Navigation mit dem sechsten Sinn



Bio-News vom 26.04.2018

Wüstenameisen orientieren sich am Magnetfeld der Erde. Das zeigt eine neue Studie von Wissenschaftlern der Universität Würzburg. Die Tiere können sich auf diese Weise den Weg zurück in ihr Nest einprägen.

Den Anfang ihres Lebens verbringen Wüstenameisen (Cataglyphis) ausschließlich unterirdisch in ihrem dunklen Nest. Gut vier Wochen lang kümmern sie sich um Brut und Königin, graben Tunnel, bauen Kammern oder räumen auf. Dann irgendwann wagen sie den Schritt an die Oberfläche und wechseln den Job: Bis zu ihrem Tod sind sie von da an als futtersuchende Arbeiterinnen unterwegs.

Mit Pirouetten ans Ziel

Bevor eine Ameise sich auf Futtersuche begibt, muss sie jedoch ihr Navigationssystem kalibrieren. Zu diesem Zweck zeigt sie zwei bis drei Tage lang ein äußerst spezielles Verhaltensmuster: Bei sogenannten Lernläufen erkunden die Tiere die nähere Umgebung rund um den Nesteingang und drehen dabei wiederholt Pirouetten um die eigene Körperachse. Aufnahmen mit Hochgeschwindigkeitskameras zeigen, dass die Ameisen während dieser Drehungen immer wieder stoppen. Das Besondere an den längsten dieser Unterbrechungen: In diesem Moment schauen die Tiere immer exakt in Richtung des Nesteingangs zurück, obwohl sie diesen – ein winziges Loch im Boden – nicht sehen können.

Wissenschaftler vom Biozentrum der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) haben jetzt überraschend festgestellt, dass sich Wüstenameisen in der Phase der Lernläufe am Magnetfeld der Erde orientieren. Diese Fähigkeit war für Wüstenameisen bislang unbekannt gewesen.


Wüstenameisen am Nesteingang

Publikation:


Pauline Nikola Fleischmann, Robin Grob, Valentin Leander Müller, Rüdiger Wehner, Wolfgang Rössler
The geomagnetic field is a compass cue in Cataglyphis ant navigation

Current Biology (2018)

DOI: 10.1016/j.cub.2018.03.043



Publikation in Current Biology

Dr. Pauline Fleischmann und Robin Grob, wissenschaftliche Mitarbeiter von Professor Wolfgang Rössler, Inhaber des Lehrstuhls für Zoologie II am Biozentrum der JMU, führten die Versuche im Sommer 2017 durch. Gemeinsam mit Professor Rüdiger Wehner vom Brain Research Institute der Universität Zürich sowie dem Physiker Valentin Müller von der JMU haben die drei Forscher vom Biozentrum das Experiment konzipiert und stellen die Ergebnisse ihrer Arbeit nun in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Current Biology vor.

„Auf der Suche nach Nahrung entfernen sich Wüstenameisen mehrere hundert Meter von ihrem Nest. Ihr Weg verläuft dabei schlangenlinienförmig und in größeren Schleifen. Haben sie dann Nahrung gefunden, gehen sie auf einer direkten Linie zum Nesteingang zurück“, schildert Wolfgang Rössler die erstaunlichen Fähigkeiten der Ameisen. Dass sich die Tiere dabei am Sonnenstand und am umliegenden Panorama orientieren und diese Informationen mit den zurückgelegten Schritten verrechnen, war bisher schon bekannt.

Experimente in Griechenland

Jüngste Forschungsergebnisse haben jedoch gezeigt, dass die Wüstenameisen in der Zeit der Lernläufe auch dann zum Nesteingang zurückblicken, wenn sie sich nicht am Sonnenstand oder dem Panorama ausrichten können. „Das hat uns auf die Idee gebracht, dass sie möglicherweise das Erdmagnetfeld als Referenzsystem nutzen, so wie das beispielsweise manche Vögel tun“, sagt Pauline Fleischmann.

Zur Überprüfung ihrer These sind die Forscher nach Südgriechenland gereist, wo Cataglyphis-Ameisen heimisch sind. Mit im Gepäck hatten sie ein 1,50 Meter hohes Helmholtz-Spulenpaar. Von einem definierten Strom durchflossen, erzeugen die Spulen ein nahezu homogenes und exakt bekanntes Magnetfeld. Damit konnten die Forscher das Verhalten der Wüstenameisen während der Lernläufe unter kontrollierten Bedingungen in ihrem natürlichen Habitat studieren.

Ein überraschendes Ergebnis

Das Ergebnis war eindeutig: Drehten die Wissenschaftler an der Ausrichtung des Magnetfelds, blickten die Wüstenameisen nicht mehr in Richtung des tatsächlichen Nesteingangs, sondern eines vorhersagbaren neuen Orts – dem fiktiven Nesteingang. „Ihr Wegintegrator lieferte ihnen, basierend auf der Information des Magnetfelds, einen neuen Vektor zum Nest“, erklärt Wolfgang Rössler. Ein überraschendes Ergebnis, wie die Wissenschaftler sagen. Zwar sei von einzelnen Ameisenarten bekannt, dass sie auf Änderungen im Magnetfeld unter bestimmten Bedingungen reagieren; im Fall der Wüstenameise Cataglyphis habe man eine so eindeutige Rolle bei der Navigation jedoch nicht erwartet.

Mit diesem Ergebnis haben die Wissenschaftler „ein neues Tor geöffnet, das viele neue Fragen nach sich zieht“. Eine dieser Fragen lautet: „Wann verwenden Wüstenameisen den Magnet-Sinn?“ Gut möglich, dass sie ihn bereits während der ersten Lebenswochen verwenden, die sie ausschließlich im Nest unter der Erde verbringen. In totaler Dunkelheit kann eine Orientierungshilfe schließlich nicht schaden. Aber das ist derzeit noch Hypothese.

Interessant für Neurowissenschaft, Informatik und Robotik

Wie und ob sie überhaupt zwischen den verschiedenen Navigationshilfen – dem Sonnenstand, dem Landschaftspanorama und dem Magnetfeld – hin und her wechseln, lautet die zweite Frage, die von der Wissenschaft jetzt angegangen werden muss. Immerhin ist bekannt, dass erfahrene Sammelameisen wieder Lernläufe absolvieren, wenn man sie dazu zwingt – beispielsweise durch eine veränderte Umgebung am Nesteingang. Unklar ist, ob sie auch dann wieder auf Informationen des Erdmagnetfelds zugreifen oder ob sie sich wie während ihrer Futtersuchläufe auf ihren Sonnenkompass verlassen.

Und am Ende stehen natürlich die alles überspannenden Fragen: „Wo sitzt der Sensor für das Magnetfeld und wie funktioniert er?“ Damit sei man dann schon ganz tief drin im Bereich der Orientierungs- und Navigationsforschung bei Insekten, sagt Wolfgang Rössler. Wie es das vergleichsweise kleine Gehirn der Ameisen schafft, Richtungsinformationen über den Sonnenstand, das Magnetfeld sowie Panoramaansichten der Landschaft zu speichern und mit Entfernungsinformationen aus dem Schrittzähler zu verarbeiten – diese Frage reiche weit über das Gebiet der Verhaltensforschung und der Neurowissenschaften hinaus erklärt der Wissenschaftler. Die Antwort auf diese Frage sei auch für die Informatik und Robotik von großem Interesse.

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