsgebiet versucht, komplexe vernetzte Softwareagentensysteme nach dem Vorbild staatenbildender Insekten wie Ameisen, Bienen und Termiten, sowie teilweise auch Vogelschwärmen zu modellieren. Gerardo Beni und Jing Wang hatten den Begriff swarm intelligence 1989 im Kontext der Robotikforschung geprägt.[3][4]

Die VKI-Forschung geht davon aus, dass die Kooperation künstlicher Agenten höhere kognitive Leistungen simulieren kann; Marvin Minsky bezeichnet dies als The Society of Mind. Ein Einsatzbeispiel für diese so genannten Ameisenalgorithmen stellten Sunil Nakrani von der Oxford University und Craig Tovey vom Georgia Institute of Technology 2004 auf einer Konferenz über mathematische Modelle sozialer Insekten vor; sie modellierten die Berechnung der optimalen Lastverteilung bei einem Cluster von Internet-Servern nach dem Verhalten der Bienen beim Nektarsammeln.[5]

Für die Kommunikation zwischen den Agenten wird häufig die Knowledge Query and Manipulation Language (KQML) eingesetzt.

1986 bildete Craig Reynolds mit dem Computerprogramm Boids eine Simulation des Schwarmfluges ab.

Neben dem Forschungsfeld der VKI ist Schwarmintelligenz auch ein unscharfes Mode-Schlagwort wie bereits ab etwa 2000 das Peer-to-Peer (P2P). Während letzteres antrat, das Paradigma der Client-Server-Architektur durch dezentralisierte P2P-Architekturen abzulösen, soll Schwarmintelligenz nun hardwarebasierte Netzwerke ersetzen.

Forscher an der Princeton University befassen sich unter der Leitung von Roger Nelson seit 1988 mit dem Phänomen der kollektiven Wahrnehmung von Menschen und haben dazu Messstationen auf der ganzen Welt stationiert. Das „Global Consciousness Project“ sammelt die empirischen Daten und vergleicht sie mit der Nachrichtenlage, um zu erkennen, ob ein Ereignis bereits, bevor die Nachricht verbreitet wurde, neuronale Reaktionen hervorruft. Hierzu wurden signifikante, wenn auch minimale empirische Belege geliefert.[6]

Anwendungsbeispiele

In der Didaktik

Lernergruppen werden so umgestaltet, dass die Ressourcen der einzelnen Lerner stärker ausgeschöpft werden, als es bei dem überlieferten Frontalunterricht der Fall ist. Das Gehirn wird als Modell herangezogen und die Lerner werden als Neurone definiert. Auf der Basis intensiver Interaktionen der Lerner emergieren kollektive Gedanken. Dieses Prinzip wird in der Unterrichtsmethode Lernen durch Lehren (nach Martin) systematisch eingesetzt.

Das Internet

Auch der Cyberspace wurde schon als kollektive Intelligenz bezeichnet. Im heutigen Zustand des Internets mit seinen Milliarden von größtenteils zusammenhanglosen, statischen Dokumenten wird jedoch gelegentlich auch etwas vorsichtiger von kollektivem (Un-)Wissen gesprochen (Stichwörter sind Informationsüberflutung und Informationsmüll). Allerdings werden Internetinhalte zunehmend dynamischer (Beispiele: RSS-Feed, Blogs, Wikis).

Die Verwendung der Gehirnstruktur als Modell für Organisationen hat eine lange Tradition.[7] Bei Aufkommen des Internets wurden von Anfang an Analogien zwischen dem Internet und dem Gehirn gezogen, wobei die Interaktionen zwischen Benutzern mit Interaktionen zwischen Neuronen oder Neuronenensembles verglichen werden können. Nach anfänglicher Skepsis wächst die Anzahl an Publikationen, die das Internet metaphorisch als Weltgehirn betrachten. Auch wenn der Vergleich noch zahlreiche Schwachpunkte aufweist, so zeigt sich die Metapher als heuristisches Instrument sehr fruchtbar.[8]

Gemeinsame Überprüfung von Sachverhalten

  • Ein Beispiel für die Bearbeitung eines Themas durch eine Vielzahl von Internetnutzern ist das GuttenPlag Wiki, das am 17. Februar 2011 installiert wurde, um zu überprüfen, ob und inwieweit in der Doktorarbeit des ehemaligen deutschen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg die Kriterien für eine wissenschaftliche Arbeit verletzt wurden.[9]
  • Die DARPA führte 2009 ein Experiment zur Schwarmintelligenz durch. Dabei sollten für ein Preisgeld von 40000 US-Dollar die geheim gehaltenen, über die USA verteilten Orte ausfindig gemacht werden, an denen zehn rote Luftballons an einem Dezembertag für einige Stunden sichtbar waren. Der Versuchsaufbau sollte zu einer kollaborativen Suche animieren. Das Experiment war erfolgreich; alle zehn Orte wurden gefunden.[10]

Kollektive Intelligenz als Thema in der Unterhaltungsliteratur

  • Fred Hoyle, Die schwarze Wolke
  • Stanisław Lem, Der Unbesiegbare
  • Michael Crichton, Beute
  • Frank Schätzing, Der Schwarm
  • Stephen Baxter, Der Orden
  • Star Trek (die Borg)

