3D-Technologie ermöglicht Blick in die Vergangenheit



Bio-News vom 20.05.2019

Studie identifiziert Fischarten anhand vier Millionen Jahre alter Karpfenzähne ‒ Modell zur Evolution der Biodiversität bei Süßwasserfischen.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Tübingen und aus der Schweiz haben hunderte fossile Karpfenfischzähne erstmals mit 3D-Technologien untersucht. Dabei fanden sie unter den vier Millionen Jahre alten Seeablagerungen aus dem heutigen armenischen Hochland eine erstaunlich hohe Artenvielfalt von Karpfenfischen vor. Dank der „virtuellen Paläontologie“ konnten die Forscher vier sehr nahe miteinander verwandte Arten von Kratzbarben identifizieren.

Sie vermuten, dass die Arten gemeinsam in einem Mega-Seesystem lebten und gehen von einem Artenschwarm aus: eine Gruppe sehr nah miteinander verwandter Arten, die dasselbe Biotop besiedeln. Es ist das erste Mal, dass ein Artenschwarm von Süßwasserfischen in Westasien nachgewiesen wurde. Heute leben diese Karpfenarten jedoch in getrennten Regionen. Solche Erkenntnisse können Grundlage dafür sein, evolutionäre Entwicklungen nachzuvollziehen und die Entstehung von Artenvielfalt besser zu verstehen.


Kratzbarbe

Publikation:


A. Ayvazyan, D. Vasilyan, M. Böhme
Possible species-flock scenario for the evolution of the cyprinid genus Capoeta (Cypriniformes: Cyprinidae) within late Neogene lake systems of the Armenian Highland

PLOS ONE, 8. Mai 2019

DOI: 10.1371/journal.pone.0215543



Das Projekt wurde durchgeführt von Anna Ayvazyan und Professorin Madelaine Böhme vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment (HEP) an der Universität Tübingen in Kooperation mit Dr. Davit Vasilyan vom Jurassica Museum in Porrentruy (Schweiz). Die Ergebnisse wurden im Journal PLOS ONE publiziert.

Kratzbarben (Gattung Capoeta) sind eine ökologisch besondere Karpfenfischgruppe. In ihrer Ernährung sind sie auf Algen spezialisiert, die sie von Steinen abkratzen. Sie leben in Flüssen trockener Landschaften. In West-Asien kommen heute mehr als 30 Arten der Kratzbarben vor. Warum es so viele Arten gibt, war bisher schwer erklärbar ‒ die Identifizierung fossiler Karpfenarten war vor der 3D-Technologie nicht möglich.

Die 3D-Modelle wurden mit Hilfe von Computertomographie erstellt und dienten als Grundlage für Untersuchungen von Struktur und Form der Karpfenzähne. Die 3D-Technologie liefert hochauflösende Bilder von räumlichen Details der Zahnstrukturen lebender Arten. „Diese Methode ermöglicht deshalb zum ersten Mal die Identifikation fossiler Arten“, sagt die Erstautorin der Studie, Doktorandin Anna Ayvazyan. „Wir konnten erst jetzt die erstaunliche Arten-Diversität feststellen, die bereits vor vier Millionen Jahren bestand.“

Wie die Artenvielfalt der Fische im Kaukasus entstand

Auf Grundlage der genauen Artenbestimmung können nun erstmals evolutionäre Modelle für Fischfaunen des Nahen Ostens und des Kaukasus erstellt werden. Die Wissenschaftle-rinnen und Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Evolution der Kratzbarben ein Er-gebnis komplexer Wechselwirkungen zwischen geologischen, biologischen und umweltba-sierten Prozessen ist. Diese Faktoren steuern in einer Region Artbildungsprozesse und die geographische Verbreitung von Arten über mehrere Millionen Jahre.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nehmen an, dass sich in West-Asien vor fünf Millionen Jahren in einem riesigen Seesystem ein Artenschwarm von Kratzbarben ent-wickelte. Durch die Kollision der Afro-Arabischen Kontinentalplatte mit Eurasien begann sich damals das heutige Armenische Hochland um einige Kilometer zu heben. Es umfasst heute Ost-Anatolien, Nordwest-Iran, Armenien, Süd-Georgien und West-Aserbaidschan und ist zwischen 1.500 und 5000 Meter hoch. Diese Gebirgsbildungsprozesse zerteilten das Mega-Seesystem, die einzelnen Kratzbarben-Arten überlebten in getrennten Gebieten der im Hochland entspringenden westasiatischen Flüsse Euphrat, Tigris, Kura und Arax. Die geologischen Prozesse führten zur weiteren Ausdifferenzierung und Entstehung neuer Arten von Kratzbarben.

Weltweit ist die Biodiversität durch den Menschen bedroht. Der kürzlich erschienene Bericht des UN-Biodiversitätsrates listet jede dritte Art der über 15.000 bekannten Süß-wasserfische als gefährdet, insbesondere durch Umweltverschmutzung, Klimawandel, Überfischung und Staudammprojekte. Das trifft vor allem für Karpfenfische zu, die welt-weit artenreichste Familie der Süßwasserfische. Sie kommen nur in stark eingegrenzten Gebieten vor (Endemismus), ihre Verbreitung hängt von Verbindungen zwischen Was-serbecken ab. Um ihrem Artensterben entgegen zu wirken, ist es wichtig zu verstehen, welche evolutiven Mechanismen diese Biodiversität erst entstehen ließen.


Diese Newsmeldung wurde via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.


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