Lobotomie


Die Lobotomie (von altgriechisch λοβός lobós „Lappen“ und altgriechisch τομή tomé „das Schneiden“, „der Schnitt“), oft synonym mit Leukotomie (altgriechisch λευκός leukós „weiß“ und altgriechisch τομή tomé „das Schneiden“, „der Schnitt“) verwendet, ist eine neurochirurgische Operation, bei der die Nervenbahnen zwischen Thalamus und Frontallappen sowie Teile der grauen Substanz durchtrennt werden (Denervierung). Sie wurde ursprünglich zur Schmerzausschaltung in extrem schweren Fällen angewendet, dann bei agitierten psychischen Erkrankungen wie Psychosen und Depressionen. Als Folge der Lobotomie tritt eine Persönlichkeitsänderung mit Störung des Antriebs und der Emotionalität auf.

Nach zunehmender Kritik wurde die Lobotomie weitgehend durch die Behandlung mit Psychopharmaka und stereotaktischen Operationen ersetzt, z. B. die Thalamotomie und die Zingulotomie.

Begriffsherkunft und -abgrenzung

Der Begriff Lobotomie wurde aus den altgriechischen Wörtern lobos (Lappen) und temno (Wortstamm tom-, schneiden) gebildet und bezeichnet einen entsprechenden Neocortex-Abschnitt. Strenggenommen dürfte der Begriff deshalb nur für die Schädigung der grauen Substanz des Kortexlappens verwendet werden. Der Begriff Leukotomie leitet sich ab von leukos (gr. weiß), der Bezeichnung für die Faserverbindungen, welche die weiße Substanz des Zentralnervensystems bilden, und tome (Schnitt). Darum dürfte diese Bezeichnung strenggenommen nur bei der Schädigung der weißen Substanz verwendet werden. Da bei der Operation jedoch sowohl graue als auch weiße Substanz zerstört wird, verwendet man die Begriffe Lobotomie und Leukotomie praktisch synonym.

Geschichte

Diese Hirnoperationstechnik wurde von Mario Fiamberti (1894–1979) in Italien und António Egas Moniz in Portugal gleichzeitig in Angriff genommen. 1936 wurde sie erstmalig am Menschen ausgeführt. Moniz wurde dafür 1949 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Ab Anfang der 1940er Jahre entwickelten der amerikanische Psychiater Walter Freeman (1895–1972) und der Neurochirurg James Winston Watts (1904–1994) die Methode zu einer populären Standardtechnik der Psychiatrie, die unter dem Namen Lobotomie bis ca. 1955 in den meisten Industriestaaten, insbesondere jedoch im anglo-amerikanischen Raum, eingesetzt wurde.

Walter Freeman schrieb ohne Beschönigung: Die Psychochirurgie erlangt ihre Erfolge dadurch, dass sie die Phantasie zerschmettert, Gefühle abstumpft, abstraktes Denken vernichtet und ein roboterähnliches, kontrollierbares Individuum schafft.[1]

Freeman wird oft im Zusammenhang mit der exzessiven, übertriebenen und schädlichen Durchführung der Lobotomie genannt. Anfangs übernahm er die Technik von Egas Moniz und verfeinerte sie gemeinsam mit Watts. Später entwickelte er die transorbitale Operationsmethode, welche von lediglich einer Person, welche nicht einmal eine neurochirurgische Qualifikation benötigte, ausgeführt werden konnte. Damit wollte Freeman die massenhafte Verbreitung der zeit- sowie kostengünstigen Methode vorantreiben. Als es infolge der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkrieges in den USA zu einem sprunghaften Anstieg psychischer und psychiatrischer Erkrankungen kam, wurde die von vielen Experten anfangs als Wundermittel gepriesene Lobotomie in tausenden von Fällen in den USA – oft mit negativen Folgen – durchgeführt. Dazu kam, dass man noch nicht über wirksame Medikamente gegen diese Erkrankungen verfügte – mit Chlorpromazin wurde 1952 das erste wirksame Psychopharmakon massenhaft auf den Markt gebracht.

