Mutterkornalkaloide


Als Mutterkornalkaloide (Ergotalkaloide, Secalealkaloide) werden etwa 80 natürlich vorkommende organische Verbindungen aus der Gruppe der Indolalkaloide bezeichnet. Sie finden sich hauptsächlich im Mutterkorn, den Sklerotien des Mutterkornpilz Claviceps purpurea, der auf Roggen und anderen Süßgräsern als Parasit wächst. Die Ergotalkaloide kommen auch bei weiteren Schlauchpilzen der Gattungen Claviceps, Epichloë, Balansia, anderen Pilzen sowie in höheren Pflanzen der Familie der Windengewächse vor. Diese zum Großteil toxischen Alkaloide waren die Ursache für die als Ergotismus bezeichneten epidemieartigen Vergiftungen, die vom Frühmittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts[1] auftraten. Seit dem 18. Jahrhundert wurden zunächst natürlich vorkommende Mutterkornalkalide, später teilsynthetische Abkömmlinge als Arzneistoffe und aktuell als Bausteine für verschiedene synthetische Drogen eingesetzt.[2]

Geschichte

Während aus der Antike, in der vorwiegend Weizen angebaut wurde, keine Vergiftungen durch Ergotalkaloide bekannt sind, trat der erste belegte, epidemieartige Fall von Ergotismus im Jahr 857 bei Xanten auf.[3] 922 sollen europaweit – vorwiegend in Frankreich und Spanien – etwa 40.000 Menschen einer Mutterkornepidemie zum Opfer gefallen sein.[2] 1582 nannte Lonicerus in seinem „Kräuterbuch“ Mutterkorn (Secale cornutum) als Arznei; seit dem 17. Jahrhundert wurde die Droge in Deutschland in der gynäkologischen Praxis zur Blutstillung nach der Geburt eingesetzt.[3] Trotz deutlicher Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen der Verwendung von Mutterkorn-haltigem Mehl und dem Auftreten von Ergotismus wurden in Europa erst nach neuerlichen Epidemien in den Jahren 1770 und 1777 gesetzgeberische Maßnahmen ergriffen. In den USA erschien 1808 die erste Veröffentlichung über die Verwendung von Mutterkorn bei der Geburtseinleitung.[2]

Nachdem um 1853 durch den Mykologen L. R. Tulasne der Entwicklungszyklus des Mutterkornpilzes Claviceps purpurea aufgeklärt und beschrieben worden war[2], extrahierte Charles Tanret 1875 aus Mutterkorn eine – allerdings ziemlich verunreinigte – Substanz, die er „Ergotinin“ nannte. Ebenso wie das „Ergotoxin“, welches 1907 entdeckt wurde, ist es ein Gemisch verschiedener Ergotalkaloide. Erst Arthur Stoll isolierte 1918 mit Ergotamin das erste reine Mutterkornalkaloid.

Mit dieser Entdeckung konnte die Lysergsäure als den meisten Mutterkornalkaloiden zugrundeliegende Basisstruktur identifiziert werden. Die übrigen Alkaloide des Mutterkorns wurden in den folgenden 25 Jahren entdeckt:

  • Ergotamin-Gruppe: Ergotamin / Ergotaminin (1918), Ergosin / Ergosinin (1936)
  • Ergometrin-Gruppe: Ergometrin (Ergobasin, Ergonovin) / Ergometrinin (1935)
  • Ergotoxin-Gruppe: Ergokristin / Ergokristinin (1935), Ergokryptin / Ergokryptinin (1937), Ergocornin / Ergocorninin (1943), Ergostin / Ergostinin (1943)

Besondere Verdienste um die Erforschung der Mutterkornalkaloide hat sich der Schweizer Chemiker Albert Hofmann erworben, dessen Forschungen 1943 auch zur zufälligen Entdeckung des Halluzinogens LSD (Lysergsäurediethylamid) führte.

Molekülstruktur

Strukturformel von Ergolin

Charakteristisch für die chemische Struktur der Mutterkornalkaloide ist das tetrazyklische Ergolin. Die in der Natur gefundenen Ergoline sind am Stickstoff in Position 6 des Ergolinsystems methyliert und weisen insbesondere in Position 8 weitere Substituenten auf. Das Ergolingrundgerüst der Mehrheit der Mutterkornalkaloide weist darüber hinaus zwischen C9 und C10 eine Doppelbindung auf. Anhand ihres Substitutionsmusters können Mutterkornalkaloide in vier Gruppen unterteilt werden:

  • Clavine
  • Lysergsäuren
  • einfache Lysergsäureamide und
  • Peptidalkaloide.

