Überlebenskampf am Meeresboden
Bio-News vom 02.06.2020
Senckenberg-Wissenschaftler Max Wisshak hat gemeinsam mit seinem Kollegen Christian Neumann vom Museum für Naturkunde in Berlin den Überlebenskampf eines Seeigels am Meeresgrund vor Spitzbergen dokumentiert. In ihrer kürzlich im Fachjournal „Polar Biology“ erschienen Studie zeigen sie, dass der Meeresbewohner aus der Gattung Strongylocentrotus trotz schwerer Verletzungen – mehr als ein Drittel seines Panzers und wichtige Organe fehlten – sich noch mindestens 43 Stunden weiter über den Meeresboden bewegte und dabei sogar dem Angriff einer großen Krabbe auswich. Der Fall dokumentiert das hohe Regenerationsvermögen der Seeigel, das im Laufe ihrer Evolution aufgebaut wurde.
Stachelhäuter, zu denen unter anderem Seeigel, Seesterne und Seegurken gehören, haben ein gutes Regenerationsvermögen: Seesterne können beispielsweise ganze Arme ersetzen und in besonderen Fällen sogar aus einem einzigen Arm weitere Arme nachwachsen lassen. „Zu den Selbstheilungskräften von Seesternen gibt es schon einige Studien, ob Seeigel ebenfalls über solche Fähigkeiten verfügen, wurde bislang aber kaum erforscht“, erläutert Dr. Max Wisshak von Senckenberg am Meer in Wilhelmshaven und fährt fort: „Anhand einer Reihe von Fotoaufnahmen vom Meeresboden vor Spitzbergen konnten wir nun die Widerstandsfähigkeit eines dieser Tiere in seinem natürlichen Umfeld direkt beobachten.“
Publikation:
Wisshak, M., Neumann, C.
Dead urchin walking: resilience of an arctic Strongylocentrotus to severe skeletal damage
Polar Biol 43, 391–396
DOI: 10.1007/s00300-020-02634-1
Die spektakulären Aufnahmen entstanden 2016 während einer Expedition mit dem Forschungsschiff Maria S. Merian nach Spitzbergen, bei der eine Experimentplattform mit Messgeräten und einem automatischem Kamerasystem für eine Woche auf dem Meeresgrund platziert wurde. Dabei kam auch der Seeigelprotagonist ins Blickfeld: Ein etwa 38 Millimeter großer Seeigel aus der Gattung Strongylocentrotus.
„Trotz eines großen Lochs im schützenden Panzer, an dessen Stelle eigentlich seine Sexualorgane, sein After und weitere wichtige Organe liegen sollte, konnten wir beobachten, wie sich der kleine Meeresbewohner 43 Stunden und 20 Minuten auf dem Meeresboden weiterbewegte. Sogar einem Angriff einer großen Krabbe konnte der Seeigel noch ausweichen!“, erzählt der Wilhelmshavener Geobiologe.
Der Grund, warum der kleine Seeigel trotz seiner tödlich aussehende Wunde so lang überlebte, liegt laut der Studie darin, dass Seeigel statt einem echten Gehirn ein dezentrales Nervensystem haben, dass auch im Fall von schweren Verletzungen weiter funktioniert.
Wie der Seeigel zu seinen Beschädigungen kam ist unklar. Die Tiere stehen unter anderem auf dem Speiseplan von Fischen und großen Krebsen, die den Panzer des Seeigels aufbrechen können und sich die weichen Organe einverleiben. „Eine natürliche Verletzung ist daher gut möglich. Leider können wir aber auch nicht ausschließen, dass wir selbst den Stachelhäuter beim Herablassen unserer Forschungsgeräte verletzt haben“, so Wisshak. Sollte Letzteres der Fall sein, wäre der Seeigel sogar bereits 4 Tage in seinem Zustand gewesen bevor er in das Blickfeld der Kamera gelangte.
Offen bleibt auch, ob der Meeresgrundbewohner überlebte, nachdem die Aufnahmen beendet wurden. „Von fossilen Seeigeln kennen wir zum Teil beträchtliche Brüche in den Schalen, die anschließend wieder komplett verheilt sind. Wir glauben daher, dass Seeigel – wie ihre Verwandte, die Seesterne – hohe Regenerationsfähigkeiten haben und gehen davon aus, dass die Selbstheilung ein Teil ihrer Evolution ist, um als Beutetier bessere Überlebenschancen zu haben“, schließt Wisshak.
Diese Newsmeldung wurde mit Material des Senckenberg Forschungsinstituts und Naturmuseen via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.