Ergotismus


Klassifikation nach ICD-10
T62.2 Toxische Wirkung: Sonstige verzehrte Pflanze(n) oder Teil(e) davon
ICD-10 online (WHO-Version 2019)
Der Isenheimer Altar wurde von Matthias Grünewald für das Antoniterkloster in Isenheim geschaffen und zählt zu den bedeutendsten Kunstwerken des 16. Jahrhunderts. Wer am Antoniusfeuer erkrankte, wurde vor Beginn der medizinischen Behandlung vor den Altar geführt in der Hoffnung, der hl. Antonius könne eine Wunderheilung vollbringen oder dem Kranken zumindest geistlichen Trost spenden.

Als Ergotismus (syn. Ignis sacer – „heiliges Feuer“, Antoniusfeuer, auch Kriebelkrankheit[1]) bezeichnet man eine Vergiftung durch Mutterkornalkaloide wie zum Beispiel Ergotamin oder Ergometrin.

Ursachen

Im Mittelalter trat Ergotismus als Folge des Verzehrs von Nahrungsmitteln auf, die mit Mutterkorn verunreinigt waren. Da die Gefahr, die von Mutterkorn ausgeht, heute bekannt ist, werden verschiedene Maßnahmen ergriffen, um einer Verunreinigung von Getreideprodukten entgegenzuwirken. Der Ergotismus entsteht in der heutigen Zeit daher meist durch die Einnahme von Medikamenten, die Mutterkornalkaloide und deren Derivate enthalten. Diese Medikamente finden noch in der Therapie und Prophylaxe der Migräne (z. B. Ergotamin und Dihydroergotamin) und in der Behandlung der Parkinson-Krankheit (z. B. Bromocriptin, Pergolid, Cabergolin oder Dihydroergocryptin) Anwendung. Eine unkontrollierte Dosissteigerung kann dabei zu Ergotismus führen.

Symptomatik

Durch eine Überdosierung von Ergotamin kommt es zur massiven Gefäßverengung der Blutgefäße und in der Folge zu einer Durchblutungsstörung von Herzmuskel, Nieren und Gliedmaßen. Die Gliedmaßen sind kalt und blass, die Pulse sind meist kaum nachweisbar. Zudem bestehen Hautkribbeln (Parästhesie), Empfindungsstörungen (Hypästhesie) und eventuell Lähmungserscheinungen (Parese). Eine häufige Folge ist das sekundäre (induzierte) Raynaud-Syndrom oder die Steigerung in Form eines schmerzhaften Absterbens von Fingern und Zehen (Gangrän). Zusätzlich bestehen in der Regel Allgemeinsymptome wie Erbrechen, Verwirrtheit, Wahnvorstellungen, Kopfschmerzen, Ohrensausen und Durchfall. Akute Vergiftungen können durch Atem- oder Herzstillstand zum Tod führen.[2]

Diagnostik

Wichtigstes diagnostisches Kriterium ist das Erkennen der Ergotamineinnahme. Die Anamnese und dabei insbesondere die Medikamentenanamnese ist daher meistens entscheidend.

Apparative Untersuchungen können bei Bedarf ergänzend hinzugezogen werden, beispielsweise die Doppler-Sonographie der Extremitätengefäße.

Therapie

Auslösende Medikamente sind als Erstmaßnahme sofort abzusetzen. Ist dies alleine nicht ausreichend, können die Blutgefäße durch die Gabe von Nitraten, Calciumantagonisten und/oder Prostaglandininfusionen erweitert werden.

Geschichte

Detail des Isenheimer Altars – Ein am Antoniusfeuer Leidender

In der Antike wurde vorwiegend Weizen angebaut, so dass keine Vergiftungen durch Ergotalkaloide bekannt sind, da die Erkrankung durch den Konsum von mit Mutterkorn-Pilz (Claviceps purpurea) befallenem Roggen verursacht wurde. Der erste belegte, epidemieartige Fall von Ergotismus trat im Jahr 857 bei Xanten auf.[3] 922 sollen europaweit – vorwiegend in Frankreich und Spanien – etwa 40.000 Menschen einer Mutterkornepidemie zum Opfer gefallen sein.[4] Man bezeichnete die Erkrankung als Antoniusfeuer oder auch ignis sacer – „heiliges Feuer“. Vor allem der Antoniter-Orden hatte es sich zur Aufgabe gemacht, am Antoniusfeuer Erkrankte zu behandeln und zu pflegen. Die Antoniter unterhielten im 15. Jahrhundert in ganz Europa etwa 370 Spitale, in denen rund 4000 Erkrankte versorgt wurden.

Trotz deutlicher Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen der Verwendung von Mutterkorn-haltigem Mehl und dem Auftreten von Ergotismus wurden in Europa erst nach neuerlichen Epidemien 1716–1717 in Dresden sowie in den Jahren 1770 und 1777 in ganz Europa gesetzgeberische Maßnahmen ergriffen.[4]

Nachdem um 1853 durch den Mykologen L. R. Tulasne der Entwicklungszyklus des Mutterkornpilzes Claviceps purpurea aufgeklärt und beschrieben worden war[4], extrahierte Charles Tanret 1875 aus Mutterkorn eine – allerdings ziemlich verunreinigte – Substanz, die er „Ergotinin“ nannte. Ebenso wie das „Ergotoxin“, welches 1907 entdeckt wurde, ist es ein Gemisch verschiedener Ergotalkaloide. Erst Arthur Stoll isolierte 1918 mit Ergotamin das erste reine Mutterkornalkaloid.

Weblinks

Wiktionary: Ergotismus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. „Kriebelkrankheit“ bei zeno.org
  2. Ergotismus im DocCheck-Flexikon, abgerufen am 8. Januar 2013.
  3. Wissenschaft-Online-Lexika: Eintrag zu Mutterkorn im Lexikon der Arzneipflanzen und Drogen, abgerufen am 10. November 2011.
  4. 4,0 4,1 4,2 Eintrag zu Ergot-Alkaloide. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag