Verschollener Meeres-Hundertfüßer an der Nordseeküste entdeckt



Bio-News vom 23.09.2021

Dem Bodentier-Experten Hans Reip gelangen jetzt an mehreren Orten in Schleswig-Holstein Nachweise des Meeres-Hundertfüßers Strigamia maritima, der in Deutschland lange als verschollen galt. Bei seiner Suche erhielt er unerwartet Hilfe von „Nachwuchswissenschaftlern“ – der erste Fund gelang einem kleinen Jungen!

Aufnahme als extrem seltene Art in die neue Rote Liste

Schon länger vermuteten Experten, dass Strigamia maritima auch an der Nordseeküste Deutschlands vorkommt, so wie in Dänemark und Schottland, wo ähnliche Lebensbedingungen herrschen. Ein historischer Beleg von der Insel Helgoland aus den 1960er Jahren war bekannt, im Jahr 2019 fanden dann Forscher des Zoologischen Forschungsmuseums Alexander Koenig (ZFMK) auf der Insel Sylt einige Exemplare.


Der Meeres-Hundertfüßer Strigamia maritima galt lange Zeit als verschollen. Er ist 20-40 mm lang und lebt an der Küste in Strandnähe im Gezeitenbereich.

Publikation:


Jan Philip Oeyen et al.
First recent record of the centipede Strigamia maritima (Leach, 1817) from Germany (Myriapoda, Chilopoda, Geophilomorpha)

Bulletin of the British Myriapod & Isopod Group, Volume 33 (2021)

Publikation ZFMK als PDF

Das Rote-Liste-Zentrum hatte deshalb einen Experten mit einer systematischen Suche nach Strigamia maritima beauftragt, als Vorbereitung für die nächste Rote Liste: Im Sommer 2021 untersuchte Dr. Hans Reip vom Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz 35 potenziell geeignete Standorte auf Sylt, Föhr, Amrum, Nordstrand, Pellworm sowie am nordfriesischen Festland. An drei Standorten wurde der Bodentier-Experte fündig: zweimal in Dagebüll an der Nordseeküste Schleswig-Holsteins und einmal auf der Insel Sylt.

Der Meeres-Hundertfüßer wird jetzt als etablierte, wenn auch extrem seltene Art in das Gesamtartenverzeichnis der neuen Roten Liste aufgenommen. Die derzeitige Rote Liste der Hundertfüßer ist fünf Jahre alt und soll aktualisiert werden.

Unerwartete Hilfe von zwei „Nachwuchswissenschaftlern“

Auf die ungewöhnliche Tätigkeit des Zoologen wurden zwei kleinen Jungen aufmerksam, die mit ihren Eltern in Sylt unterwegs waren. Dr. Hans Reip berichtet: „Auf die Frage ‚Was machst Du denn da?‘ beschrieb ich ihnen die gesuchte Tierart an Hand eines Bildes per Smartphone und erklärte ihnen den Sinn und Zweck der Unternehmung. Beide stürzten sich sofort enthusiastisch in die Suche nach diesem spannenden, noch nie gesehenen Tier. Einer der Jungen erwies sich bei der Suche als Naturtalent und äußerst wertvoller ehrenamtlicher Mitarbeiter. Er fand nach kurzer Zeit nicht nur das erste Exemplar von Strigamia maritima, sondern in der folgenden halben Stunde mehrere ‚Nester‘ unter den Steinen auf dem feuchten Schlick“.

