Evolution in Echtzeit - 30 Jahre Schneckenexperiment sagt Anpassung voraus



Bio-News vom 11.10.2024

or den Augen der Forschenden haben sich Meeresschnecken auf einer winzigen Felsinsel weiterentwickelt. Die Meeresschnecken wurden wieder angesiedelt, nachdem eine giftige Algenblüte sie ausgerottet hatte. Die Forscherinnen und Forscher brachten absichtlich eine andere Unterart ein. Diese entwickelte sich jedoch so, dass sie der 30 Jahre zuvor verlorenen Population verblüffend ähnlich wurde.

Wir schreiben das Jahr 1988. Die Kosterinseln vor der schwedischen Westküste nahe der norwegischen Grenze werden von einer besonders dichten Blüte giftiger Algen heimgesucht, die den Bestand an Meeresschnecken auslöscht. Aber warum sollte sich jemand für das Schicksal eines Haufens von Schnecken auf einem Eiland von lediglich drei Quadratmetern Fläche im offenen Meer interessieren? Es stellt sich heraus, dass dies eine einzigartige Möglichkeit bot, Evolution zu beobachten und sogar vorauszusagen.


Schwedische Meeresschnecken L. saxatilis.

Publikation:


Diego Garcia Castillo, Nick Barton, Rui Faria, Jenny Larsson, Sean Stankowski, Roger Butlin, Kerstin Johannesson, and Anja M. Westram
Predicting rapid adaptation in time from adaptation in space: A 30-year field experiment in marine snails

Science Advances (2024)

DOI: 10.1126/sciadv.adp2102



Vor diesem Ereignis beherbergten die Inseln und ihre kleinen Gezeitenschären – felsige Eilande – dichte und vielfältige Populationen von Meeresschnecken der Art Littorina saxatilis. Während sich die Schneckenpopulationen der größeren Inseln – von denen einige auf weniger als 1 % dezimiert worden waren – innerhalb von zwei bis vier Jahren wieder erholten, blieben viele Schären karg.


Schneckenentwicklung für das freie Auge sichtbar. Krabbenschnecken (1992) haben sich im selben Habitat, der Schäre, den dort ursprünglich ansäßigen und nun ausgerotteten Wellenschnecken im Aussehen angepasst – in nur 30 Jahren.

Die Meeresökologin Kerstin Johannesson von der Universität Göteborg, Schweden, ergriff die Gelegenheit und führte im Jahr 1992 L. saxatilis-Schnecken auf einer kleinen Schäre wieder ein. Damit startete sie ein Experiment, das mehr als 30 Jahre später weitreichende Auswirkungen haben sollte. Ein internationales Team geleitet von Forschenden des Institute of Science and Technology Austria (ISTA), der Nord Universität (Norwegen), der Universität Göteborg (Schweden) und der University of Sheffield (Vereinigtes Königreich) veröffentlichte nun, was sich in dieser Zeit getan hat.

Wellenschnecken und Krabbenschnecken

L. saxatilis ist eine verbreitete Art von Meeresschnecken, die an den Küsten des Nordatlantiks vorkommt, wo verschiedene Populationen an ihre Umwelt angepasste Merkmale entwickelt haben. Zu diesen Merkmalen gehören Größe, Schalenform, Schalenfarbe und Verhalten. Die Unterschiede zwischen diesen Merkmalen sind besonders auffällig zwischen dem so genannten Krabben- und dem Wellen-Ökotyp. Diese Schnecken haben sich wiederholt an verschiedenen Orten entwickelt, in Umgebungen, wo ihnen Gefahr von Krabben drohte und auf wellenexponierten Felsen, fern von Krabben. Wellenschnecken sind in der Regel klein und haben eine dünne Schale mit spezifischen Farben und Mustern, eine große und abgerundete Öffnung und ein auffälligeres Verhalten. Krabbenschnecken sind deutlich größer, haben dickere Schalen ohne Muster und eine kleinere und länglichere Öffnung. Zudem sind sie in Anbetracht der sie umgebenden Raubtiere vorsichtiger.


Schwedische Meeresschnecken L. saxatilis.

Die schwedischen Kosterinseln beherbergen diese beiden L. saxatilis-Untergruppen, die oft auf ein und derselben Insel nebeneinander leben oder nur durch ein paar hundert Meter Meer getrennt sind. Vor der toxischen Algenblüte von 1988 bewohnten Wellenschnecken die Schären, während an den nahegelegenen Ufern sowohl Krabben- als auch Wellenschnecken zu finden waren. Diese räumliche Nähe sollte sich als entscheidend erweisen.

