Wie Umwelt und Mikrobiom gemeinsam die Körpergestalt prägen
Bio-News vom 27.08.2020
Forschende aus Kiel und Düsseldorf untersuchen am Beispiel des Süßwasserpolypen Hydra, wie Umweltfaktoren und Mikroorganismen die Individualentwicklung beeinflussen
Alle vielzelligen Lebewesen sind von einer unvorstellbar großen Anzahl von Mikroorganismen besiedelt und haben sich in der Entstehungsgeschichte des vielzelligen Lebens von Beginn an gemeinsam mit ihnen entwickelt. Das natürliche Mikrobiom, also die Gesamtheit dieser Bakterien, Viren und Pilze, die in und auf einem Körper leben, ist von fundamentaler Bedeutung für den Gesamtorganismus: Es unterstützt beispielsweise bei der Nährstoffaufnahme oder wehrt Krankheitserreger ab. Die Individualentwicklung eines Lebewesens wurde dagegen lange als ein von äußeren Faktoren unabhängiger, rein genetisch bestimmter Prozess betrachtet. Seit einiger Zeit ist jedoch klar, dass auch Entwicklungsprozesse nicht autonom stattfinden. Die meisten Lebewesen haben Strategien entwickelt, um Veränderungen in ihrer Umwelt zu erkennen und ihr individuelles Wachstum und damit auch die daraus resultierende Körpergestalt an die herrschenden Gegebenheiten anzupassen. Doch wie diese sogenannte phänotypische Plastizität gesteuert wird und wie dabei Umweltfaktoren einschließlich mikrobieller Einflüsse erkannt und in die genetischen Entwicklungsprogramme integriert werden, ist erst seit kurzem Gegenstand der Forschung.
Publikation:
Taubenheim, J, Willoweit-Ohl, D, Knop, M, Franzenburg, S, Bosch, TCG and Fraune S
Bacteria- and temperature-regulated peptides modulate β-catenin signaling in Hydra
PNAS First published August 19, 2020
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU) haben nun im Rahmen des Sonderforschungsbereichs (SFB) 1182 „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“ die Prinzipien der phänotypischen Plastizität des Süßwasserpolypen Hydra untersucht. Dazu beobachteten sie, wie sich die Temperatur und die Anwesenheit bestimmter sie besiedelnder Bakterien auf die Individualentwicklung der Nesseltiere auswirken. Die Forschenden konnten zwei Hydra-spezifische Gene identifizieren und ihre Beteiligung an einem für die Entwicklung zentralen Signalweg nachweisen, die gemeinsam die Reaktion des Polypen auf Einflüsse aus seiner Umwelt steuern. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie kürzlich in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS).
Hydren reagieren direkt auf Umwelteinflüsse
Das Forschungsteam unter der Leitung von Professor Sebastian Fraune von der HHU nutzte für seine Untersuchungen den stammesgeschichtlich alten und einfach organisierten Süßwasserpolypen Hydra. Das Nesseltier bietet sich für entwicklungsbiologische Studien besonders an, da es auch als ausgewachsenes Tier weiterhin embryonale Eigenschaften wie zum Beispiel eine unbegrenzte Regenerationsfähigkeit aufweist – sich also beispielsweise Körperteile wie die Tentakeln jederzeit neu bilden können. „Hydren altern nicht, ihre genetischen Programme zur Steuerung der Entwicklung laufen permanent ab“, erklärt Fraune, Dadurch kann auch das erwachsene Tier jederzeit auf geänderte äußere Faktoren reagieren und seine Körpergestalt entsprechend daran anpassen“, so Fraune weiter.
Unter diesen Bedingungen untersuchten die Forschenden des SFB 1182, wie sich die genetische Aktivität des Tieres in Abhängigkeit von den Umweltbedingungen ändert. Dabei konnten sie zwei Gene identifizieren, die sie aufgrund ihrer Reaktion auf die Umweltbedingungen ‚Eco1’ und ‚Eco2’ nannten. Beide Gene sind taxonomisch beschränkt, was bedeutet, dass sie nur bei Hydra vorkommen. Das Forschungsteam setze die Tiere Temperaturen von jeweils 12 und 18 Grad Celsius aus und stellte fest, dass bei den kälteren Bedingungen beide Gene stark aktiviert wurden. Demgegenüber führte eine künstliche Entfernung der natürlichen bakteriellen Besiedlung der Tiere dazu, dass beide Gene deutlich weniger Aktivität zeigten.
Nachdem die Forschenden die an der Umweltwahrnehmung beteiligten Gene identifiziert hatten, untersuchten sie die Auswirkungen der beiden Variablen auf die Körpergestalt der Tiere: Die keimfrei gemachten Tiere neigten dazu, vermehrt Tentakeln zu bilden. Eine niedrige Umgebungstemperatur sorgte hingegen dafür, dass weniger Tentakeln entstanden. Gesteuert werden diese phänotypischen Anpassungen unter anderem durch einen bestimmten entwicklungsbiologischen Prozess, den sogenannten Wnt-Signalweg. „Diese Signale entstanden im Tierreich schon früh in der Evolution und sind auch beim Menschen an Entwicklungsprozessen wie beispielsweise der Stammzellregulation beteiligt“, erklärt Fraune. „Wir konnten durch das experimentelle Ausschalten der Umweltgene Eco1 und Eco2 nachweisen, dass sie bei Hydra die Wnt-Signale unterdrücken können“, sagt Erstautor Dr. Jan Taubenheim, wissenschaftlicher Mitarbeiter in Fraunes Arbeitsgruppe. Äußere Faktoren wie die Temperatur oder die Abwesenheit des natürlichen Mikrobioms haben also einen direkten Einfluss auf die genetische Regulation des individuellen Entwicklungsprogramms und damit das Zustandekommen der Körpergestalt der Nesseltiere.
Arttypische Gene setzen Umwelteinflüsse um
Die Effekte der phänotypischen Plastizität lassen sich also auf Hydra-spezifische Gene zurückführen, die bei diesem Organismus die Anpassung an äußere Einflüsse regulieren. Damit liefert die Studie ein Beispiel für die Bedeutung solcher, wegen des Fehlens entsprechender Gene in anderen Arten auch als ‚orphan genes’ (Deutsch: ‚Waisen-Gene’) bezeichneten, Erbinformationen. Diese sich schnell entwickelnden Gene erlauben es verschiedenen Organismen zum Beispiel, sich an neue Energiequellen oder Lebensräume anzupassen. „Man wusste bereits, dass diese Gene zum Beispiel in das Entwicklungsprogramm eines Lebewesens eingreifen oder mit der Regulierung seines Immunsystems verbunden sind, um eine Umweltreaktion in der Entwicklung umzusetzen “, erklärt Co-Autor Professor Thomas Bosch von der CAU, Leiter des Sonderforschungsbereichs 1182. „Unsere Arbeit zeigt nun exemplarische Mechanismen auf, die dieser Erkennung der äußeren Faktoren zugrunde liegen. So konnten wir demonstrieren, welche internen Prozesse letztlich zur Anpassung des Entwicklungsprogramms eines Lebewesens als Reaktion auf seine Umgebung führen“, so Bosch weiter.
Diese Newsmeldung wurde mit Material der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.