Clavine

Clavine, wie z. B. Lysergol, leiten sich im Gegensatz zu allen übrigen natürlich vorkommenden Ergolinen nicht von der Lysergsäure ab, sondern von dessen Vorstufen mit einer niedrigeren Oxidationsstufe (z. B. Alkohole).

Das Mutterkorn enthält die Clavine Agroclavin, Elymoclavin, Molliclavin, Lysergin, Lysergol, Lysergen, Setoclavin, Isosetoclavin, Penniclavin, Isopenniclavin, Festuclavin, Pyroclavin, Costaclavin und Fumigaclavin A u. B. Ebenso können sogenannte Secoergoline ohne vollständige Ergolinstruktur, wie z. B. Chanoclavin, nachgewiesen werden. Sie sind biogenetische Vorstufen der Clavine.

Lysergsäuren

Lysergsäuren, wie z. B. Lysergsäure und Paspalsäure, sind Endprodukte oder einfache Zwischenprodukte in der Biosynthese höherer Mutterkornalkaloide.

Einfache Lysergsäureamide

Allgemeine Strukturformel der Lysergsäureamide

Einfache Lysergsäureamide, wie z. B. Ergometrin, werden durch den Mutterkornpilz durch Kondensation von Lysergsäure und einer Aminosäure (z. B. Alanin) gebildet. Andere einfache Lysergsäureamide, wie z. B. Ergin (Lysergsäureamid), sind Abbauprodukte höherer Mutterkornalkaloide.

Name Substituent R1 Substituent R2 Substituent R3
Ergin H H H
Ergometrin H CH(CH3)CH2OH H
Methylergometrin H CH(CH2CH3)CH2OH H
Methysergid* CH3 CH(CH2CH3)CH2OH H
LSD* H CH2CH3 CH2CH3

* Methysergid und LSD sind keine Mutterkornalkaloide im eigentlichen Sinne, sondern teilsynthetisch hergestellte Derivate dieser.

Peptidalkaloide

Peptidalkaloide sind Kondensationsprodukte aus der Lysergsäure und einem in der Regel trizyklischen Tripeptid. Man unterscheidet zwischen:

  • Ergopeptinen und
  • Ergopeptamen

Die Ergopeptine teilt man nach der unmittelbar an der D-Lysergsäure gebundenen Aminosäure ein in Vertreter der:

  • Ergotamin-Gruppe (erste Aminosäure ist hier L-Alanin, z. B.: Ergotamin, Ergovalin)
  • Ergotoxin-Gruppe (erste Aminosäure ist hier L-Valin, z. B.: Ergocristin, Ergocornin)
  • Ergoxin-Gruppe (erste Aminosäure ist hier α-Aminobuttersäure, z. B.: α-Ergokryptin, β-Ergokryptin)
Allgemeine Strukturformel der Ergopeptine

Ergopeptine sind die formenreichste Gruppe der Mutterkornalkaloide. Der bekannteste Vertreter ist Ergotamin, das Hauptalkaloid des Mutterkorns. Des Weiteren konnten die Ergopeptine Ergocornin, Ergocristin, α-Ergokryptin, β-Ergokryptin, Ergovalin, α-Ergosin und β-Ergosin als Inhaltsstoffe des Mutterkorns identifiziert werden. Ergovalin ist ein Hauptalkaloid der endophytisch in Weidegräsern wachsenden Neotyphodium- und Epichloë-Arten und von veterinär-toxikologischer Bedeutung (Fescue toxicosis). 9,10-Dihydroergopeptine sind in der Natur sehr selten und konnten bisher nur in Sphacelia sorghi nachgewiesen werden. Partialsynthetisch gewonnene Dihydroergopeptine, wie z. B. Dihydroergotamin und Dihydroergotoxin, besitzen eine therapeutische Bedeutung in der Behandlung von Migräne und Herz-Kreislauferkrankungen.