Alte Merkmale neu entdeckt

Da die Wellenschneckenpopulation in den Schären durch die giftigen Algen völlig ausgelöscht wurde, beschloss Johannesson 1992, auf einem dieser Eilande wieder Schnecken anzusiedeln, allerdings vom Krabben-Ökotyp. Mit ein bis zwei Generationen pro Jahr erwartete sie zurecht, dass sich die eingebrachten Krabbenschnecken vor den Augen der Forschenden an ihre neue Umgebung anpassen würden. „Unsere Kolleginnen und Kollegen beobachteten bereits im ersten Jahrzehnt des Experiments Anzeichen für die Anpassung der Schnecken“, sagt Diego Garcia Castillo, Doktorand in der Barton Gruppe am ISTA und einer der führenden Autorinnen und Autoren der Studie. „Im Laufe der 30 Jahre des Experiments konnten wir zuverlässig vorhersagen, wie die Schnecken aussehen werden und welche genetischen Regionen betroffen sein werden. Die Veränderung war sowohl schnell als auch weitreichend“, fügt er hinzu.

Die Schnecken haben die veränderten Merkmale jedoch nicht von Grund auf neu entwickelt. Anja Marie Westram, eine ehemalige Postdoktorandin am ISTA und derzeit Forscherin an der Nord Universität, erklärt: „Ein Teil der genetischen Vielfalt war bereits in der Ausgangspopulation der Krabbenschnecken vorhanden, allerdings nur in geringer Häufigkeit. Das liegt daran, dass L. saxatilis in der jüngeren Vergangenheit ähnliche Bedingungen erlebt hatte. Der Zugang der Schnecken zu einem großen Genpool hat diese schnelle Evolution vorangetrieben.“

Anpassung durch Vielfalt

Das Team untersuchte über die Jahre drei Aspekte: das Aussehen der Schnecken, individuelle Genvariationen und größere genetische Veränderungen, genannt Inversionen, die ganze Chromosomregionen betreffen.

Sehr bald nach ihrer Verpflanzung veränderten die Schnecken ihre Form, um sich an ihre neue Umgebung anzupassen. Es handelt sich um das bereits bekannte Phänomen der „phänotypischen Plastizität“. Aber auch genetisch begann sich die Population schnell zu verändern. Die Forscherinnen und Forscher konnten das Ausmaß und die Richtung der genetischen Veränderungen vorhersagen, insbesondere was die Inversionen anbelangt. Sie zeigten, dass die schnelle und dramatische Veränderung der Schnecken möglicherweise auf zwei sich ergänzende Prozesse zurückzuführen ist: Eine schnelle Selektion von Merkmalen, die in den verpflanzten Krabbenschnecken bereits in geringer Häufigkeit vorhanden waren, und einen Genfluss von benachbarten Wellenschnecken, die einfach 160 Meter über das Meer getrieben sein könnten, um die Schäre zu erreichen.

Evolution im Angesicht von Umweltzerstörung und Klimakrise

Es ist theoretisch bekannt, dass sich eine Art mit einer ausreichend hohen genetischen Variation schneller an Veränderungen anpassen kann. Nur wenige Studien zielten bisher jedoch darauf ab, die Evolution über einen längeren Zeitraum in freier Wildbahn zu untersuchen. „Diese Arbeit ermöglicht uns einen genaueren Blick auf die wiederholte Evolution. Dadurch konnten wir vorhersagen, wie eine Population Merkmale entwickelt, die sich in der Vergangenheit unter ähnlichen Bedingungen separat und wiederholt entwickelt haben“, sagt Garcia Castillo.

Das Team möchte nun herausfinden, wie sich Arten an aktuelle Herausforderungen wie Umweltverschmutzung und Klimawandel anpassen können. „Nicht alle Arten haben Zugang zu großen Genpools, und es ist sehr langwierig neue Eigenschaften von Grund auf zu entwickeln. Wie sich Arten an ihre Umgebung anpassen ist sehr komplex, und auch unser Planet ist mit komplexen Veränderungen konfrontiert, wie z. B. extremen Wetterereignissen, dem rasch fortschreitenden Klimawandel, Umweltverschmutzung und neuen Parasiten“, sagt Westram. Sie hofft, dass diese Arbeit weitere Forschungen zur Erhaltung von Arten mit einer großen und vielfältigen genetischen Ausstattung anregen wird. „Vielleicht hilft diese Forschung, die Menschen davon zu überzeugen, eine Reihe von natürlichen Lebensräumen zu schützen, damit die genetische Vielfalt der Arten erhalten bleibt“, schließt Westram.

Inzwischen haben die Schnecken, die Johannesson 1992 auf die Schäre gebracht hat, eine florierende Population von etwa 1.000 Tieren erreicht.


Diese Newsmeldung wurde mit Material Institutse of Science and Technology Austria via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.

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