Siehe auch

  • Schwarmverhalten, Herdenverhalten, Gruppendynamik
  • Ameisenalgorithmus
  • Die Weisheit der Vielen
  • Kollektive Wissenskonstruktion
  • Organisationsintelligenz
  • Stigmergie
  • Soziale Intelligenz

Literatur

  • Rodney A. Brooks: Intelligence without representation. In: Artificial Intelligence. Vol. 47, 1991, ISSN 0004-3702, S. 139–159, online (PDF; 168 KB).
  • Pierre Lévy: Die kollektive Intelligenz. Für eine Anthropologie des Cyberspace. Bollmann, Mannheim 1997, ISBN 3-927901-89-X.
  • Christopher Adami: Introduction to Artificial Life. Springer, New York NY 1998, ISBN 0-387-94646-2.
  • Angelika Karger: Wissensmanagement und „Swarm intelligence“ – Wissenschaftstheoretische, semiotische und kognitionsphilosophische Analysen und Perspektiven. In: Jürgen Mittelstrass (Hrsg.): Die Zukunft des Wissens. Workshop-Beiträge / XVIII. Deutscher Kongress für Philosophie Konstanz 1999. Universitäts-Verlag Konstanz, Konstanz 1999, ISBN 3-87940-697-9, S. 1288–1296.
  • Lynne E. Parker (Hrsg.): Multi-robot systems. From swarms to intelligent automata (= Multi-robot systems. Bd. 3). Proceedings from the 2005 International Workshop on Multi-Robot Systems. Springer, Dordrecht 2005, ISBN 1-4020-3388-5
  • James Surowiecki: Die Weisheit der Vielen. (Warum Gruppen klüger sind als Einzelne) (= Goldmann 15446). Goldmann, München 2007, ISBN 978-3-442-15446-3.
  • Jean-Baptiste Waldner: Nanocomputers and Swarm Intelligence. ISTE u. a., London 2008, ISBN 978-1-84821-009-7.
  • Eva Horn, Lucas Marco Gisi (Hrsg.): Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information (= Masse und Medium. Bd. 7). Transcript, Bielefeld 2009, ISBN 978-3-8376-1133-5.
  • Jan Marco Leimeister, Michael Huber, Ulrich Bretschneider, Helmut Krcmar: Leveraging Crowdsourcing: Activation-Supporting Components for IT-Based Ideas Competition. In: Journal of Management Information Systems. Vol. 26, Nr. 1, 2009, ISSN 0742-1222, S. 197–224, doi:10.2753/MIS0742-1222260108.
  • Len Fisher: Schwarmintelligenz. Wie einfache Regeln Großes möglich machen. Eichborn, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-8218-6525-6.
  • Peter Miller: Die Intelligenz des Schwarms. Was wir von Tieren für unser Leben in einer komplexen Welt lernen können. Campus-Verlag, Frankfurt am Main u. a. 2010, ISBN 978-3-593-38942-4.

Weblinks

Disziplinübergreifend
Naturwissenschaften
Informatik
Gesellschaft, Ökonomie und Management

Einzelnachweise

  1. Howard Rheingold: „Smart Mobs: The Next Social Revolution“, 2002
  2. Valeri Rozin und Michael Margaliot: The Fuzzy Ant, IEEE Computational Intelligence Magazine (2007)
  3. G. Beni, J.Wang: Swarm intelligence in cellular robotics systems. In: Proceeding of NATO Advanced Workshop on Robots and Biological System, 1989; vergl. auch doi:10.1007/978-3-642-58069-7_38
  4. Peter Miller: Schwarm-Intelligenz: Weisheit der Winzlinge, in: „National Geographic Deutschland“, Heft 08/2007
  5. NZZ Online: Der Schwänzeltanz der Internet-Server (abgerufen am 22. April 2012)
  6. siehe Current Results, Empirical Normalization unter http://noosphere.princeton.edu
  7. vgl. u. a. Heinz-Kurs Wahren: Lernende Unternehmen. Theorie und Praxis des organisationalen Lernens. Berlin. New-York: de Gruyter. 1996
  8. vgl. Florian Rötzer (1999): Megamaschine Wissen: Vision: Überleben im Netz. New York:Campus Verlag. Jean-Pol Martin (1998): Forschungshomepage – Homepageforschung, in: E. Piepho, A. Kubanek-German (Hrsg.): I beg to differ'. Beiträge zum sperrigen interkulturellen Nachdenken über eine Welt in Frieden. Festschrift für Hans Hunfeld. München: Judicum 1998: 205–213, (PDF-Datei).Jean-Pol Martin (2002): „Wissenscontainer: Online-communities und kollektive Lernprozesse“, In: Christiane Neveling (Hrsg): Perspektiven für die zukünftige Fremdsprachendidaktik. (Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik). Gunter Narr Verlag Tübingen. S. 89–102. PDF Jean-Pol Martin (2006): „Gemeinsam Wissen konstruieren: am Beispiel der Wikipedia“. In: Klebl, Michael, Köck, Michael (Hg.)(2006): Projekte und Perspektiven im Studium Digitale. Medienpädagogik, 3: 157–164. LIT Verlag Berlin. PDF
  9. GuttenPlag Wiki – Im Netz der Plagiate-Jäger, bei spiegel.de, 19. Februar 2011
  10. Deutschlandradio Kultur