Walter Freeman ließ jedoch auch nach der Einführung von Psychopharmaka und der weitgehenden Ablehnung der irreversiblen operativen Methoden in der Praxis nicht von seiner transorbitalen Lobotomie ab. Sein Wille, die Methode zu verbreiten und Kollegen zu überzeugen, erreichte dabei bizarre Auswüchse: So operierte er vor den Augen zahlreicher Zuschauer sowohl im Fernsehen als auch in Hörsälen Patienten im Akkord (mehrere Dutzend pro Tag). Des Weiteren reiste er in einem Wohnmobil, dem von ihm so getauften Lobomobil, von Klinik zu Klinik durch die USA und operierte einen Patienten nach dem anderen. Zeit seines Lebens pries er die Lobotomie als optimale Behandlungsform und operierte bis zu seiner Pensionierung 1962 weiter, insgesamt ca. 3600 Patienten.[2]

Eine historische Untersuchung aus den 1980er Jahren berichtet über Lobotomien in der Sowjetunion, den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Deutschland, Spanien, den Niederlanden, Indien, Australien, Japan, Kanada, Argentinien und der Tschechoslowakei. In Schweden sind bis 1963 laut einem Bericht des staatlichen schwedischen Fernsehsenders SVT vom April 1998 etwa 4.500 Menschen lobotomiert worden, viele davon gegen ihren Willen.[3] Mindestens 500 von ihnen waren nach heutiger Lesart keine psychiatrisch Erkrankten, sondern u. a. hyperaktive oder zurückgebliebene Kinder. In Finnland waren es bis 1969 etwa 1500 Menschen, die lobotomiert wurden. In Norwegen wurden von 1941 bis 1981 zwischen 3000 und 4000 Personen lobotomiert.[4] In Dänemark als dem Land mit den, im Verhältnis zur Einwohnerzahl, meisten lobotomischen Operationen, wurden bis 1983 etwa 4500 Eingriffe durchgeführt.[5] Weltweit werden die durchgeführten Operationen auf etwa eine Million geschätzt.[2] In den 1950er Jahren wurde die Operation unter anderem durchgeführt, um Homosexualität oder eine kommunistische Einstellung zu „kurieren“.[6] Im Jahre 1967 lokalisierten die Harvard-Autoren V. Mark, F. Ervin und W. Sweet in einem Leserbrief im Journal of the American Medical Association, dem offiziellen Organ der amerikanischen Ärztevereinigung, die Ursache der Rassenunruhen von Detroit in einer „fokalen Hirnstörung“, die man nur operativ entfernen müsse, um weitere Unruhen zu verhindern. 1970 erschien Marks und Ervins Buch Violence and the Brain[7] (Gewalt und das Gehirn), in dem die beiden die Psychochirurgie als endgültige Lösung für das Problem der Gewalt vorschlagen, beispielsweise bei unbelehrbaren Gefängnisinsassen. Der Psychiater L. G. West nannte diesen Ansatz 1969 in einem Artikel den „biosozialen Humanismus“. Der kalifornische Psychiater H. Brown empfahl 1979 die Psychochirurgie zur „Rehabilitation“ jugendlicher Straftäter. In der Londoner Times und der Washington Post wurden Browns Vorschläge diskutiert – mit dem Hinweis darauf, dass diese Art der Resozialisierung mit nur 6000 US$ weitaus kostengünstiger sei als eine lebenslange Verwahrung, die um 100.000 US$ an Kosten verursache.

Wegen der erheblichen Nebenwirkungen und mit dem Aufkommen der Psychopharmaka geriet die Methode bereits Anfang der 1950er Jahre wieder in Verruf. Gleichwohl ließ noch 1941 Joseph P. Kennedy an seiner 23 Jahre alten Tochter Rosemary, Schwester des späteren US-Präsidenten John F. Kennedy, eine solche Operation durchführen, welche sie schwerbehindert und bis an ihr Lebensende pflegebedürftig überlebte. Bürgerrechtsbewegungen begannen um 1960, gegen die Lobotomie vorzugehen. Ken Keseys Roman Einer flog über das Kuckucksnest zeigte 1962 drastisch die Auswirkungen der Operation auf psychiatrische Patienten. Der Roman wurde mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet und 1975 von Miloš Forman erfolgreich verfilmt. Der 2011 erschienene Film Sucker Punch thematisiert in der Handlung die Lobotomie als düsteres Stilmittel mit schockierenden Auswirkungen.

Technik

Ursprüngliche Methode

Die ursprüngliche, von Moniz entwickelte und von Freeman und Watts in den USA verfeinerte Methode wird auch als Präzisionsmethode bezeichnet. Sie erfordert die Teilnahme von mindestens zwei Personen an der Operation: eines Neurologen und eines (Neuro-)Chirurgen.

