Imagination


Imagination (lat.: imago „Bild“) ist synonym mit Einbildung, Einbildungskraft, Phantasie, bildhaft anschaulichem Vorstellen.[1] Es wird darunter die psychologische Fähigkeit verstanden, sich nicht gegenwärtige Situationen, Vorgänge, Gegenstände und Personen mittels visueller Vorstellung als Bilder im Geiste zu entwickeln oder sich an solche zu erinnern und diese mit dem inneren geistigen Auge anschaulich wahrzunehmen.[2] Über diese Fähigkeit verfügen manche Menschen problemlos, andere hingegen nur mit großer Anstrengung oder gar mit Hilfe unbewusster Abläufe unter Hypnose. In der Medizin des 18. Jahrhunderts wurde die Imagination systematisch zu Heilzwecken verwendet.[3]

Im psychotherapeutischen Sinne ist Imagination das Vermögen, bei wachem Bewusstsein mit (zumeist) geschlossenen Augen innere bzw. mentale Bilder wahrzunehmen. Die inneren Bilder ähneln Traumbildern, ihr Entstehen kann jedoch willentlich gefördert und modifiziert werden. Imagination(sübungen) werden oft mit Entspannungsmethoden kombiniert.

Etymologie

Dem lat. imago liegt die Bedeutung von Bild, Bildnis, Abbild, Trug- und Traumbild, Vorstellung, Ahnenbild, Wachsmaske, Schattenbild zugrunde, vgl. auch → Imago (Psychologie). Es besteht eine Beziehung zu lat. imitari = imitieren und aemulari = wetteifern, nacheifern, insofern als ein „Bild“ nicht der Wirklichkeit entspricht, sondern sie nur „nachahmt“ oder mit ihr „wetteifert“. Imaginär wird in der deutschen Sprache als unwirklich, nur in der Vorstellung vorhanden, definiert. In der Mathematik ist eine imaginäre Zahl eine nicht reelle Zahl, die durch keinen positiven oder negativen Wert darstellbar ist.[4] Der Mitte des 17. Jahrhunderts aufgekommene synonyme Begriff Einbildungskraft ist ebenso wie Imagination lateinischen Ursprungs, da er aus dem lat. facultas imaginandi ins Deutsche übertragen wurde. Es handelt sich dabei sprachwissenschaftlich um eine sog. Lehnübersetzung.

Philosophie

Nach Immanuel Kant und seiner kritischen Erkenntnislehre besitzt die Einbildungskraft keinen psychologischen Nebensinn, sondern stellt eine notwendige transzendentallogische Grundvoraussetzung für alle objektivierenden Relationen der Anschauung und des Denkens dar. Für die Möglichkeit der Erfahrung unterscheidet Kant „drei subjektive Erkenntnisquellen ... Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption“ (KrV A 115).[5] Kant unterscheidet bei der Einbildungskraft Assoziation und Reproduktion. Die reproduktive Einbildungskraft bildet die Wirklichkeit ab, während die produktive, schöpferische Einbildungskraft mit der Phantasie in Zusammenhang gebracht wird.[6]

Nach Hegel ist die Einbildungskraft das Hervorgehen der Bilder aus der eigenen Innerlichkeit des Ich, welches nunmehr deren Macht ist.[7]

Psychologie

Methoden mit Imaginationstechniken sind z. B.: Die Oberstufe des autogenen Trainings, katathymes Bilderleben, Hypnose mit hypnagogen Bildern, Meditation, Klartraum. Die entstehenden Bilder können sowohl durch Vorstellungsinhalte, Sätze und Gedanken beeinflusst werden, führen aber auch eine unbewusste Eigendynamik und sind damit, wie auch die Atmung, sowohl bewusst als auch unbewusst gesteuert.

Die Imagination wurde und wird in vielen Kulturen im religiösen Kontext angewandt und ist von Carl Gustav Jung in die Psychotherapie eingeführt worden, der die bewusst erlebten inneren Bilder als Mittler zwischen Bewusstsein und Unbewusstem ansah.

Imaginationen werden im Rahmen vieler unterschiedlicher Psychotherapieformen eingesetzt, insbesondere bei tiefenpsychologisch orientierten Verfahren, aber auch im Kontext von Logotherapie und Existenzanalyse (Böschemeyer), bei kognitiver Verhaltenstherapie (Lazarus) u. a.

Ab ca. 1950 versuchte Hanscarl Leuner Imaginationen für die Medizin nutzbar zu machen und systematisierte auf psychoanalytischer Grundlage Vorgehen und Ausbildung. Eine fachlich gediegene Grundausbildung (Medizin, Psychologie) erscheint für eine professionelle Arbeit mit Tiefen-Imaginationen unabdingbar.

Wie Träume eröffnen Imaginationen Fenster zum Unbewussten. Im Unterschied zu Träumen geht es bei Imaginationen aber um mehr oder weniger bewusst kontrollierte bildhafte Vorstellungen, wobei alle Sinne beteiligt sein können (Sehen, Hören, Schmecken usw.). Stellen Sie sich einfach mal vor, Sie schneiden eine Zitrone auf und beißen hinein!