Ergopeptin Substituent R2 (Pos. 2′) Substituent R3 (Pos. 5′)
Ergotamin CH3 CH2C6H5
Ergovalin CH3 CH(CH3)2
α-Ergosin CH3 CH2CH(CH3)2
β-Ergosin CH3 CH(CH3)(C2H5)
Ergocristin CH(CH3)2 CH2C6H5
Ergocornin CH(CH3)2 CH(CH3)2
α-Ergokryptin CH(CH3)2 CH2CH(CH3)2
β-Ergokryptin CH(CH3)2 CH(CH3)(C2H5)

Bei Ergopeptamen ist der Oxazolid-Ring der ersten Aminosäure geöffnet (Zwischen 1' und 2').

Partialsynthetische Modifikationen

Basierend auf den natürlich vorkommenden Mutterkornalkaloiden wurden zahlreiche modifizierte Ergoline entwickelt. Das früher verwendete Migräneprophylaktikum Methysergid leitet sich vom einfachen Lysergsäureamid Ergometrin ab. Das ebenfalls in der Migränetherapie verwendete Dihydroergotamin wird durch Hydrierung aus Ergotamin gewonnen. Isoergoline (Suffix: -inin, z. B. Ergotaminin) unterscheiden sich stereochemisch von Ergolinen durch einen α-ständigen Substituenten in Position 8 des Ergolingrundgerüstes. Isoergoline entstehen aus Ergolinen durch Isomerisierungsreaktionen in wässriger Lösung. Sie sind meist Abbauprodukte oder Aufarbeitungsartefakte bei der Isolierung von Mutterkornalkaloiden. Sie besitzen in der Regel eine geringere pharmakologische Aktivität. Dem gegenüber stellen einige partialsynthetische Isoergoline, wie z. B. Lisurid und Tergurid, hochpotente Arzneistoffe in der Therapie der Parkinson-Krankheit dar.

Vorkommen

Roggenähre mit Mutterkorn

Die wichtigsten Produzenten von Mutterkornalkaloiden sind die Mutterkornpilze aus der Familie der Clavicipitaceae. Dazu zählen neben Claviceps purpurea, Claviceps paspali, Claviceps fusiformis insbesondere auch Vertreter der Gattungen Balansia und Epichloë/Neotyphodium. Diese Pilze leben als Epibionten und Endophyten auf mehr als 600 Pflanzenarten der Familien Süßgräser, Binsengewächse und Sauergrasgewächse. Viele Vertreter der Gattung Balansia produzieren selektiv Clavinalkaloide. Das durch Claviceps und Epichloë/Neotyphodium produzierte Spektrum an Mutterkornalkaloiden ist umfangreicher. In Gräsern, die von Neotyphodium coenophialum befallen wurden, kann neben einfachen Mutterkornalkaloiden auch das Ergopeptin Ergovalin nachgewiesen werden. Claviceps purpurea wächst bevorzugt auf Roggen, er kann jedoch auch auf anderen Getreide- und Wildgräserarten parasitieren. Der Gehalt an Mutterkornalkaloiden in seinem Sklerotium, dem Mutterkorn, liegt zwischen etwa 0,2–1 % der Trockenmasse und umfasst alle vier Gruppen dieser Stoffklasse. Weitere Produzenten von Mutterkornalkaloiden sind Schlauchpilze der Gattungen Penicillium und Aspergillus.[4][5]

Himmelblaue Prunkwinde

Mutterkornalkaloide, von Clavinen bis hin zu einfachen Ergopeptinen, konnten auch in verschiedenen Vertretern der Windengewächse, wie beispielsweise der Himmelblauen Prunkwinde, nachgewiesen werden. Hier gelten sie als eine Ursache für deren psychotrope Eigenschaften und deren Toxizität. Die Ursachen für das völlig unerwartete Auftreten dieser Stoffklasse in Windengewächsen werden in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. Forschungsergebnisse der letzten Jahre deuten darauf hin, dass auch für das Vorkommen von Mutterkornalkaloiden in Windengewächsen ein Befall mit Mutterkornpilzen verantwortlich ist.[6]

Medizinische Verwendung

Wegen ihrer pharmakodynamischen Wirkungen sind einige Mutterkornalkaloide in der Medizin u. a. zur Behandlung von Migräne, peripheren Durchblutungsstörungen, der Parkinson-Krankheit und des Restless-Legs-Syndroms relevant bzw. werden als Wehenmittel und Antihypertensiva eingesetzt. Auch in der Tiermedizin finden sie Anwendung.