Dabei ging man folgendermaßen vor: Es wurde bilateral (auf beiden Kopfseiten) ein etwa zwei Zentimeter durchmessendes Loch in den Schädel gebohrt, wobei man sich an der vorderen Schädelnaht (Sutura koronalis) und weiteren Punkten orientierte. Die Löcher befanden sich in etwa drei Zentimeter vor und fünf Zentimeter oberhalb des Ohres – also im Bereich des präfrontalen Kortex. Anschließend wurden die beiden Bohrlöcher manuell um einige Millimeter erweitert. Nun führte der Chirurg auf (etwa) horizontaler Ebene ein längliches Messer oder ein spezielles Leukotom in den Schädel ein. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Kopfes, befand sich der Neurologe, welcher die Vordringungsrichtung des Leukotoms dirigierte. Zunächst wurde dieses vom Chirurgen unter Anpeilung der gegenüberliegenden Schädelbohrung bis kurz vor die Mitte des Schädels bzw. Gehirn (vor Erreichung der fissura longitudinalis) geschoben. Die Orientierung erfolgte dabei zudem an weiteren, innenliegenden Schädelpunkten. An diesem Punkt führte der Chirurg die eigentliche Lobotomie durch, bei welcher weite Teile der Faserbahnen in der weißen Substanz sowie einige Bereiche der grauen Substanz im Gebiet des präfrontalen Kortex irreversibel zerstört wurden. Dazu schwenkte er das eingeführte Leukotom in vorgeschriebenen Winkeln in der koronaren Ebene nach oben und unten. Somit wurden Teile des Gehirns einfach „zerschnitten“. Anschließend wurde die gleiche Prozedur in der anderen Hirnhemisphäre durchgeführt.

Freemans Transorbitale Methode

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Eispickel-Werkzeug

Freeman entwickelte die neue Operationsmethode aus zwei Gründen: Zum einen war bei ihrer Ausführung lediglich ein mehr oder minder fachkundiger Mensch vonnöten; zum anderen war sie wesentlich zeit- und kostengünstiger, erforderte nicht einmal eine Vollnarkose oder die Öffnung des Schädels. Teilweise dauerte die gesamte Operation von Eintreffen bis Verabschiedung des Patienten nicht einmal eine Stunde. Bei der Operation wurde dem lokal oder vollständig anästhetisierten Patienten vom Operateur (der in den seltensten Fällen ein ausgebildeter Chirurg war) ein langes spitzes Werkzeug oberhalb der Augenhöhle in den Kopf eingeführt. Dafür wurde dem Patienten das Augenlid angehoben, die Spitze des Werkzeuges oberhalb des Augapfels eingeführt und durch den Schädel durchgeschlagen. Da der Schädel im Bereich der Augenhöhlen seinen dünnsten Bereich aufweist, genügte meist ein leichter Schlag an das hintere Ende des Werkzeuges, um in das Gehirn vorzudringen. Freeman entwickelte als Werkzeug ein Gerät, welches einem Eispickel nachempfunden war – weshalb diese Methode oft als „Eispickelmethode“ bezeichnet wird. War die Spitze des Werkzeuges im Gehirn bis zu einem der subjektiven Schätzung überlassenen Punkt vorgeschoben, wurde es wie bei der alten Methode geschwenkt, um das Gewebe in den anvisierten Hirnbereichen zu zerstören. Die gleiche Prozedur wurde anschließend in der anderen Hemisphäre durchgeführt. Die einzigen sichtbaren Schäden, welche die Patienten davontrugen, waren meist lediglich Hämatome am Auge.

Anfangs ließ Freeman seine Patienten noch in Vollnarkose versetzen. Später führte er seine Operationen unter lokaler Betäubung durch. Dies hatte den Vorteil, dass er die Patienten simultan befragen konnte. Besonders bizarr erscheint dabei die Tatsache, dass Freeman nur dann das Ausmaß der Substanzzerstörung im Gehirn für ausreichend erachtete, wenn seine Patienten ernsthafte kognitive Probleme, z. B. bei arithmetischen Aufgaben, zeigten. Denn er hatte beobachtet, dass anscheinend nur Patienten, welche zumindest vorübergehend derlei Beeinträchtigungen aufwiesen, auch wirklich eine Symptomlinderung ihrer psychischen Beschwerden zeigten. Letztlich verwendete Freeman zur Narkotisierung seiner Patienten Elektroschocks. Diese Methode hatte er der elektrokonvulsiven Behandlung von Depressionen entlehnt. Er versetzte den Patienten drei aufeinander folgende starke Schocks über am Kopf angebrachte Elektroden. Dies führt in der Regel (neben Krampfanfällen) zu vorübergehender Bewusstlosigkeit.

