Neue Erkenntnisse zur genomischen Signatur der Koevolution
Bio-News vom 02.10.2019
Ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung von Limnologen der Universität Konstanz weist nach, dass rapide genomische Veränderungen bei antagonistischen Spezies-Interaktionen durch wechselseitige Auswirkungen von Ökologie und Evolution bestimmt werden.
In einer aktuellen Studie mit dem Titel „The feedback between selection and demography shapes genomic diversity during coevolution“, die am 2. Oktober 2019 im Journal Science Advances veröffentlicht wird, zeigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, der Schweiz, China und Großbritannien, dass die molekulare Evolution bei Spezies-Interaktionen sowohl von öko-evolutionären Rückkopplungseffekten als auch von interspezifischen Unterschieden in Bezug auf die Ausbildung und Erhaltung von genetischer Vielfalt bestimmt werden.
Publikation:
Cas Retel, Vienna Kowallik, Weini Huang, Benjamin Werner, Sven Künzel, Lutz Becks, Philine G. D. Feulner
The feedback between selection and demography shapes genomic diversity during coevolution
Science Advances, 2. Oktober 2019
„Die Interaktion zwischen Spezies ist ebenso wichtig für ökologische Gemeinschaften wie die Koevolution“, erklärt Prof. Dr. Lutz Becks, Professor für Limnologie an der Universität Konstanz und gemeinsam mit Dr. Philine Feulner vom schweizerischen Eawag, dem Wasserforschungsinstitut des ETH-Bereichs, Hauptautor der Studie. „Jüngste experimentelle Studien zur molekularen Evolution bei Wirt-Virus-Systemen zeigen, dass die Koevolution signifikante Auswirkungen auf die molekulare Evolution, die Anpassung des Wirts, die Diversifikation und die Artenbildung hat. Die Annahme, dass Wirt und Virus sich abwechselnd aneinander anpassen, wird schon lange als etablierte Tatsache akzeptiert“, erklärt Lutz Becks.
„Nach einer Runde der Resistenz-Evolution – das heißt, nachdem der Wirt mittels Mutation eine Resistenz gegen den Virus bildet und dieser den Wirt nicht mehr infizieren bzw. selbst reproduzieren kann – würde man typischerweise erwarten, dass von der Wirtpopulation nur noch der gegen den Virus resistente Typus vorhanden ist. Da Mutationen selten sind, haben wir immer angenommen, dass nach der Resistenz-Evolution über einen langen Zeitraum hinweg nur sehr wenig Diversität herrscht. Was unsere Studie jetzt allerdings nahelegt, ist, dass die Dinge weitaus komplizierter sind: Bereits nach einer sehr kurzen Zeitspanne lässt sich entgegen aller Erwartungen wieder Diversität nachweisen.“
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten, dass dies auf die Wechselwirkungen zwischen Veränderungen bei der Selektion – sobald der Wirt gegenüber dem Virus resistent geworden ist, kann das Virus keinen Selektionsdruck mehr ausüben – und dem Populationswachstum zurückzuführen ist. Jede neue Mutation nach der Resistenz-Evolution, sogar wenn diese keinerlei Effekt hat, nimmt in ihrer Häufigkeit rasch zu, weil die Wirtpopulation sich gleichzeitig unglaublich schnell vermehrt. Dies erzeugt wiederum dauerhaft Vielfalt. „Und genau das ist neu“, so Lutz Becks. „Wir waren wirklich überrascht, dass diese Prozesse so schnell ablaufen und dass wir sie so gut nachvollziehen konnten.“
Der Ansatz der Studie lässt sich am besten als experimentelle Evolution beschreiben, wie Lutz Becks weiter ausführt: „Wir erzeugen bestimmte Bedingungen, indem wir Mikroorganismen in ein experimentelles Umfeld einführen. Anschließend schauen wir, wie sich die Eigenschaften der Individuen innerhalb der Populationen mit der Zeit verändern. So sind wir nicht nur in der Lage, jeden beliebigen Zeitpunkt zu analysieren, sondern den gesamten Prozess über einen langen Zeitraum hinweg zu verfolgen. Wir können sogar flexibel verschiedene Zustände miteinander vergleichen, indem wir etwa einen vergangenen Zustand des Wirts mit einem zukünftigen Zustand des Virus konfrontieren. Dieser Ansatz eröffnet uns fantastische Möglichkeiten bei der Identifizierung von evolutionär bedingten Veränderungen wie Resistenz-Evolution beim Wirt oder Gegenanpassung beim Virus.“ Das im Rahmen der Studie ausgeführte Experiment umfasste etwa 100 Wirt-Generationen über einen Zeitraum von 100 Tagen und verschaffte den Forschern zeitlich aufgelöste Informationen zu den genomischen und phänotypischen Veränderungen sowie zu den Größenschwankungen bei den Wirt- und Virus-Populationen.