Für den Wissenschaftler ist dies ein schöner Beleg, dass die Fähigkeit, Arten aufzuspüren keineswegs von einer akademischen Ausbildung und jahrelanger Erfahrung abhängen muss: „Auch Anfänger und Laien können nach kurzer Anleitung äußerst wertvolle Informationen über die biologische Vielfalt sammeln“, so Reip. Nebenbei ergab sich der – vielleicht wichtigste – Aspekt der Zusammenarbeit zwischen dem Wissenschaftler und den beiden Jungen, nämlich die große Begeisterung, mit der die Kinder an der Arbeit des Forschers teilnahmen. Jenseits von digitalen Medien erlebten sie das „Abenteuer Artenvielfalt“ an einem für sie unerwarteten Ort und mit einer für die meisten Menschen ziemlich unscheinbaren Tierart. Auch die Eltern betrachteten das Geschehen mit Erstaunen und Interesse, und sicherlich wird es ein unvergessliches Erlebnis in dieser Familie bleiben: „Damals auf Sylt, als wir mit dem Forscher die Meeres-Hundertfüßer entdeckt haben…“.

Versteckt unter Steinen

Die aktuelle Nachsuche erweiterte das Wissen zu den Habitatansprüchen der Art: Strigamia maritima meidet Sandstrände und war nur unter Steinen zu finden, die lose auf dem Schlickboden liegen. Dass die Art nur an drei der beprobten 35 Standorte vorkam, weist darauf hin, dass sie hohe Ansprüche an ihren Lebensraum stellt und zu den besonders seltenen Bewohnern der Nordseeküste zählt.

500 Exemplare untersucht, 22 Myriapodenarten nachgewiesen

Ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt der Nachsuche war das Auffinden von 22 weiteren Myriapoden-Arten: Dr. Hans Reip sammelte und bestimmte dafür rund 500 Exemplare. Neben Hundertfüßern hielt der Bodentier-Experte auch nach seltenen Doppelfüßern Ausschau: insbesondere nach Xestoiulus laeticollis, Julus scanicus und Leptoiulus cibdellus. Ziel war es, deren aktuelle westliche Verbreitungsgrenze zu finden. Keine der drei Arten konnte jedoch bei den Untersuchungen auf den nordfriesischen Inseln und im nordfriesischen Binnenland gefunden werden.

Für die Aktualisierung der Roten Liste ist dies ein wichtiger Beitrag, denn Schleswig-Holstein gehört bezüglich der Hundertfüßer zu den am wenigsten untersuchten Bundesländern Deutschlands. Die Funde wurden bereits in die Datenbank für Bodenzierfunde, Edaphobase, eingegeben. Die ausführlichen Ergebnisse der Nachsuche werden demnächst in einer Fachzeitschrift publiziert.

Gezielte Nachsuchen – eine vielversprechende Strategie

Im Zuge der vorbereitenden Arbeiten der Roten Listen Deutschlands setzt das Rote-Liste-Zentrum neben der Erfassung von verfügbaren Daten und Monitoring-Ergebnissen auf gezielte Nachsuchen. Diese zielgerichteten Kartierungen beziehen sich immer auf Einzelarten, die entsprechend der aktuell gültigen Roten Liste als ausgestorben, verschollen, vom Aussterben bedroht, extrem selten oder stark gefährdet gelten. Dabei untersuchen Experten und Expertinnen der jeweiligen Artengruppen an bekannten Standorten historischer Verbreitung oder in anderen potenziell für die Art geeigneten Lebensräumen, ob die Zielart dort noch vorkommt oder nicht. Diese Strategie hat sich als sehr effektiv erwiesen und dazu geführt, dass der Gefährdungsgrad dieser Arten genauer eingeschätzt werden kann und die Aussagekraft der jeweiligen Roten Liste weiter verbessert wird.

Auch wenn Funde wie die des Meeres-Hundertfüßers sehr gute und freudige Nachrichten sind: Oftmals ist das Ergebnis der Nachsuchen negativ. Auch das ist ein wichtiges Resultat, zeigt es doch, dass ein wirksamer Habitatschutz unverzichtbar ist, um das Aussterben von weiteren Tier-, Pflanzen- und Pilzarten in Deutschland zu verhindern.



Diese Newsmeldung wurde mit Material des Rote-Liste-Zentrums via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.


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