Belege zur Wirksamkeit

Es gibt kaum empirische Belege für die Wirksamkeit der Methode. Zwar existieren eine Vielzahl von positiven, subjektiven Berichten und Einschätzungen (meist von den Verfechtern der Methode), es wurden jedoch keine kontrollierten, objektiven Studien durchgeführt. Zu den Störungen, bei denen die Methode (angebliche) Effekte zeigte, gehören insbesondere schwere Depressionen und Zwangserkrankungen sowie in geringerem Ausmaß Angst- und Panikstörungen. In nur sehr wenigen Fällen wird von erfolgreicher Anwendung bei Schizophrenien bzw. psychotischen Symptomen berichtet.

Heutige Bedeutung

In Deutschland wurden seit den 1970er Jahren keine Lobotomien in der oben geschilderten Weise mehr durchgeführt.

Unter dem Begriff „Leukotomie“ werden heute mikrochirurgische Techniken subsumiert, bei denen gezielt epileptogene Zentren ausgeschaltet werden (Nr. 5-013.7 des aktuell in der Bundesrepublik Deutschland gültigen Operationenschlüssels -OPS-). Psychiatriekritiker bezeichnen die Elektrokrampftherapie, therapeutisches Insulin-Koma (Insulinschocktherapie) und Neuroleptika als „nichtinvasive Lobotomien“, da ihrer Ansicht nach bei diesen Techniken Nervengewebe mit gleicher oder ähnlicher Zielsetzung zerstört wird.[8] Neuere Experimente mit Hirnschrittmachern zielen auf dasselbe Ergebnis, und zwar die Stilllegung von überaktiven Nervenbahnen.[9]

Weiterführende Literatur

  • Hans Bangen: Geschichte der medikamentösen Therapie der Schizophrenie. Berlin 1992, ISBN 3-927408-82-4, S. 63–68 (Lobotomie).
  • Elliot Valenstein: Great and Desperate Cures. New York 1986, ISBN 0-465-02711-3.
  • G. J. Diefenbach, D. Diefenbach, A. Baumeister, M. West: Portrayal of lobotomy in the popular press: 1935-1960. In: Journal of the history of the neurosciences Band 8, Nummer 1, April 1999, S. 60–69, ISSN 0964-704X. PMID 11624138.
  • R. Zalashik, N. Davidovitch: Last resort? Lobotomy operations in Israel, 1946-60. In: History of psychiatry Band 17, Nummer 65 Pt 1, März 2006, S. 91–106, ISSN 0957-154X. PMID 17153476.
  • H. H. Jasper: A historical perspective. The rise and fall of prefrontal lobotomy. In: Advances in neurology Band 66, 1995, S. 97–114, ISSN 0091-3952. PMID 7771315. (Review).
  • J. Braslow: Therapeutic effectiveness and social context: the case of lobotomy in a California state hospital, 1947-1954. In: The Western journal of medicine Band 170, Nummer 5, Mai 1999, S. 293–296, ISSN 0093-0415. PMID 10379224. PMC 1305592 (freier Volltext). (Review).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. P. R. Breggin: Elektroschock ist keine Therapie, 1989, Urban & Schwarzenberg, S. 175.
  2. 2,0 2,1 E. S. Valenstein: The psychosurgery debate, Freeman & Co., San Francisco 1980
  3. Der Kurier, Wien, vom 7. April 1998
  4. mat & helse Nr. 3/06, S. 18
  5. Jesper Vaczy Kragh: "Sidste udvej? Træk af psykokirurgiens historie i Danmark" (Dansk Medicinhistorisk Årbog 2007)
  6. Jonathan Ned Katz: Gay American History, 129-207
  7. Vernon H. Mark, Frank R. Ervin: Violence and the Brain, Harpercollins College Div, 1970, ISBN 978-0-06-141698-9
  8. Peter Lehmann:Demokratische Psychiatrie oder Antipsychiatrie? Zur Lösung der Psychiatrie-Frage in: »Gemeindepsychiatrische Wirklichkeit. Kritik der modernen Sozialpsychiatrie«, erschienen in: Störfaktor – Zeitschrift kritischer Psychologinnen und Psychologen (Wien), 3. Jg. (1989), Heft 9/10, Nr. 1, S. 6–19
  9. Deutsches Ärzteblatt Oktober 2004 - Stereotaxie/Hirnschrittmacher: Rückkehr der Psychochirurgie, Seite 472