Je nach Stärke der Ich-Kontrolle kann man Visualisierung z. B. nach Simonton (stärker bewusst kontrolliert), geführte Imaginationen als Phantasiereisen (Kontrolle wird wesentlich an Begleiter abgegeben, oft auch bei der Hypnotherapie) und tiefe, authentische Imaginationen (Tiefenimaginationen) unterscheiden, bei denen die bewusste Kontrolle in einem hypnoiden Zustand so weit wie möglich zurückgenommen wird, was eine gewisse Angstfreiheit und zumindest in der Anfangsphase professionell geschulte Begleitung nötig macht.

Imagination im Rahmen einer Psychotherapie kann bei vielen psychischen Störungen angewendet werden.

Für Patienten mit chronischen Schmerzen haben sich besonders positive Bilder (Strandszenen, Naturbilder, Spaziergänge, Urlaubsbilder) als hilfreich herausgestellt.

Die Kombination der Entspannung mit der Imagination hat folgende Vorteile:

  1. Entspannung wird vertieft
  2. Positive Emotionen werden erlebt
  3. Verstärkte Schmerzablenkung
  4. Motivation zur Krankheitsbewältigung wird gestärkt.

Literaturwissenschaft

In der Literaturwissenschaft kann man den Begriff „wissenschaftliche Imagination“ für bestimmte Erzähltechniken verwenden, die z. B. im französischen Realismus bei Honoré de Balzac (Vater Goriot) zutage treten.

Siehe auch

Literatur

  • Henry G. Tietze: Imagination und Symboldeutung. Wie innere Bilder heilen und vorbeugen helfen. Knaur, München 1986. (Übersicht)
  • Jerome L. Singer, Kenneth S. Pope (Hrsg.): Imaginative Verfahren in der Psychotherapie. (klassischer Überblick). Junfermann, Paderborn 1986.
  • Volker Friebel: Innere Bilder. Imaginative Techniken in der Psychotherapie. (Überblick) Walter, Düsseldorf 2000.
  • Hermann Maass: Der Therapeut in uns. Heilung durch aktive Imagination. Walter, Olten/Freiburg 1981. (Aktive Imagination nach C. G. Jung)
  • Robert Johnson: Bilder der Seele. Traumarbeit und Aktive Imagination. (nach dem Ansatz von C. G. Jung). Hugendubel, München 1995.
  • Hanscarl Leuner: Lehrbuch der katathym-imaginativen Psychotherapie. Huber, Bern 1988 ff.
  • Leonore Kottje-Birnbacher, Ulrich Sachsse, Eberhard Wilke (Hrsg.): Imagination in der Psychotherapie. Huber, Bern 1997. (Katathym-Imaginative Psychotherapie nach Leuner)
  • Uwe Böschemeyer: Wertorientierte Imagination. Hamburg 2000.
  • Klaus Krüger u. a. (Hrsg.): Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit. Mainz 2000.
  • Elmar Dod: Die Vernünftigkeit der Imagination in Aufklärung und Romantik. Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1985.
  • Armin Pfau: Zur Wahrnehmung innerer Bilder aus psychologischer Sicht. In: Existenz & Logos. 11, 2001, (H. 1), S. 43–80. (Wahrnehmungsaspekt)
  • Gerald Hüther: Die Macht der inneren Bilder. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004. (Hirnforschung)
  • Bernd Hoffmann: Handbuch des autogenen Trainings. Rowohlt/ dtv, München 1977, 1981.
  • Shakti Gawain: Stell dir vor. Rowohlt, Reinbek 1988.
  • Ang Lee Seifert, Theodor Seifert, Paul Schmidt: Der Energie der Seele folgen. Gelassen und frei durch Aktive Imagination. Patmos Verlag, 2003.
  • Tanja Michalsky: Projektion und Imagination. Die niederländische Landschaft der Frühen Neuzeit im Diskurs von Geographie und Malerei. München 2011.
  • Luise Reddemann: Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren. 2001, ISBN 3-608-89708-9.

Weblinks

Wiktionary: Imagination – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Georgi Schischkoff (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. 21. Auflage. Alfred-Kröner, Stuttgart 1982, ISBN 3-520-01321-5, S. 306.
  2. Wilhelm Karl Arnold u. a. (Hrsg.): Lexikon der Psychologie. Bechtermünz, Augsburg 1996, ISBN 3-86047-508-8, Sp. 963.
  3. Einbildungskraft. In: Uwe Henrik Peters: Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie. 6. Auflage. Urban & Fischer, München 2007, ISBN 978-3-437-15061-6, S. 153, weitere Erwähnung von „Einbildungskraft“ siehe Stw. Somnambulismus, S. 514 (online)
  4. Günther Drosdowski: Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Band 7, 2. Auflage. Dudenverlag, Mannheim 1997, ISBN 3-411-20907-0, S. 301.
  5. Heinrich Ratke: Systematisches Handlexikon zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Meiner, Hamburg 1991, ISBN 3-7873-1048-7, S. 51. (Philosophische Bibliothek 37b)
  6. Imagination. In: Der Große Brockhaus. Kompaktausgabe in 26 Bänden. Band 10, 18. Auflage. Brockhaus, Wiesbaden 1983, ISBN 3-7653-0353-4, S. 152.
  7. Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. 2006.

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