Das Modellsystem bestand aus Chlorella variabilis-Algen (Wirt) und dem Riesenvirus Paramecium bursaria Chlorella Virus 1 (PBCV-1), die beide ausschließlich asexuell reproduzieren. Lutz Becks: „Üblicherweise nimmt man eine Probe, schaut sich an, wie viel Vielfalt vorhanden ist, und interpretiert die Ergebnisse dann im Sinne der etablierten Muster der Koevolution, die auf einem Spektrum zwischen zwei Extremen angesiedelt sind: der sogenannten ‚Arms-Race-Dynamik‘ und der sogenannten ‚Fluctuating-Selection-Dynamik‘.“
Hier galt die besondere Aufmerksamkeit der Wissenschaftler einer ganzen Reihe von Zeitpunkten: „Nach dem Einsetzen der Resilienz-Evolution beim Wirt sollte eigentlich nicht viel passieren, bis der Virus sich seinerseits wieder anpasst. Was wir beobachtet haben, ist aber etwas anderes: Es gab sehr viel Aktivität in der Wirt-Population und diese umfasste auch den Aufbau einer viel höheren Diversität, als erwartet.“ Im Zuge der Studie konnten die Forscherinnen und Forscher diese Veränderungen bei der genetischen Diversität mit Veränderungen bei der Populationsgröße sowie bei der Resistenz- und Infektiositäts-Evolution von Wirt und Virus in Verbindung bringen. Damit gelang der Nachweis, dass die steigende Vielfalt das Resultat eines öko-evolutionären Feedbacks ist, bei dem sich schnell stattfindende Evolution und ökologische Veränderungen direkt gegenseitig beeinflussen.
Wie die Studie allerdings auch deutlich macht, gilt dasselbe nicht für den Virus. Hier beobachteten die Wissenschaftler die erwarteten Muster geringer Diversität nach einer Runde Infektiositäts-Evolution. Sie glauben, dass der Grund dafür bei den Organismen selbst liegt, wie Lutz Becks ausführt: „Das Genom des Wirtes ist mit 46 Megabasen-Paaren (Mbp) relativ groß. Es ist vermutlich viel flexibler als das kleinere Genom des Virus, das nur auf eine Größe von 330 Kilobasen-Paare (kbp) geschätzt wird. Die Größe ist insofern wichtig, als dass jede Mutation im Virus eine negative Auswirkung haben kann, was bedeutet, dass sie sich nicht durchsetzt.“ Dies legt nahe, dass Unterschiede in der Genom-Architektur sehr unterschiedliche Dynamiken bei der molekularen Evolution dieser zwei sich koevolutionär entwickelnden Spezies zur Folge haben.
Die Wissenschaftler erwarten, dass ein weiteres Verständnis der unterschiedlichen Art und Weise, auf die ökologische und evolutionäre Veränderungen sich gegenseitig beeinflussen, von enormer Bedeutung für die Entschlüsselung der genomischen Signatur der Evolution bei Spezies-Interaktionen sein wird, ebenso wie für das Verständnis des Modus, der Geschwindigkeit und der Vorhersehbarkeit von Evolution in natürlichen Gemeinschaften.
Diese Newsmeldung wurde mit Material der Universität Konstanz via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.