Pharmakologische Eigenschaften

Die Wirkungen der Mutterkornalkaloide sind vielfältig. Sie können die Dopamin-Rezeptoren stimulieren und die Ausschüttung von Prolaktin und Somatotropin hemmen. Sie sind partielle Agonisten an den Serotonin-Rezeptoren. Auf die Uterusmuskulatur haben sie eine kontrahierende Wirkung (v. a. Ergometrin); auf diese seit langem bekannte Wirkung geht auch der Name „Mutterkorn“ zurück. Besonders natürlichem Ergotamin ist eine vasokonstriktorische Wirkung eigen. Die hydrierten Ergotamine blockieren die α-Adrenorezeptoren, was unter bestimmten Umständen kontrahierte Gefäße erweitern kann.

Indikation und Präparate

Mutterkornalkaloide

  • Ergometrin: Lakatationshemmung, Blutstillung (besonders im Uterus)
  • Ergotamin (Ergo-Kranit®): Migräne, arterielle Hypertonie, Durchblutungsstörungen, Arrhythmie, Emetikum (i.v.)

Derivate von Mutterkornalkaloiden

Rechtliches

Das deutsche Grundstoffüberwachungsgesetz schränkt die Abgabe von Ergotamin ein: es könnte nämlich als Basis zur Herstellung von LSD, einem in Deutschland verbotenen Betäubungsmittel, verwendet werden. Zusammen mit Ergometrin fällt es auch unter das „Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. Dezember 1988 gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen (Suchtstoffübereinkommen)“.

Einzelnachweise

  1. Wissenschaft-Online-Lexika: Eintrag zu Mutterkorn-Alkaloide im Lexikon der Ernährung, abgerufen am 9. November 2011.
  2. 2,0 2,1 2,2 2,3 Eintrag zu Ergot-Alkaloide. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag
  3. 3,0 3,1 Wissenschaft-Online-Lexika: Eintrag zu Mutterkorn im Lexikon der Arzneipflanzen und Drogen, abgerufen am 10. November 2011.
  4. M. Isaka, P. Kittakoop, Y. Thebtaranonth: Clavicipitalean fungi: evolutionary biology, chemistry, biocontrol, and cultural impacts. Hrsg.: James Francis White. CRC Press, 2003, ISBN 0-8247-4255-9, Secondary Metabolites of Clavicipitalean Fungi, S. 25–56..
  5. Klaus B. Tenberge: Ergot: the genus Claviceps. Hrsg.: Vladimír Křen,Ladislav Cvak. CRC Press, 1999, ISBN 978-90-5702-375-0, Biology and Life Strategy of the Ergot Fungi, S. 411–440..
  6. Eckart Eich: Solanaceae and convolvulaceae - secondary metabolites: biosynthesis, chemotaxonomy, biological and economic significance. Springer, 2008, ISBN 3-540-74540-8, Tryptophan-derived Alkaloids, S. 213–260..

Literatur

  • Albert Hofmann: Die Mutterkornalkaloide. Vom Mutterkorn zum LSD. Die Chemie der Mutterkornalkaloide. Nachtschatten, o.O. 2000 (Nachdr. v. 1964), ISBN 3-907080-64-5
  • Otto Kraupp, Fred Lembeck (Hrsg.): Mutterkornalkaloide heute. Therapeutische Konsequenzen einer chemisch-pharmakologischen Differenzierung im Lichte neuer Forschungsergebnisse. Thieme, Stuttgart 1982, ISBN 3-13-621001-8
  • Claudia Arntz: Molekularbiologische Untersuchungen zur Alkaloidsynthese bei Claviceps. Cramer, Berlin u.a. 1999
  • Julia Groß: Untersuchungen zum Vorkommen von Ergolinen in höheren Pflanzen der Familie der Convolvulaceae und in endophytischen Pilzen. Diss. Bonn 2004.
  • Andrea Sinz: Die Bedeutung der Mutterkorn-Alkaloide als Arzneistoffe. Pharmazie in unserer Zeit 37(4), S. 306–309 (2008), ISSN 0048-3664
  • Eberhart Teuscher, Matthias F. Melzig, Ulrike Lindequist: "Biogene Arzneimittel", ISBN 3-8047-2073-0

Weblinks

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